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Stefan Kebekus
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\chapter{Integration über stetige Wege}
\section{Wegintegrale}
In Definition~\ref{def:3-2-1} haben wir Wegintegrale nur für stetig
differenzierbare Wege definiert. In vielen Situationen ist es aber nützlich,
Wegintegrale auch für stetige Wege zu definieren. Als Vorbereitung erinnern wir
uns an zwei elementare Fakten der Analysis und Topologie.
\begin{erinnerung}[Bilder von kompakten Mengen unter stetigen Abbildungen]\label{eri:3-4-1}%
Es sei $U ⊂ $ offen, es sei $K ⊂ ^n$ kompakt und es sei $γ : K → U$ stetig.
Dann gilt Folgendes.
\begin{enumerate}
\item Die Bildmenge $γ(K) ⊂ U$ ist kompakt.
\item Es gibt endlich viele Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$ in $U$,
die die Bildmenge $γ(K)$ überdecken. In Formelsprache:
\[
γ(K)_{j=1}^n Δ_j ⊆ U.
\]
\item\label{il:3-4-1-3} Es gibt eine reelle Zahl $δ > 0$, sodass es für jede
Teilmenge $A ⊆ K$ mit Durchmesser $d(A) ≤ δ$ einen Index $i$ gibt mit $γ(A)
⊆ Δ_i$.
\end{enumerate}
Die Zahl $δ$ aus \ref{il:3-4-1-3} ist Ihnen vielleicht als
\emph{Lebesgue-Zahl}\index{Lebesgue-Zahl} der Überdeckung $\{Δ_1, …, Δ_n\}$
bekannt. Details finden Sie unter anderem bei
\href{https://en.wikipedia.org/wiki/Lebesgue's_number_lemma}{Wikipedia}.
\end{erinnerung}
\begin{konstruktion}[Wegintegrale: Integration über stetige Wege]\label{kons:3-4-2}%
Sei $U ⊂ $ offen und sei $f: U → $ holomorph. Weiter sei $γ: [a,b] → U$ ein
stetig differenzierbarer Weg. Nach Erinnerung~\ref{eri:3-4-1} gibt es eine
Überdeckung von $γ([a,b])$ durch endlich viele Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$,
die ganz in $U$ liegen. Nach Satz~\ref{satz:3-3-11} finden wir auf jeder
dieser Kreisscheiben eine Stammfunktion $F_i: Δ_i → $ von $f$.
Nach Punkt~\ref{il:3-4-1-3} der Erinnerung~\ref{eri:3-4-1} gibt es eine
endliche Unterteilung des Intervalls $[a,b]$,
\[
a = t_0 < t_1 < t_2 < … < t_m = b,
\]
sodass für jeden Index $0 \le j < m$ der Wertebereich $γ([t_j, t_{j+1}])$ ganz
in einer der Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$ liegt. Genauer: für jeden Index $0
\le j < m$ gibt es einen Index $i_j ∈ \{1, …, n\}$ mit
\[
γ([t_{j-1}, t_j]) ⊂ Δ_{i_j}.
\]
Wir betrachten dann die Zahl
\[
I_{γ} := \sum_{j=0}^{m-1} \left( F_{i_j}(γ(t_{j+1})) - F_{i_j}(γ(t_j)) \right).
\]
Konstruktion~\ref{kons:3-4-2} endet hier.
\end{konstruktion}
Der Beweis des folgenden Fakts ist elementar, aber etwas langwierig. Ich lass
ihn deshalb lieber weg.
\begin{fakt}[Wegintegrale: Unabhängigkeit von der Wahl der Überdeckung]\label{fakt:3-4-3}%
Die Zahl $I_γ$ aus der obigen Konstruktion hängt nicht von der Wahl der
Überdeckung durch Kreisscheiben, der Wahl der Stammfunktionen und der Wahl der
Unterteilung des Intervalls $[a,b]$ ab. \qed
\end{fakt}
\begin{beobachtung}
Wenn der Weg $γ$ aus Konstruktion~\ref{kons:3-4-2} stetig differenzierbar ist,
dann gilt
\[
I_γ = \int_γ f(z) \, dz.
\]
\end{beobachtung}
\begin{definition}[Wegintegrale: Integration über stetige Wege]\label{def:3-4-5}%
Sei $U ⊂ $ offen und sei $f: U → $ holomorph. Weiter sei $γ: [a,b] → U$ ein
stetiger Weg. Dann definiert man das \emph{Wegintegral}\index{Wegintegral!für
stetige Wege} als
\[
\int_γ f(z) \, dz := I_{γ}.
