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Funktionentheorie/12-residuum.tex
2025-11-25 16:58:19 +01:00

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\chapter{Der Residuensatz}
In diesem Abschnitt sei $U ⊂ $ offen, es sei $P ⊂ U$ endlich, und es $f ∈ 𝒪(U
P)$ eine holomorphe Funktion mit isolierten Singularitäten bei $P$. Gegeben
einen geschlossenen Weg $γ: [a,b] → U P$, der in $U$ zusammenziehbar ist, dann
fragen wir nach Möglichkeiten, das Integral
\[
\int_{γ} f(z) \, dz
\]
einfach zu berechnen. Einige Fälle kennen wir schon.
\begin{bemerkung}[Integralsatz von Cauchy]
Falls $P =$ die leere Menge ist, also $f ∈ 𝒪(U)$, dann sagt
Korollar~\ref{kor:4-3-2} („Integralsatz von Cauchy“), dass das gesuchte
Integral verschwindet,
\[
\int_{γ} f(z) \, dz = 0.
\]
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}[Umlaufsinn ist wichtig]\label{bem:12-0-2}%
Wenn $\overline{γ}$ derselbe Weg wie $γ$ ist, aber entgegengesetzter Richtung
läuft, dann gilt
\[
\int_{\overline{γ}} f(z) \, dz = -\int_{γ} f(z) \, dz.
\]
Also muss es eine Rolle spielen, wie $γ$ durchlaufen wird.
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}[Spezielle Koeffizienten der Laurent-Entwicklung]
Es sei $U = $ $P = \{rho\}$ sei ein einziger Punkt. Schreibe $f$ als
Laurentreihe,
\[
f(z) = \sum_{k=-}^∞ c_k (z-p)^k.
\]
Dann gilt nach Korollar~\ref{kor:10-2-5} für jede reelle Zahl $r ∈ ℝ⁺$ die
Gleichung
\[
\frac{1}{2π i} \int_{\mathcal{B}_R(p)} f(z) \, dz = c_{-1}.
\]
Der Koeffizient $c_{-1}$ der Laurententwicklung scheint also eine besondere
Rolle zu spielen.
\end{bemerkung}
\section{Die Umlaufzahl}
Der Begriff „Umlaufzahl“ präzisiert die in \ref{bem:12-0-2} gemachte
Beobachtung.
\begin{satz}[Umlaufzahl]\label{satz:12-2-1}%
Sei $p ∈ $ und $γ: [0,1] \{p\}$ ein stetiger, geschlossener Weg. Dann
gibt es genau eine Zahl $n ∈ $, sodass der Weg $γ$ frei homotop zum Weg
\[
[0,1] \{p\}, \quad t ↦ p + \exp(2π int)
\]
ist, nämlich
\[
n = \frac{1}{2π i} \int_{γ} \frac{1}{z-p} \, dz.
\]
\end{satz}
Wir beweisen Satz~\ref{satz:12-2-1} später. Zunächst definieren wir die
Umlaufzahl und diskutieren den Inhalt des Satzes geometrisch.
\begin{definition}[Umlaufzahl]\label{def:12-2-2}%
In der Situation von Satz~\ref{satz:12-2-1} heißt $n$ die
\emph{Umlaufzahl}\index{Umlaufzahl} oder
\emph{Windungszahl}\index{Windungszahl} des Weges $γ$ um und Punkt $p$. Die
Schreibweise $\Um(γ, p)$ ist üblich.
\end{definition}
\subsection{Anschauliche Bedeutung der Umlaufzahl}
Anschaulich gesprochen: Die Umlaufzahl zählt, wie oft $γ$ den Punkt $p$ entgegen
dem Uhrzeigersinn umläuft (Umrundungen im Uhrzeigersinn werden mit $-1$
gezählt). Mit den folgenden goldenen Regeln kann man die Umlaufzahl praktisch
ermitteln, wenn man den Weg $γ$ zeichnerisch gegeben hat und wenn der Weg $γ$
einfach durchlaufen wird. Dabei bedeutet „einfach durchlaufen“, dass es eine
endliche Menge $Z ⊂ [0,1]$ gibt, sodass $γ|_{[0,1] Z}$ injektiv ist.
\begin{description}
\item[Goldene Regel 1] Die Umlaufzahl $\Um(γ, p)$ hängt nur von der
Zusammenhangskomponente von $ \Bild(γ)$ ab, in der sich der Punkt $p$
befindet.
