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\chapter{Cauchy's Integralformel}
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\section{Integralformel}
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\begin{satz}[Integralformel von Cauchy]\label{satz:4-4-1}%
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\index{Integralformel von Cauchy}Sei $U ⊂ ℂ$ offen und $f ∈ 𝒪(U)$. Weiter
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sei $K ⊂ U$ eine abgeschlossene Kreisscheibe, und es sei $γ$ ein stetiger Weg,
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der den Rand von $K$ gegen den Uhrzeigersinn durchläuft. Dann gilt für alle
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Punkte $w$ aus dem Inneren von $K$:
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\begin{equation}\label{eq:4-4-0}
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f(w) = \frac{1}{2π i} \int_γ \frac{f(z)}{z - w} \, dz.
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\end{equation}
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\end{satz}
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\begin{notation}[Kreisscheiben und Wege]
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Gegeben $z_0 ∈ ℂ$ und $r ∈ ℝ⁺$, dann bezeichnen wir die offene/abgeschlossene
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Kreisscheibe beziehungsweise den Rand der Kreisscheibe mit
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\begin{align*}
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B_r(z_0) &= \{ z ∈ ℂ \mid |z - z_0| < r \}, \\
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\overline{B}_r(z_0) &= \{ z ∈ ℂ \mid |z - z_0| ≤ r \}, \\
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∂ B_r(z_0) &= \{ z ∈ ℂ \mid |z - z_0| = r \}.
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\end{align*}
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Ein Weg, der $∂ B_r(z_0)$ im Gegenuhrzeigersinn durchläuft, ist
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\[
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γ: [0, 2π] → ℂ, \quad t ↦ z_0 + \exp(it) · r.
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\]
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Wir schreiben statt $\int_{γ} ⋯\, dz$ auch kurz $\int_{∂ B_r(z_0)} ⋯\, dz$.
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\end{notation}
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\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:4-4-1}]
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Der Beweis ist relativ lang und deshalb in mehrere Schritte aufgeteilt. Sei
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ein Punkt $w$ aus dem Inneren von $K$ gegeben.
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\paragraph{Schritt 1: Kreisscheiben um $w$}
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Wir beobachten: Wenn $ε ∈ ℝ⁺$ klein genug ist, dann ist die $ε$-Kreis\-scheibe
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um $w$ vollständig in $K$ enthalten, also
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\[
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B_ε(w) ⊂ K = \overline{B}_r(z_0).
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\]
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Das heißt: Wege rund um $K$ und um $B_ε(w)$ sind in der Menge
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\[
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\text{Definitionsbereich von } z ↦ \frac{f(z)}{z - w} = U ∖ \{w\}
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\]
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frei homotop, also sind die Integrale gleich.
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\begin{equation}\label{eq:4-4-1}
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\int_{∂ K} \frac{f(z)}{z - w} \, dz
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= \int_{∂ B_{ε}(w)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz.
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\end{equation}
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\paragraph{Schritt 2: Hilfsfunktion}
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Betrachte die Hilfsfunktion
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\[
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g: U → ℂ, \quad z ↦
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\begin{cases}
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\frac{f(z) - f(w)}{z - w} & z ≠ w, \\
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f'(w) & z = w.
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\end{cases}
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\]
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Diese Funktion ist per Definition auf ganz $U$ stetig. Insbesondere nimmt der
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Betrag von $g$ auf der abgeschlossenen Kreisscheibe $K$ ein Maximum an, sagen
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wir
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\[
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M = \max \bigl\{ |g(z)| \::\: z ∈ K \bigr\}.
