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Funktionentheorie/05-cauchy.tex
Stefan Kebekus b22fceb22d Working…
2025-11-04 15:06:11 +01:00

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\chapter{Cauchy's Integralformel}
\section{Integralformel}
\begin{satz}[Integralformel von Cauchy]\label{satz:4-4-1}%
\index{Integralformel von Cauchy}Sei $U ⊂ $ offen und $f ∈ 𝒪(U)$. Weiter
sei $K ⊂ U$ eine abgeschlossene Kreisscheibe, und es sei $γ$ ein stetiger Weg,
der den Rand von $K$ gegen den Uhrzeigersinn durchläuft. Dann gilt für alle
Punkte $w$ aus dem Inneren von $K$:
\begin{equation}\label{eq:4-4-0}
f(w) = \frac{1}{2π i} \int_γ \frac{f(z)}{z - w} \, dz.
\end{equation}
\end{satz}
\begin{notation}[Kreisscheiben und Wege]
Gegeben $z_0$ und $r ∈ ℝ⁺$, dann bezeichnen wir die offene/abgeschlossene
Kreisscheibe beziehungsweise den Rand der Kreisscheibe mit
\begin{align*}
B_r(z_0) &= \{ z ∈ \mid |z - z_0| < r \}, \\
\overline{B}_r(z_0) &= \{ z ∈ \mid |z - z_0| ≤ r \}, \\
∂ B_r(z_0) &= \{ z ∈ \mid |z - z_0| = r \}.
\end{align*}
Ein Weg, der $∂ B_r(z_0)$ im Gegenuhrzeigersinn durchläuft, ist
\[
γ: [0, 2π], \quad t ↦ z_0 + \exp(it) · r.
\]
Wir schreiben statt $\int_{γ}\, dz$ auch kurz $\int_{∂ B_r(z_0)}\, dz$.
\end{notation}
\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:4-4-1}]
Der Beweis ist relativ lang und deshalb in mehrere Schritte aufgeteilt. Sei
ein Punkt $w$ aus dem Inneren von $K$ gegeben.
\paragraph{Schritt 1: Kreisscheiben um $w$}
Wir beobachten: Wenn $ε ∈ ℝ⁺$ klein genug ist, dann ist die $ε$-Kreis\-scheibe
um $w$ vollständig in $K$ enthalten, also
\[
B_ε(w) ⊂ K = \overline{B}_r(z_0).
\]
Das heißt: Wege rund um $K$ und um $B_ε(w)$ sind in der Menge
\[
\text{Definitionsbereich von } z ↦ \frac{f(z)}{z - w} = U \{w\}
\]
frei homotop, also sind die Integrale gleich.
\begin{equation}\label{eq:4-4-1}
\int_{∂ K} \frac{f(z)}{z - w} \, dz
= \int_{∂ B_{ε}(w)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz.
\end{equation}
\paragraph{Schritt 2: Hilfsfunktion}
Betrachte die Hilfsfunktion
\[
g: U → , \quad z ↦
\begin{cases}
\frac{f(z) - f(w)}{z - w} & z ≠ w, \\
f'(w) & z = w.
\end{cases}
\]
Diese Funktion ist per Definition auf ganz $U$ stetig. Insbesondere nimmt der
Betrag von $g$ auf der abgeschlossenen Kreisscheibe $K$ ein Maximum an, sagen
wir
\[
M = \max \bigl\{ |g(z)| \::\: z ∈ K \bigr\}.
\]
Damit gilt für alle $z ∈ U \{w\}$ die Gleichung
\begin{equation}\label{eq:4-4-2}
\frac{f(z)}{z - w} = g(z) + f(w) · \frac{1}{z - w}
\end{equation}
\paragraph{Schritt 3: Integration}
Insgesamt erhalten wir für alle hinreichend kleinen Zahlen $ε$ eine Gleichheit
von Integralen,
\begin{align*}
\int_{∂ K} \frac{f(z)}{z - w} \, dz & = \int_{∂ B_{ε}(w)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz && \text{\eqref{eq:4-4-1}} \\
&= \int_{∂ B_{ε}(w)} g(z) + f(w)·\frac{1}{z - w} \, dz && \text{\eqref{eq:4-4-2}} \\
&= \underbrace{\int_{∂ B_{ε}(w)} g(z) \, dz}_{=: I_{1,ε}}
+ \underbrace{f(w) · \int_{∂ B_{ε}(z)} \frac{1}{z - w} \, dz}_{=: I_{2,ε}}.