\item[Goldene Regel 2] Auf der unbeschränkten Zusammenhangskomponente von $\bC
\Bild(γ)$ ist die Umlaufzahl gleich $0$.
\item[Goldene Regel 3] Die Windungszahl in benachbarten
Zusammenhangskomponenten unterscheidet sich um $± 1$, wobei die größere Zahl
in Fahrtrichtung links liegt.
\end{description}
Abbildung~\ref{fig:12-1-1} zeigt, was dabei herauskommt. Wir beweisen die
goldenen Regeln nicht wirklich vollständig, sondern geben nur gute Gründe für
deren Gültigkeit an. Details sind Inhalt der Vorlesung „Topologie“.
\begin{figure}
\begin{center}
\includegraphics[width=4cm]{12-res1.png}
\end{center}
\caption{Anwendung der Goldenen Regeln}
\label{fig:12-1-1}
\end{figure}
\begin{proof}[Begründung zur Goldenen Regel 1]
Der Satz über parameterabhängige Integral zeigt, dass die Funktion
\[
\Um(γ, ·): \Bild(γ)
\]
stetig ist. Die Aussage folgt, weil die Bildmenge $$ diskret ist.
\end{proof}
\begin{proof}[Begründung zur Goldenen Regel 2]
In der Topologie zeigt man: Der Weg $γ$ ist in $ \{p\}$ zusammenziehbar,
falls $p$ in der unbeschränkten Zusammenhangskomponente von $γ$ liegt. Die
Aussage folgt dann aus Korollar~\ref{kor:4-3-2} („Integralsatz von Cauchy“),
\[
\int_γ \frac{1}{z-p} \, dz = \Um(γ, p) = 0.
\]
\end{proof}
\begin{proof}[Begründung zur Goldenen Regel 3]
Seien $p_1, p_2 \Bild(γ)$ in benachbarten Zusammenhangskomponenten. Das
sieht dann etwa so aus:
\begin{center}
\includegraphics[width=14cm]{12-res2.png}
\end{center}
Wir ändern den Weg $γ$ wie eingezeichnet ab und vergleichen die Umlaufzahlen
der Wege $γ$ und $\widetilde{γ}_{ε}$. Es ist
\[
\Um(γ, p_1) = \Um(\widetilde{γ}_{ε}, p_1) = \Um(\widetilde{γ}_{ε}, p_2).
\]
Dabei gilt das erste Gleichheitszeichen, weil der Weg $γ$ in $ \{p_1\}$
homotop zu $\widetilde{γ}_{ε}$ ist. Die zweite Gleichheit gilt nach der
Goldenen Regel 1, weil $p_1$ und $p_2$ in derselben Zusammenhangskomponente
von $ \Bild(\widetilde{γ}_{ε})$ ist. Die Umlaufzahl $\Um(\widetilde{β},
p_2)$ hängt natürlich nicht von der Größe $ε$ ab. Wenn man $ε$ gegen null
gehen lässt, erhält man folgendes Bild:
\begin{center}
\includegraphics[width=6cm]{12-res3.png}
\end{center}
Dann ist
\begin{align*}
\Um(γ, p_1) & = \Um(\widetilde{γ}_{ε}, p_2) \\
& = \frac{1}{2π i} \int_{\widetilde{γ}} \frac{1}{z-p_2} \, dz \\
& = \frac{1}{2π i} \left( \int_{γ} \frac{1}{z-p_2} \, dz + \int_{β} \frac{1}{z-p_2} \, dz \right) \\
& = \Um(γ, p_2) + \frac{1}{2π i} · \int_{β} \frac{1}{z-p_2} \, dz
\intertext{und für $r$ ausreichend klein ist nach der Cauchy-Integralformel}
\int_{β} \frac{1}{z-p_2} \, dz & = \int_{B_r(p_2)} \frac{1}{z-p_2} \, dz = ± 2π i.
\end{align*}
Damit ist die Goldene Regel 3 zumindest halbwegs gerechtfertigt.
\end{proof}
\subsection{Beweis des Satzes~\ref*{satz:12-2-1} über die Umlaufzahl}
Wir bewiesen Satz~\ref{satz:12-2-1} in mehreren Schritten.
\begin{bemerkung}
Nach Anwendung einer geeigneten Verschiebung können wir ohne Beschränkung der
Allgemeinheit annehmen, dass $p$ der Nullpunkt ist, $p = 0$.