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\]
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Damit gilt für alle $z ∈ U ∖ \{w\}$ die Gleichung
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\begin{equation}\label{eq:4-4-2}
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\frac{f(z)}{z - w} = g(z) + f(w) · \frac{1}{z - w}
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\end{equation}
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\paragraph{Schritt 3: Integration}
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Insgesamt erhalten wir für alle hinreichend kleinen Zahlen $ε$ eine Gleichheit
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von Integralen,
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\begin{align*}
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\int_{∂ K} \frac{f(z)}{z - w} \, dz & = \int_{∂ B_{ε}(w)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz && \text{\eqref{eq:4-4-1}} \\
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&= \int_{∂ B_{ε}(w)} g(z) + f(w)·\frac{1}{z - w} \, dz && \text{\eqref{eq:4-4-2}} \\
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&= \underbrace{\int_{∂ B_{ε}(w)} g(z) \, dz}_{=: I_{1,ε}}
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+ \underbrace{f(w) · \int_{∂ B_{ε}(z)} \frac{1}{z - w} \, dz}_{=: I_{2,ε}}.
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\end{align*}
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Der Witz: Die linke Seite hängt nicht von $ε$ ab, also hängt auch die Summe
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nicht von $ε$ ab. Wir untersuchen die beiden Integrale auf der rechten Seite
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einzeln. Für hinreichend kleine $ε$ gilt:
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\begin{align*}
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I_{2,ε} & = f(w) · 2π i && \text{Beispiel~\ref{bsp:3-2-2}} \\
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|I_{1,ε}| & ≤ 2π · ε · M && \text{Beobachtung~\ref{beob:3-2-7}.}
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\end{align*}
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In der Summe erhalten wir $I_{1,ε} = 0$ und deshalb ist
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\[
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\int_{∂ K} \frac{f(z)}{z - w} \, dz = f(w) · 2π i.
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\]
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Damit ist die gesuchte Gleichung \eqref{eq:4-4-0} gezeigt.
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\end{proof}
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\section{Anwendungen der Integralformel}
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Wir betrachten einige unmittelbare Konsequenzen der Integralformel von Cauchy.
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\begin{prop}[Mittelwertsatz]\label{satz:5-2-1}%
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\index{Mittelwertsatz}Sei $U ⊂ ℂ$ offen, sei $f ∈ 𝒪(U)$ und sei
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$\overline{B}_r(z_0) ⊂ U$. Dann ist $f(z_0)$ (=der Funktionswert von $f$ im
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Mittelpunkt der Kreisscheibe) gleich dem Mittelwert von $f$ auf dem Rand $∂
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B_r(z_0)$ der Kreisscheibe. Genauer gilt:
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\[
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f(z_0) = \frac{1}{2π} \int_0^{2π} f(z_0 + r · \exp(it)) \, dt.
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\]
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\end{prop}
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\begin{proof}
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Wir betrachten den konkreten Weg $γ: [0, 2π] → U$, $t ↦ z_0 + r · \exp(it)$.
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Dann sagt die Integralformel:
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\begin{align*}
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f(z_0) & = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_r(z_0)} \frac{f(z)}{z - z_0} \, dz && \text{Integralformel, Satz~\ref{satz:4-4-1}} \\
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& = \frac{1}{2π i} \int_0^{2π} \frac{f(z_0 + r · \exp(it))}{r · \exp(it)} · ri \exp(it) \, dt && \text{Definition~\ref{def:3-2-1} (Wegintegral)} \\
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& = \frac{1}{2π} \int_0^{2π} f(z_0 + r · \exp(it)) \, dt.
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\end{align*}
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Damit ist der Mittelwertsatz gezeigt.
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\end{proof}
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\begin{kor}[Schwaches Maximumprinzip]\label{kor:5-2-2}%
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\index{Maximumprinzip!schwaches}Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $f ∈ 𝒪(U)$. Dann
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hat die stetige Funktion $|f|$ kein echtes Maximum. Genauer: Für jeden Punkt
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$z_0 ∈ U$ und jede Umgebung $V = V(z_0) ⊆ U$ gibt es einen Punkt $z ∈ V$ mit
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$|f(z)| ≥ |f(z_0)|$.