\end{align*}
Der Witz: Die linke Seite hängt nicht von $ε$ ab, also hängt auch die Summe
nicht von $ε$ ab. Wir untersuchen die beiden Integrale auf der rechten Seite
einzeln. Für hinreichend kleine $ε$ gilt:
\begin{align*}
I_{2,ε} & = f(w) · 2π i && \text{Beispiel~\ref{bsp:3-2-2}} \\
|I_{1,ε}| & ≤ 2π · ε · M && \text{Beobachtung~\ref{beob:3-2-7}.}
\end{align*}
In der Summe erhalten wir $I_{1} = 0$ und deshalb ist
\[
\int_{∂ K} \frac{f(z)}{z - w} \, dz = f(w) · 2π i.
\]
Damit ist die gesuchte Gleichung \eqref{eq:4-4-0} gezeigt.
\end{proof}
\section{Anwendungen der Integralformel}
Wir betrachten einige unmittelbare Konsequenzen der Integralformel von Cauchy.
\begin{prop}[Mittelwertsatz]\label{satz:5-2-1}%
\index{Mittelwertsatz}Sei $U ⊂ $ offen, sei $f ∈ 𝒪(U)$ und sei
$\overline{B}_r(z_0) ⊂ U$. Dann ist $f(z_0)$ (=der Funktionswert von $f$ im
Mittelpunkt der Kreisscheibe) gleich dem Mittelwert von $f$ auf dem Rand $
B_r(z_0)$ der Kreisscheibe. Genauer gilt:
\[
f(z_0) = \frac{1}{2π} \int_0^{2π} f(z_0 + r · \exp(it)) \, dt.
\]
\end{prop}
\begin{proof}
Wir betrachten den konkreten Weg $γ: [0, 2π] → U$, $t ↦ z_0 + r · \exp(it)$.
Dann sagt die Integralformel:
\begin{align*}
f(z_0) & = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_r(z_0)} \frac{f(z)}{z - z_0} \, dz && \text{Integralformel, Satz~\ref{satz:4-4-1}} \\
& = \frac{1}{2π i} \int_0^{} \frac{f(z_0 + r · \exp(it))}{r · \exp(it)} · ri \exp(it) \, dt && \text{Definition~\ref{def:3-2-1} (Wegintegral)} \\
& = \frac{1}{} \int_0^{} f(z_0 + r · \exp(it)) \, dt.
\end{align*}
Damit ist der Mittelwertsatz gezeigt.
\end{proof}
\begin{kor}[Schwaches Maximumprinzip]\label{kor:5-2-2}%
\index{Maximumprinzip!schwaches}Es sei $U ⊂ $ offen und $f ∈ 𝒪(U)$. Dann
hat die stetige Funktion $|f|$ kein echtes Maximum. Genauer: Für jeden Punkt
$z_0 ∈ U$ und jede Umgebung $V = V(z_0) ⊆ U$ gibt es einen Punkt $z ∈ V$ mit
$|f(z)| ≥ |f(z_0)|$.
\end{kor}
\begin{proof}
Beweis durch Widerspruch: Angenommen, es gibt es einen Punkt $z_0 ∈ U$, bei
dem ein echtes Maximum vorliegt. Dann gibt es $ε > 0$, sodass für alle $z ∈ ∂
B_{ε}(z_0) \{z_0\}$ die Ungleichung $|f(z)| < |f(z_0)|$ gilt. Dann ist
\begin{align*}
|f(z_0)| & = \left| \frac{1}{} \int_0^{} f(z_0 + ε · \exp(it)) \, dt \right| && \text{Mittelwertsatz~\ref{satz:5-2-1}} \\
&\frac{1}{} \int_0^{} |f(z_0 + ε · \exp(it))| \, dt && \text{Dreiecksungleichung} \\
& < \frac{1}{} \int_0^{} |f(z_0)| \, dt = |f(z_0)| && \text{Annahme.}
\end{align*}
Wir erhalten einen Widerspruch.