\end{bemerkung}
\begin{behauptung}[Existenz eines Logarithmus-Wegs]\label{beh:12-2-3}%
Sei $a ∈ $ ein Logarithmus von $γ(0)$ (das bedeutet: $\exp(a) = γ(0)$). Dann
gibt es einen stetigen Weg $\widetilde{γ}: [0,1]$ mit $\widetilde{γ}(0) =
a$, sodass für jedes $t \in [0,1]$ die Gleichung
\[
γ(t) = exp \bigl( \widetilde{γ}(t) \bigr)
\]
gilt.
\end{behauptung}
\begin{proof}[Beweis von Behauptung~\ref{beh:12-2-3}]
Einige Fälle sind einfach.
\begin{itemize}
\item Falls $\Bild(γ)$ ganz in der geschlitzten Ebene $S \subseteq \bC$ liegt,
nehmen wir
\[
\widetilde{γ}(t) = \log (γ(t)) + 2π i k.
\]
Dabei ist $\log$ der Hauptzweig des Logarithmus und $k ∈ $ ist so gewählt,
dass $\widetilde{γ}(0) = a$ ist.
\item Falls $\Bild(γ)$ ganz in $-S \subseteq \bC$ liegt, können wir analog
vorgehen.
\end{itemize}
Im Allgemeinen wird das Bild von $\gamma$ weder in $S$ noch in $-S$ liegen.
Dann zerlegen wir das Intervall $[0,1]$ durch Zwischenpunkte, $0 = t_0 < t_1 <
… < t_r = 1$ so, dass $γ([t_{i-1}, t_i])$ jeweils in einem $S$ oder in $-S$
enthalten ist. Wähle dann induktiv Logarithmus-Wege
\[
\widetilde{γ}_i: [t_{i-1}, t_i]
\quad\text{mit}\quad
\widetilde{γ}_i(t_{i-1}) =
\begin{cases}
a & \text{falls } i = 1 \\
\widetilde{γ}_{i-1}(t_{i-1}) & \text{sonst}
\end{cases}
\]
und erhalte durch Zusammenfügen der Wege $\widetilde{γ}_i$ den gewünschten Weg
$\widetilde{γ}$.
\end{proof}
\begin{behauptung}[Existenz von $n$]\label{beh:12-2-4}%
Es gibt eine Zahl $n ∈ $, sodass der Weg $γ$ frei homotop zum Weg
\[
\delta_n : [0,1] \{p\}, \quad t ↦ \exp(2πin·t)
\]
ist.
\end{behauptung}
\begin{proof}[Beweis von Behauptung~\ref{beh:12-2-4}]
Es ist
\[
\exp(\widetilde{γ}(0)) = γ(0) = γ(1) = \exp(\widetilde{γ}(1)).
\]
Also ist $\widetilde{γ}(1) - \widetilde{γ}(0)\ker(\exp) = 2π i $. Demnach
gibt es eine Zahl $n ∈ $ mit
\[
\widetilde{γ}(1) = \widetilde{γ}(0) + 2π i·n.
\]
Wir erinnern uns daran, dass der Topologische Raum $\bC$ einfach
zusammenhängend ist. Daher ist der $\widetilde{γ}$ in $$ homotop zu jedem
anderen Weg mit denselben Anfangs- und Endpunkt. Insbesondere ist
$\widetilde{γ}$ homotop zu
\[
β: [0,1], \quad t ↦ \widetilde{γ}(0) + 2πin·t.
\]
Also ist der Weg $γ = \exp \circ \widetilde{γ}$ in $\bC^*$ homotop zu
\[
\exp \circ β: [0,1], \quad t ↦ γ(0)·\exp(2πin·t).
\]
Dieser Weg wiederum ist in $^*$ frei homotop zu $\delta_n$. Damit ist die
Existenz von $n$ gezeigt.
\end{proof}
\begin{behauptung}[Eindeutigkeit von $n$]\label{beh:12-2-5}%
Es gibt genau Zahl $n ∈ $, sodass der Weg $γ$ frei homotop zum Weg
\[
\delta_n : [0,1] \{p\}, \quad t ↦ \exp(2πin·t)
\]
ist, nämlich
\[
n = \frac{1}{2π i} \int_{γ} \frac{1}{z} \, dz.
\]
\end{behauptung}
\begin{proof}[Beweis von Behauptung~\ref{beh:12-2-5}]
Sei $n$ eine Zahl mit der Eigenschaft, dass $γ$ frei homotop zu $\delta_n$
ist. Dann ist
\begin{align*}
n & = \frac{1}{2π i} \int_{\delta_n} \frac{1}{z} \, dz && \text{Beispiel~\ref{bsp:3-2-2}} \\
& = \frac{1}{2π i} \int_{β} \frac{1}{z} \, dz. && \text{Satz~\ref{satz:4-3-6}.}
\end{align*}
Damit ist die Zahl $n$ eindeutig bestimmt.