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\end{kor}
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\begin{proof}
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Beweis durch Widerspruch: Angenommen, es gibt es einen Punkt $z_0 ∈ U$, bei
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dem ein echtes Maximum vorliegt. Dann gibt es $ε > 0$, sodass für alle $z ∈ ∂
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B_{ε}(z_0) ∖ \{z_0\}$ die Ungleichung $|f(z)| < |f(z_0)|$ gilt. Dann ist
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\begin{align*}
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|f(z_0)| & = \left| \frac{1}{2π} \int_0^{2π} f(z_0 + ε · \exp(it)) \, dt \right| && \text{Mittelwertsatz~\ref{satz:5-2-1}} \\
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& ≤ \frac{1}{2π} \int_0^{2π} |f(z_0 + ε · \exp(it))| \, dt && \text{Dreiecksungleichung} \\
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& < \frac{1}{2π} \int_0^{2π} |f(z_0)| \, dt = |f(z_0)| && \text{Annahme.}
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\end{align*}
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Wir erhalten einen Widerspruch.
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\end{proof}
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\sideremark{Vorlesung 8}Es gilt noch mehr, aber dafür müssen wir etwas mehr
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arbeiten.
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\begin{satz}[Starkes Maximumprinzip]\label{satz:5-2-3}%
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\index{Maximumprinzip!starkes}Es sei $U ⊂ ℂ$ offen, es sei $f ∈ 𝒪(U)$ und es
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sei $z_0 ∈ U$ ein lokales Maximum der stetigen Funktion $|f|: U → ℝ^{≥ 0}$.
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Dann ist $f$ in der Nähe von $z_0$ konstant. Genauer:
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\[
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∃ ε > 0: B_{ε}(z_0) ⊂ U \text{ und } f|_{B_{ε}(z_0)} \equiv \text{const.}
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\]
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\end{satz}
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\begin{erinnerung}[Existenz lokaler Logarithmus-Funktionen]\label{erinnerung:5-2-4}%
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Gegeben irgendein $z_0 ∈ ℂ$, dann gibt es eine Umgebung $V$ von $z_0$, sodass
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eine holomorphe Logarithmus-Funktion auf $V$ existiert. Genauer: Es gibt eine
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holomorphe Funktion $\log ∈ 𝒪(V)$, sodass für alle $z ∈ V$ die Gleichung
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$\exp(\log z) = z$ gilt. Der Beweis ist einfach: Falls $z_0$ ein Punkt der
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geschlitzten Ebene $ℂ ∖ ℝ_{≤ 0}$ ist, dann können wir nach der Diskussion in
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Abschnitt~\ref{sec:2-5-2} den Hauptzweig des Logarithmus verwenden, der auf
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der ganzen geschlitzten Ebene holomorph ist. Andernfalls spiegele die
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geschlitzte Ebene an der imaginären Achse und …
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\end{erinnerung}
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\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:5-2-3}]
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Weil $z_0 ∈ U$ ein lokales Maximum der stetigen Funktion $|f|: U → ℝ^{≥ 0}$
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ist, gibt es eine Zahl $ε > 0$, sodass $\overline{B}_ε(z_0) ⊂ U$ ist für alle
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$z ∈ \overline{B}_ε(z_0)$ die Ungleichung $|f(z)| ≤ |f(z_0)|$ gilt.
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\paragraph*{Schritt 1: $|f|$ ist konstant in der Nähe von $z_0$}
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Ich behaupte, dass $|f|$ auf ganz $B_ε(z_0)$ konstant ist. Angenommen, es
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gibt einen Punkt $z_1 ∈ B_ε(z_0)$ mit $|f(z_1)| < |f(z_0)|$. Setze $δ := |z_0
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- z_1|$ und berechne exakt wie im Beweis des schwachen Maximumsprinzips,
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Korollar~\ref{kor:5-2-2}, dass
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\begin{align*}
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|f(z_0)| & = \left| \frac{1}{2π} \int_0^{2π} f(z_0 + δ · \exp(it)) \, dt \right| && \text{Mittelwertsatz~\ref{satz:5-2-1}} \\
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& ≤ \frac{1}{2π} \int_0^{2π} |f(z_0 + δ · \exp(it))| \, dt && \text{Dreiecksungleichung} \\
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& < \frac{1}{2π} \int_0^{2π} |f(z_0)| \, dt = |f(z_0)| && \text{Annahme}
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||
\end{align*}
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ist. Wir erhalten einen Widerspruch. Also ist $|f|$ auf ganz $B_ε(z_0)$
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konstant.