\end{proof}
\sideremark{Vorlesung 8}Es gilt noch mehr, aber dafür müssen wir etwas mehr
arbeiten.
\begin{satz}[Starkes Maximumprinzip]\label{satz:5-2-3}%
\index{Maximumprinzip!starkes}Es sei $U ⊂ $ offen, es sei $f ∈ 𝒪(U)$ und es
sei $z_0 ∈ U$ ein lokales Maximum der stetigen Funktion $|f|: U → ^{0}$.
Dann ist $f$ in der Nähe von $z_0$ konstant. Genauer:
\[
∃ ε > 0: B_{ε}(z_0) ⊂ U \text{ und } f|_{B_{ε}(z_0)} \equiv \text{const.}
\]
\end{satz}
\begin{erinnerung}[Existenz lokaler Logarithmus-Funktionen]\label{erinnerung:5-2-4}%
Gegeben irgendein $z_0$, dann gibt es eine Umgebung $V$ von $z_0$, sodass
eine holomorphe Logarithmus-Funktion auf $V$ existiert. Genauer: Es gibt eine
holomorphe Funktion $\log𝒪(V)$, sodass für alle $z ∈ V$ die Gleichung
$\exp(\log z) = z$ gilt. Der Beweis ist einfach: Falls $z_0$ ein Punkt der
geschlitzten Ebene $ _{0}$ ist, dann können wir nach der Diskussion in
Abschnitt~\ref{sec:2-5-2} den Hauptzweig des Logarithmus verwenden, der auf
der ganzen geschlitzten Ebene holomorph ist. Andernfalls spiegele die
geschlitzte Ebene an der imaginären Achse und …
\end{erinnerung}
\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:5-2-3}]
Weil $z_0 ∈ U$ ein lokales Maximum der stetigen Funktion $|f|: U → ^{0}$
ist, gibt es eine Zahl $ε > 0$, sodass $\overline{B}_ε(z_0) ⊂ U$ ist für alle
$z ∈ \overline{B}_ε(z_0)$ die Ungleichung $|f(z)| ≤ |f(z_0)|$ gilt.
\paragraph*{Schritt 1: $|f|$ ist konstant in der Nähe von $z_0$}
Ich behaupte, dass $|f|$ auf ganz $B_ε(z_0)$ konstant ist. Angenommen, es
gibt einen Punkt $z_1 ∈ B_ε(z_0)$ mit $|f(z_1)| < |f(z_0)|$. Setze $δ := |z_0
- z_1|$ und berechne exakt wie im Beweis des schwachen Maximumsprinzips,
Korollar~\ref{kor:5-2-2}, dass
\begin{align*}
|f(z_0)| & = \left| \frac{1}{} \int_0^{} f(z_0 + δ · \exp(it)) \, dt \right| && \text{Mittelwertsatz~\ref{satz:5-2-1}} \\
&\frac{1}{} \int_0^{} |f(z_0 + δ · \exp(it))| \, dt && \text{Dreiecksungleichung} \\
& < \frac{1}{} \int_0^{} |f(z_0)| \, dt = |f(z_0)| && \text{Annahme}
\end{align*}
ist. Wir erhalten einen Widerspruch. Also ist $|f|$ auf ganz $B_ε(z_0)$
konstant.
\paragraph*{Schritt 2: $f$ ist konstant in der Nähe von $z_0$}
Wenn $f(z_0) = 0$ ist, dann folgt aus der lokalen Konstanz von $|f|$ sofort,
dass $f$ lokal konstant ist. Wir nehmen also an, dass $f(z_0)0$ ist.
Wende Erinnerung~\ref{erinnerung:5-2-4} an: Nach Verkleinern von $U$ können
wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, das eine holomorphe Funktion
$\log f ∈ 𝒪(U)$ existiert, sodass für alle $z ∈ U$ die Gleichung $\exp(\log
f(z)) = f(z)$ gilt. Weil $|f|$ konstant in der Nähe von $z_0$ konstant ist,
ist der Realteil $\operatorname{Re} \log f$ dort ebenfalls konstant. Also
verschwinden die folgenden partiellen Ableitungen von $\operatorname{Re} \log
f$ in der Nähe von $z_0$ identisch:
\[
\frac{(\operatorname{Re} \log f)}{∂ z} \equiv 0, \quad \frac{\log f}{\overline{z}} \equiv 0.