\end{proof}
\section{Das Residuum}
\begin{definition}[Residuensatz]\label{def:12-3-1}%
Es sei $f \in \sO(U \setminus p)$ und es sei $R > 0$, sodass
$\overline{K_{0,R}(p)} \subset U$ ist. Der Koeffizient von $(z-p)^{-1}$ in
der Laurententwicklung von $f$ auf $K_{0,R}(p)$ wird
\emph{Residuum}\index{Residuum} von $f$ in $p$ genannt. Die Bezeichnung
$\Res_p(f)$ ist üblich.
\end{definition}
\begin{bsp}[Hebbare Singularität]
Wenn $f$ in $p$ eine hebbare Singularität hat, dann ist $\Res_p(f) = 0$.
\end{bsp}
\begin{bsp}[Polstelle]
Es sei $U = \bC$, $p = 0$ und $f(z) = \frac{1}{z}$. Dann ist $\Res_p(f) = 1$.
\end{bsp}
\begin{bsp}[Polstelle]
Es sei $U = \bC^*$, $p \ne 0$ und $f(z) = \frac{1}{z}$. Dann ist $\Res_p(f) =
0$.
\end{bsp}
\begin{erinnerung}
In der Situation von Definition~\ref{def:12-3-1} ist
\[
\Res_p(f) = \frac{1}{2\pi i} \int_{\partial K_R(p)} f(z) \, dz.
\]
\end{erinnerung}
\section{Der Residuensatz}
\begin{satz}[Residuensatz]\label{satz:12-3-2}%
Es sei $U \subset \bC$ offen, es sei $P \subset U$ eine endliche Teilmenge,
und $f \in \sO(U \setminus P)$. Sei weiter $\gamma: [a,b] \to U \setminus P$
ein geschlossener und stetiger Weg, der in $U$ zusammenziehbar ist. Dann gilt:
\[
\int_\gamma f(z) \, dz = 2\pi i \cdot \sum_{p \in P} \Um(\gamma, p) \cdot \Res_p(f).
\]
\end{satz}
\begin{proof}[Beweis]
Betrachte zunächst einen Punkt $p \in P$. Entwickle $f$ in eine Laurentreihe
in $p$:
\[
f(z) = \sum_{k=-\infty}^\infty c_k \cdot (z-p)^k
\]
und definiere
\[
h_p(z) := \sum_{k=-\infty}^{-2} c_k \cdot (z-p)^k.
\]
Die Funktion $h_p$ hat folgende Eigenschaften.
\begin{enumerate}
\item Nach Fakt~\ref{fakt:10-3-1} definiert die Reihe $h_p$ eine auf ganz
$\bC \setminus \{p\}$ holomorphe Funktion.
\item Die Reihe
\[
\sum_{k=-\infty}^{-2} c_k \cdot \frac{(z-p)^{k+1}}{k+1}
\]
definiert eine auf ganz $\bC \setminus \{p\}$ holomorphe Stammfunktion von
$h_p$.
\item Die auf $U \setminus P$ definierte Funktion
\[
f(z) - h_p(z) - \Res_p(f) \cdot (z-p)^{-1} = \sum_{k=0}^\infty c_k \cdot (z-p)^k
\]
hat in $p$ eine hebbare Singularität!
\end{enumerate}
Das machen wir jetzt für alle $p \in P$ und erhalten: Die Funktion
\[
g(z) := f(z) - \sum_{p \in P} h_p(z) - \sum_{p \in P} \Res_p(f) \cdot (z-p)^{-1}
\]
hat in allen Punkte $p \in P$ hebbare Singularitäten. Da die Kurve $\gamma$ in $U$ zusammenziehbar ist, folgt aus dem
Cauchy-Integralsatz
\[
\int_\gamma g(z) \, dz = 0.
\]
Also ist
\[
\int_\gamma f(z) \, dz = \sum_{p \in P} \underbrace{\int_\gamma h_p(z) \, dz}_{=0\text{, weil Stammfkt.~existiert}}
+ \sum_{p \in P} \underbrace{\int_\gamma \frac{\Res_p(f)}{z-p} \, dz}_{= 2\pi i \cdot \Um(\gamma, p) \cdot \Res_p(f)}.
\]
Damit ist der Satz bewiesen.
\end{proof}
% !TEX root = Funktionentheorie