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\paragraph*{Schritt 2: $f$ ist konstant in der Nähe von $z_0$}
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Wenn $f(z_0) = 0$ ist, dann folgt aus der lokalen Konstanz von $|f|$ sofort,
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dass $f$ lokal konstant ist. Wir nehmen also an, dass $f(z_0) ≠ 0$ ist.
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Wende Erinnerung~\ref{erinnerung:5-2-4} an: Nach Verkleinern von $U$ können
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wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, das eine holomorphe Funktion
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$\log f ∈ 𝒪(U)$ existiert, sodass für alle $z ∈ U$ die Gleichung $\exp(\log
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f(z)) = f(z)$ gilt. Weil $|f|$ konstant in der Nähe von $z_0$ konstant ist,
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ist der Realteil $\operatorname{Re} \log f$ dort ebenfalls konstant. Also
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verschwinden die folgenden partiellen Ableitungen von $\operatorname{Re} \log
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f$ in der Nähe von $z_0$ identisch:
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\[
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\frac{∂(\operatorname{Re} \log f)}{∂ z} \equiv 0, \quad \frac{∂\log f}{∂ \overline{z}} \equiv 0.
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\]
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Die Cauchy-Riemann-Gleichungen für die holomorphe Funktion $\log f$ erzwingen
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dann aber, dass die Ableitungen von $\operatorname{Im}(\log f)$ ebenfalls
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identisch verschwinden. Also ist $\log f$ konstant. Also ist $f$ konstant.
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\end{proof}
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\begin{satz}[Satz von Goursat]\label{satz:4-4-2}%
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\index{Satz von Goursat!über Differenzierbarkeit}Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $f ∈
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𝒪(U)$. Dann ist $f$ unendlich oft komplex differenzierbar. Wenn
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$\overline{B}_r(z_0) ⊂ U$ ist, dann gilt für alle $w ∈ B_r(z_0)$ die Gleichung
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\[
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f^{(n)}(w) = \frac{n!}{2π i} \int_{∂ B_r(z_0)} \frac{f(z)}{(z - w)^{n+1}} \, dz.
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\]
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\end{satz}
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\begin{proof}
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Sei eine Zahl $r > 0$ gegeben, sodass $\overline{B}_r(z_0) ⊂ U$ ist.
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\paragraph*{Schritt 1: Diskussion der Funktion $f$}
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Für alle $w ∈ B_r(z_0)$ gilt die Gleichung
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\begin{align*}
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f(w) & = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_r(z_0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz && \text{Integralformel, Satz~\ref{satz:4-4-1}} \\
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& = \frac{1}{2π i} \int_0^{2π} \frac{f(z_0 + r · \exp(it))· ri \exp(it)}{z + r · \exp(it) - w} \, dt && \text{Definition~\ref{def:3-2-1} (Wegintegral)}
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\end{align*}
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Betrachte die Funktion unter dem Integral:
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\[
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\varphi: B_r(z_0) ⨯ [0, 2π] → ℂ, \quad (w, t) ↦ \frac{f(z_0 + r · \exp(it))· r · i · \exp(it)}{z_0 + r · \exp(it) - w}.