\]
Die Cauchy-Riemann-Gleichungen für die holomorphe Funktion $\log f$ erzwingen
dann aber, dass die Ableitungen von $\operatorname{Im}(\log f)$ ebenfalls
identisch verschwinden. Also ist $\log f$ konstant. Also ist $f$ konstant.
\end{proof}
\begin{satz}[Satz von Goursat]\label{satz:4-4-2}%
\index{Satz von Goursat!über Differenzierbarkeit}Es sei $U ⊂ $ offen und $f ∈
𝒪(U)$. Dann ist $f$ unendlich oft komplex differenzierbar. Wenn
$\overline{B}_r(z_0) ⊂ U$ ist, dann gilt für alle $w ∈ B_r(z_0)$ die Gleichung
\[
f^{(n)}(w) = \frac{n!}{2π i} \int_{∂ B_r(z_0)} \frac{f(z)}{(z - w)^{n+1}} \, dz.
\]
\end{satz}
\begin{proof}
Sei eine Zahl $r > 0$ gegeben, sodass $\overline{B}_r(z_0) ⊂ U$ ist.
\paragraph*{Schritt 1: Diskussion der Funktion $f$}
Für alle $w ∈ B_r(z_0)$ gilt die Gleichung
\begin{align*}
f(w) & = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_r(z_0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz && \text{Integralformel, Satz~\ref{satz:4-4-1}} \\
& = \frac{1}{2π i} \int_0^{} \frac{f(z_0 + r · \exp(it))· ri \exp(it)}{z + r · \exp(it) - w} \, dt && \text{Definition~\ref{def:3-2-1} (Wegintegral)}
\end{align*}
Betrachte die Funktion unter dem Integral:
\[
\varphi: B_r(z_0) [0, 2π], \quad (w, t)\frac{f(z_0 + r · \exp(it))· r · i · \exp(it)}{z_0 + r · \exp(it) - w}.
\]
Die Funktion $\varphi$ ist stetig. Zusätzlich gilt für jedes $t ∈ [0, 2π]$,
dass die Funktion $\varphi(·, t): B_r(z_0)$ holomorph ist. Damit folgt
aus dem Satz über die komplexe Ableitung unter dem Integral,
Satz~\ref{satz:3-1-12}, dass $f$ auf $B_r(z_0)$ komplex differenzierbar ist
(wissen wir schon) und dass für alle $w ∈ B_r(z_0)$ die Gleichung
\begin{align*}
f'(w) & = \frac{1}{2π i} \int_0^{} \frac{f(z_0 + r · \exp(it))· r · i · \exp(it)}{(z_0 + r · \exp(it) - w)²} \, dt \\
& = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_r(z_0)} \frac{f(z)}{(z - w)²} \, dz
\end{align*}
gilt.
\paragraph*{Schritt 2: Diskussion der Funktion $f$}
Betrachte die Funktion unter dem Integral:
\[
\varphi': B_r(z_0) [0, 2π], \quad (w, t)\frac{f(z_0 + r · \exp(it))· r · i · \exp(it)}{(z_0 + r · \exp(it) - w)²}.
\]
Die Funktion $\varphi'$ ist stetig. Zusätzlich gilt für jedes $t ∈ [0, 2π]$,
dass die Funktion $\varphi'(·, t): B_r(z_0)$ holomorph ist. Damit folgt
aus dem Satz über die komplexe Ableitung unter dem Integral,
Satz~\ref{satz:3-1-12}, dass $f'$ auf $B_r(z_0)$ komplex differenzierbar ist
(wissen wir noch nicht) und dass für alle $w ∈ B_r(z_0)$ die Gleichung
\[
f''(w) =
\]
gilt.
\paragraph*{Schritt 3: Iteriere ad Infimum}
Induktiv erhalten wir so die Behauptung.
\end{proof}
\begin{kor}[Satz von Liouville\footnote{Joseph Liouville (* 24.~März 1809 in
Saint-Omer; † 8.~September 1882 in Paris) war ein französischer
Mathematiker.}]\label{kor:4-4-3}%
\index{Satz von Liouville}Sei $f ∈ 𝒪()$ eine auf ganz $$ holomorphe
Funktion. Falls $|f|$ beschränkt ist, dann ist $f$ konstant.