\]
\end{definition}
\section{Homotopie von Wegen}
Gegeben eine offene Menge $U ⊂ $ und Punkte $z_0, z_1 ∈ U$, so betrachten wir
Wege, die $z_0$ und $z_1$ verbinden. Anschaulich ist klar, dass manche dieser
Wege stetig ineinander übergeführt werden können und andere nicht.
\begin{definition}[Homotopie von Wegen]\label{def:3-4-1}%
Es sei $U$ ein topologischer Raum, und $[a, b]$ ein kompaktes Intervall.
Zwei stetige Wege
\[
γ_0: [a, b] → U, \quad γ_1: [a, b] → U
\quad\text{mit}\quad
γ_0(a) = γ_1(a), \quad γ_0(b) = γ_1(b)
\]
heißen \emph{homotop}\index{homotope Wege}, wenn es stetige Abbildung
\[
Γ: [a, b] [0, 1] \longrightarrow U
\]
gibt, sodass die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
\begin{itemize}
\item $\forall s ∈ [0, 1] : Γ(a, s) = γ_0(a) \text{ und } Γ(b, s) = γ_0(b)$
\item $\forall t ∈ [a, b] : Γ(t, 0) = γ_0(t) \text{ und } Γ(t, 1) = γ_1(t)$.
\end{itemize}
Eine Abbildung $Γ$ mit diesen Eigenschaften heißt
\emph{Homotopie}\index{Homotopie von Wegen} zwischen den Wegen $γ_0$ und
$γ_1$.
\end{definition}
In der Situation von Definition~\ref{def:3-4-1} kann man die Homotopie als
Familie von Wegen auffassen, $γ_s := Γ(•, s)$, die stetig zwischen den Wegen
$γ_0$ und $γ_1$ interpoliert.
\begin{definition}[Zusammenziehbare Wege und einfach zusammenhängende Räume]\label{def:3-4-2}%
Es sei $U$ ein topologischer Raum, und $[a, b]$ ein kompaktes Intervall.
Ein \emph{geschlossener Weg}\index{geschlossener Weg} in $U$ ist ein stetiger
Weg
\[
γ: [a, b] → U \quad\text{mit}\quad γ(a) = γ(b).
\]
Ein geschlossener Weg heißt \emph{zusammenziehbar}\index{zusammenziehbare
Wege} oder \emph{kontrahierbar}\index{kontrahierbare Wege}, wenn er homotop zu
einem konstanten Weg ist. Der Raum $U$ heißt \emph{wegweise einfach
zusammenhängend}\index{wegweise einfach zusammenhängend}, wenn jeder
geschlossener Weg zusammenziehbar ist.
\end{definition}
\begin{bsp}[Zentrierte geschlossene Wege in der Kreisscheibe]
Es sei $U ⊂ $ die Einheits-Kreisscheibe und es sei $γ_0: [a, b] → U$ ein Weg
mit $γ_0(a) = γ_0(b) = 0$. Dann ist
\[
Γ: [a, b] [0, 1] → U, \quad (t, s)(1 - t) · γ_0(t)
\]
eine Homotopie zwischen dem Weg $γ_0$ und dem konstanten Weg $γ_1 \equiv 0$.
Also ist $γ_0$ zusammenziehbar.
\end{bsp}
\begin{bsp}[Allgemeine geschlossene Wege in der Kreisscheibe]\label{bsp:3-4-4}%
Es sei $U ⊂ $ die Einheits-Kreisscheibe und es sei $γ_0: [a, b] → U$
irgendein geschlossener Weg mit $γ_0(a) = γ_0(b) =: z$. Dann ist
\[
Γ: [a, b] [0, 1] → U, \quad (t, s)(1 - s) · (γ_0(t) - z) + z
\]
eine Homotopie zwischen $γ_0$ und dem konstanten Weg $γ_1 \equiv z$. Also ist
die Kreisscheibe einfach zusammenhängend.
\end{bsp}
\begin{bemerkung}[Konvexe Mengen sind einfach zusammenhängend]
Der wesentliche Punkt in Beispiel~\ref{bsp:3-4-4} ist, dass die Bildmenge von
$Γ$ ganz in der Kreisscheibe enthalten ist. Die zum Beweis notwendige
Rechnung verwendet allerdings nur, dass die Kreisscheibe konvex ist.
Tatsächlich sind alle konvexen Mengen wegweise einfach zusammenhängend. In
nicht-konvexen Mengen können geschlossene Wege durchaus nicht zusammenziehbar
sein.
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}
Homotopie ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge der Wege mit festen
Anfangs- und Endpunkten. Insbesondere ist Homotopie reflexiv, symmetrisch und
transitiv.
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}
Wir haben noch kein Kriterium dafür, dass eine Menge \emph{nicht} einfach
zusammenhängend ist. Der Integralsatz von Cauchy wird uns aber bald ein
solches Kriterium liefern.
\end{bemerkung}
% !TEX root = Funktionentheorie