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||
\]
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||
Die Funktion $\varphi$ ist stetig. Zusätzlich gilt für jedes $t ∈ [0, 2π]$,
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dass die Funktion $\varphi(·, t): B_r(z_0) → ℂ$ holomorph ist. Damit folgt
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aus dem Satz über die komplexe Ableitung unter dem Integral,
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Satz~\ref{satz:3-1-12}, dass $f$ auf $B_r(z_0)$ komplex differenzierbar ist
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(wissen wir schon) und dass für alle $w ∈ B_r(z_0)$ die Gleichung
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\begin{align*}
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f'(w) & = \frac{1}{2π i} \int_0^{2π} \frac{f(z_0 + r · \exp(it))· r · i · \exp(it)}{(z_0 + r · \exp(it) - w)²} \, dt \\
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||
& = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_r(z_0)} \frac{f(z)}{(z - w)²} \, dz
|
||
\end{align*}
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gilt.
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\paragraph*{Schritt 2: Diskussion der Funktion $f$}
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Betrachte die Funktion unter dem Integral:
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\[
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\varphi': B_r(z_0) ⨯ [0, 2π] → ℂ, \quad (w, t) ↦ \frac{f(z_0 + r · \exp(it))· r · i · \exp(it)}{(z_0 + r · \exp(it) - w)²}.
|
||
\]
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||
Die Funktion $\varphi'$ ist stetig. Zusätzlich gilt für jedes $t ∈ [0, 2π]$,
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dass die Funktion $\varphi'(·, t): B_r(z_0) → ℂ$ holomorph ist. Damit folgt
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aus dem Satz über die komplexe Ableitung unter dem Integral,
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Satz~\ref{satz:3-1-12}, dass $f'$ auf $B_r(z_0)$ komplex differenzierbar ist
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(wissen wir noch nicht) und dass für alle $w ∈ B_r(z_0)$ die Gleichung
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\[
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f''(w) = ⋯
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\]
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gilt.
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\paragraph*{Schritt 3: Iteriere ad Infimum}
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Induktiv erhalten wir so die Behauptung.
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\end{proof}
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\begin{kor}[Satz von Liouville\footnote{Joseph Liouville (* 24.~März 1809 in
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Saint-Omer; † 8.~September 1882 in Paris) war ein französischer
|
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Mathematiker.}]\label{kor:4-4-3}%
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\index{Satz von Liouville}Sei $f ∈ 𝒪(ℂ)$ eine auf ganz $ℂ$ holomorphe
|
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Funktion. Falls $|f|$ beschränkt ist, dann ist $f$ konstant.
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\end{kor}
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\begin{proof}
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Sei $M ∈ ℝ⁺$ eine obere Schranke von $|f|$. Dann gilt nach dem
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Satz~\ref{satz:4-4-2} von Goursat für alle Zahlen $r > 0$ die Gleichung
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\[
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f'(0) = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_r(0)} \frac{f(z)}{(z - 0)²} \, dz.
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\]
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Es gilt also für alle Zahlen $r > 0$ die Abschätzung
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\[
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||
|f'(0)| ≤ \frac{M}{2π} · 2π r · \frac{1}{r²}.
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||
\]
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Also $f'(0) = 0$. Analog zeigt man für alle anderen $z ∈ ℂ$ ebenfalls, dass
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$f'(z) = 0$ ist. Nach Konsequenz~\ref{kons:3-2-11} ist $f$ damit konstant.
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\end{proof}
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\sideremark{Vorlesung 9}
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\begin{kor}[Fundamentalsatz der Algebra]\label{kor:5-2-5}%
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\index{Fundamentalsatz der Algebra}Es sei $f ∈ 𝒪(ℂ)$ ein Polynom ohne
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Nullstelle. Dann ist $f$ konstant.
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\end{kor}
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\begin{proof}
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Wir werden gleich zeigen: $|f|$ ist nach unten beschränkt. Genauer: Es
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existiert eine Zahl $m ∈ ℝ⁺$, sodass für jedes $z ∈ ℂ$ die Ungleichung $m <
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|f(z)|$ gilt. Dann ist $1/f ∈ 𝒪(ℂ)$ beschränkt und holomorph, also nach
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Korollar~\ref{kor:4-4-3} („Satz von Liouville“) konstant. Also ist $f$
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konstant. Um die Beschränktheit zu zeigen, schreibe das Polynom $f$ zunächst
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aus,
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\[
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f = \sum_{i=0}^n a_i · zⁱ, \quad \text{mit Leitkoeffizient } a_n ≠ 0.