\end{kor}
\begin{proof}
Sei $M ∈ ℝ⁺$ eine obere Schranke von $|f|$. Dann gilt nach dem
Satz~\ref{satz:4-4-2} von Goursat für alle Zahlen $r > 0$ die Gleichung
\[
f'(0) = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_r(0)} \frac{f(z)}{(z - 0)²} \, dz.
\]
Es gilt also für alle Zahlen $r > 0$ die Abschätzung
\[
|f'(0)| ≤ \frac{M}{2π} · 2π r · \frac{1}{}.
\]
Also $f'(0) = 0$. Analog zeigt man für alle anderen $z ∈ $ ebenfalls, dass
$f'(z) = 0$ ist. Nach Konsequenz~\ref{kons:3-2-11} ist $f$ damit konstant.
\end{proof}
\sideremark{Vorlesung 9}
\begin{kor}[Fundamentalsatz der Algebra]\label{kor:5-2-5}%
\index{Fundamentalsatz der Algebra}Es sei $f ∈ 𝒪()$ ein Polynom ohne
Nullstelle. Dann ist $f$ konstant.
\end{kor}
\begin{proof}
Wir werden gleich zeigen: $|f|$ ist nach unten beschränkt. Genauer: Es
existiert eine Zahl $m ∈ ℝ⁺$, sodass für jedes $z ∈ $ die Ungleichung $m <
|f(z)|$ gilt. Dann ist $1/f ∈ 𝒪()$ beschränkt und holomorph, also nach
Korollar~\ref{kor:4-4-3} („Satz von Liouville“) konstant. Also ist $f$
konstant. Um die Beschränktheit zu zeigen, schreibe das Polynom $f$ zunächst
aus,
\[
f = \sum_{i=0}^n a_i · zⁱ, \quad \text{mit Leitkoeffizient } a_n ≠ 0.
\]
Wähle eine Zahl $0 < ε ≪ |a_n|$ und beobachte, dass ein Radius $r ∈ ℝ⁺$
existiert, sodass für jedes $z ∈ B_r(0)$ die Ungleichung
\[
\left| \frac{a_{n-1}}{z} ++ \frac{a_0}{z^n} \right| < ε
\]
gilt. Nach der Dreiecksungleichung gilt dann für jedes $z ∈ B_r(0)$
\[
\left| f(z)/z^n \right| = \left| a_n + \frac{a_{n-1}}{z} ++ \frac{a_0}{z^n} \right|
> |a_n| - ε
\]
und somit
\[
|f(z)| > |z|^n · (|a_n| - ε) > r^n · (|a_n| - ε).
\]
Also gilt für jedes $z ∈ $ die Ungleichung
\[
|f(z)| > \min \left\{ r^n (|a_n| - ε), \min_{\substack{z ∈ \overline{B}_r(0)}} |f(z)| \right\}.
\]
Beachte dazu, dass die stetige Funktion $|f|$ auf der kompakten Menge
$\overline{B}_r(0)$ ein Minimum annimmt. Die rechte Seite der Ungleichung ist
daher positiv.
\end{proof}
\begin{kor}[Satz von Morera\footnote{Giacinto Morera (* 18.~Juli 1856 in Novara,
Italien; † 8.~Februar 1909 in Turin, Italien) war ein italienischer Ingenieur
und Mathematiker. Er ist für den Satz von Morera in der Funktionentheorie und
für seine Arbeiten über lineare Elastizität bekannt.}, Charakterisierung
holomorpher Funktionen]\label{kor:5-2-6}%
\index{Satz von Morera}Sei $U ⊆ $ offen und $f : U → $ sei stetig. Dann
sind die folgenden Aussagen äquivalent.
\begin{enumerate}
\item\label{il:5-2-8-1} Die Funktion $f$ ist holomorph.
\item\label{il:5-2-8-2} Für jedes achsenparallele Rechteck $\mathcal{R} ⊂ U$
verschwindet das Randintegral,
\[
\int_{\mathcal{R}} f(z)\, dz = 0.
\]
\end{enumerate}
\end{kor}
\begin{proof}
Die Richtung \ref{il:5-2-8-1} $$ \ref{il:5-2-8-2} ist
Korollar~\ref{kor:4-3-2} („Integralsatz von Cauchy“) denn der Weg rund um das
Rechteck $\mathcal{R}$ ist in $U$ zusammenziehbar.