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||
\]
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Wähle eine Zahl $0 < ε ≪ |a_n|$ und beobachte, dass ein Radius $r ∈ ℝ⁺$
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existiert, sodass für jedes $z ∈ ℂ ∖ B_r(0)$ die Ungleichung
|
||
\[
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||
\left| \frac{a_{n-1}}{z} + ⋯ + \frac{a_0}{z^n} \right| < ε
|
||
\]
|
||
gilt. Nach der Dreiecksungleichung gilt dann für jedes $z ∈ ℂ ∖ B_r(0)$
|
||
\[
|
||
\left| f(z)/z^n \right| = \left| a_n + \frac{a_{n-1}}{z} + ⋯ + \frac{a_0}{z^n} \right|
|
||
> |a_n| - ε
|
||
\]
|
||
und somit
|
||
\[
|
||
|f(z)| > |z|^n · (|a_n| - ε) > r^n · (|a_n| - ε).
|
||
\]
|
||
Also gilt für jedes $z ∈ ℂ$ die Ungleichung
|
||
\[
|
||
|f(z)| > \min \left\{ r^n (|a_n| - ε), \min_{\substack{z ∈ \overline{B}_r(0)}} |f(z)| \right\}.
|
||
\]
|
||
Beachte dazu, dass die stetige Funktion $|f|$ auf der kompakten Menge
|
||
$\overline{B}_r(0)$ ein Minimum annimmt. Die rechte Seite der Ungleichung ist
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||
daher positiv.
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\end{proof}
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\begin{kor}[Satz von Morera\footnote{Giacinto Morera (* 18.~Juli 1856 in Novara,
|
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Italien; † 8.~Februar 1909 in Turin, Italien) war ein italienischer Ingenieur
|
||
und Mathematiker. Er ist für den Satz von Morera in der Funktionentheorie und
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||
für seine Arbeiten über lineare Elastizität bekannt.}, Charakterisierung
|
||
holomorpher Funktionen]\label{kor:5-2-6}%
|
||
\index{Satz von Morera}Sei $U ⊆ ℂ$ offen und $f : U → ℂ$ sei stetig. Dann
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||
sind die folgenden Aussagen äquivalent.
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\begin{enumerate}
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\item\label{il:5-2-8-1} Die Funktion $f$ ist holomorph.
|
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\item\label{il:5-2-8-2} Für jedes achsenparallele Rechteck $\mathcal{R} ⊂ U$
|
||
verschwindet das Randintegral,
|
||
\[
|
||
\int_{∂ \mathcal{R}} f(z)\, dz = 0.
|
||
\]
|
||
\end{enumerate}
|
||
\end{kor}
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||
\begin{proof}
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||
Die Richtung \ref{il:5-2-8-1} $⇒$ \ref{il:5-2-8-2} ist
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Korollar~\ref{kor:4-3-2} („Integralsatz von Cauchy“) denn der Weg rund um das
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||
Rechteck $\mathcal{R}$ ist in $U$ zusammenziehbar.
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||
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||
Um Richtung \ref{il:5-2-8-2} $⇒$ \ref{il:5-2-8-1} zu zeigen, erinnern wir uns,
|
||
dass Holomorphie ist eine lokale Eigenschaft ist. Wir können die Menge $U$
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mit Kreisscheiben $\{Δ_i\}_{i ∈ I}$ überdecken und für jedes $i ∈ I$ zeigen,
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dass $f|_{Δ_i} : Δ_i → ℂ$ holomorph ist. Also dürfen wir ohne Einschränkung
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annehmen, dass $U$ eine Kreisscheibe ist. Nach Korollar~\ref{kor:3-4-7}
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(„Stammfunktionen auf der Kreisscheibe II“) hat $f$ eine Stammfunktion, also
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eine Funktion $F ∈ 𝒪(U)$ mit $F' = f$. Wir wissen nach Satz~\ref{satz:4-4-2}
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(„Satz von Goursat“), dass $F$ nicht nur ein mal, sondern unendlich oft
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komplex differenzierbar ist. Also ist $f = F' ∈ 𝒪(U)$.
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\end{proof}
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\begin{kor}[Hebbarkeitssatz]\label{kor:5-2-7}%
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Sei $U ⊂ ℂ$ offen und sei $L ⊂ ℂ$ eine Gerade (nicht unbedingt durch den
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Ursprung). Falls $f : U → ℂ$ stetig und $f|_{U ∖ L} ∈ 𝒪(U ∖ L)$ ist, dann
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ist $f ∈ 𝒪(U)$.
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\end{kor}
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\begin{proof}
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Nach Drehung (= Multiplikation mit einer Zahl der Form $e^{iα}$ aus $ℂ^*$) und
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Verschieben (= Addition mit Zahl komplexen) können wir ohne Beschränkung der
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Allgemeinheit annehmen, dass die Gerade $L$ die reelle Achse ist. Um zu
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zeigen, dass $f$ holomorph ist, betrachten wir achsenparallele Rechtecke
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$\mathcal{R} ⊂ U$. Wenn $\mathcal{R}$ ganz in $U ∖ L$ liegt, ist
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\[
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\int_{∂ \mathcal{R}} f(z)\, dz = 0.
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\]
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Wenn $\mathcal{R}$ die Gerade $L$ schneidet, zerlege $\mathcal{R}$ in zwei
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Rechtecke.
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\begin{center}
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\begin{tikzpicture}[scale=0.8]
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\draw[thick] (-2,0) -- (4,0) node[right] {$L$};
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\draw[thick] (0,-1) rectangle (3,2);
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\draw[dashed] (0,0) -- (3,0);
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\node at (1.5,1) {$\mathcal{R}_1$};
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\node at (1.5,-0.5) {$\mathcal{R}_2$};
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\end{tikzpicture}
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\end{center}
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Es genügt, das Rechteck $\mathcal{R}_1$ zu betrachten. Gegeben eine Zahl $ε >
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0$, so zerlegen wir $\mathcal{R}_1$ weiter.
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\begin{center}
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\begin{tikzpicture}[scale=0.8]
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\draw[thick] (0,0) rectangle (3,2);
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\draw[dashed] (0,0.3) -- (3,0.3);
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\draw[thick] (-1,0) -- (4,0) node[right] {$L$};
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\node at (1.5,1.15) {$\mathcal{R}'_{ε}$};
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\node at (1.5,0.15) {$\mathcal{R}''_{ε}$};
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\end{tikzpicture}
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\end{center}
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Dann ist
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\[
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\int_{∂ \mathcal{R}_1} f(z)\, dz
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= \underbrace{\int_{∂ \mathcal{R}'_{ε}} f(z)\, dz}_{= 0 \text{ weil } \mathcal{R}'_{ε} ⊂ U ∖ L} + \int_{∂ \mathcal{R}''_{ε}} f(z)\, dz.
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\]
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Beachte, dass der zweite Summand für $ε → 0$ gegen $0$ konvergiert, weil $f$
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stetig ist. Also ist $\int_{∂ \mathcal{R}_1} f(z)\, dz = 0$, und analog ist
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$\int_{∂ \mathcal{R}} f(z)\, dz = 0$.
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\end{proof}
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\begin{kor}[Variante]\label{kor:5-2-8}%
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Sei $U ⊂ ℂ$ offen und $L_1, … L_n$ seien endlich viele Geraden. Falls $f : U
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→ ℂ$ stetig ist und $f ∈ 𝒪(U ∖ (L_1 ∪ ⋯ ∪ L_n))$, dann ist $f ∈ 𝒪(U)$.
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\end{kor}
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\begin{proof}
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Entferne eine Gerade nach der anderen und argumentiere induktiv.
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\end{proof}
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% !TEX root = Funktionentheorie
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