Um Richtung \ref{il:5-2-8-2} $$ \ref{il:5-2-8-1} zu zeigen, erinnern wir uns,
dass Holomorphie ist eine lokale Eigenschaft ist. Wir können die Menge $U$
mit Kreisscheiben $\{Δ_i\}_{i ∈ I}$ überdecken und für jedes $i ∈ I$ zeigen,
dass $f|_{Δ_i} : Δ_i → $ holomorph ist. Also dürfen wir ohne Einschränkung
annehmen, dass $U$ eine Kreisscheibe ist. Nach Korollar~\ref{kor:3-4-7}
(„Stammfunktionen auf der Kreisscheibe II“) hat $f$ eine Stammfunktion, also
eine Funktion $F ∈ 𝒪(U)$ mit $F' = f$. Wir wissen nach Satz~\ref{satz:4-4-2}
(„Satz von Goursat“), dass $F$ nicht nur ein mal, sondern unendlich oft
komplex differenzierbar ist. Also ist $f = F' ∈ 𝒪(U)$.
\end{proof}
\begin{kor}[Hebbarkeitssatz]\label{kor:5-2-7}%
Sei $U ⊂ $ offen und sei $L ⊂ $ eine Gerade (nicht unbedingt durch den
Ursprung). Falls $f : U → $ stetig und $f|_{U L}𝒪(U L)$ ist, dann
ist $f ∈ 𝒪(U)$.
\end{kor}
\begin{proof}
Nach Drehung (= Multiplikation mit einer Zahl der Form $e^{iα}$ aus $^*$) und
Verschieben (= Addition mit Zahl komplexen) können wir ohne Beschränkung der
Allgemeinheit annehmen, dass die Gerade $L$ die reelle Achse ist. Um zu
zeigen, dass $f$ holomorph ist, betrachten wir achsenparallele Rechtecke
$\mathcal{R} ⊂ U$. Wenn $\mathcal{R}$ ganz in $U L$ liegt, ist
\[
\int_{\mathcal{R}} f(z)\, dz = 0.
\]
Wenn $\mathcal{R}$ die Gerade $L$ schneidet, zerlege $\mathcal{R}$ in zwei
Rechtecke.
\begin{center}
\begin{tikzpicture}[scale=0.8]
\draw[thick] (-2,0) -- (4,0) node[right] {$L$};
\draw[thick] (0,-1) rectangle (3,2);
\draw[dashed] (0,0) -- (3,0);
\node at (1.5,1) {$\mathcal{R}_1$};
\node at (1.5,-0.5) {$\mathcal{R}_2$};
\end{tikzpicture}
\end{center}
Es genügt, das Rechteck $\mathcal{R}_1$ zu betrachten. Gegeben eine Zahl $ε >
0$, so zerlegen wir $\mathcal{R}_1$ weiter.
\begin{center}
\begin{tikzpicture}[scale=0.8]
\draw[thick] (0,0) rectangle (3,2);
\draw[dashed] (0,0.3) -- (3,0.3);
\draw[thick] (-1,0) -- (4,0) node[right] {$L$};
\node at (1.5,1.15) {$\mathcal{R}'_{ε}$};
\node at (1.5,0.15) {$\mathcal{R}''_{ε}$};
\end{tikzpicture}
\end{center}
Dann ist
\[
\int_{\mathcal{R}_1} f(z)\, dz
= \underbrace{\int_{\mathcal{R}'_{ε}} f(z)\, dz}_{= 0 \text{ weil } \mathcal{R}'_{ε} ⊂ U L} + \int_{\mathcal{R}''_{ε}} f(z)\, dz.
\]
Beachte, dass der zweite Summand für $ε → 0$ gegen $0$ konvergiert, weil $f$
stetig ist. Also ist $\int_{\mathcal{R}_1} f(z)\, dz = 0$, und analog ist
$\int_{\mathcal{R}} f(z)\, dz = 0$.
\end{proof}
\begin{kor}[Variante]\label{kor:5-2-8}%
Sei $U ⊂ $ offen und $L_1, … L_n$ seien endlich viele Geraden. Falls $f : U
$ stetig ist und $f ∈ 𝒪(U (L_1 L_n))$, dann ist $f ∈ 𝒪(U)$.
\end{kor}
\begin{proof}
Entferne eine Gerade nach der anderen und argumentiere induktiv.
\end{proof}
% !TEX root = Funktionentheorie