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\selectlanguage{german}
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\chapter{Integration über stetige Wege}
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\section{Wegintegrale}
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\sideremark{Vorlesung 6}
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In Definition~\ref{def:3-2-1} haben wir Wegintegrale nur für stetig
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differenzierbare Wege definiert. In vielen Situationen ist es aber nützlich,
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Wegintegrale auch für stetige Wege zu definieren. Als Vorbereitung erinnern wir
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uns an zwei elementare Fakten der Analysis und Topologie.
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\begin{erinnerung}[Bilder von kompakten Mengen unter stetigen Abbildungen]\label{eri:3-4-1}%
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Es sei $U ⊂ ℂ$ offen, es sei $K ⊂ ℝ^n$ kompakt und es sei $γ : K → U$ stetig.
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Dann gilt Folgendes.
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\begin{enumerate}
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\item Die Bildmenge $γ(K) ⊂ U$ ist kompakt.
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\item Es gibt endlich viele Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$ in $U$, die die
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Bildmenge $γ(K)$ überdecken. In Formelsprache:
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\[
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γ(K) ⊆ ∪_{j=1}^n Δ_j ⊆ U.
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\]
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\item\label{il:3-4-1-3} Es gibt eine reelle Zahl $δ > 0$, sodass es für jede
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Teilmenge $A ⊆ K$ mit Durchmesser $d(A) ≤ δ$ einen Index $i$ gibt mit $γ(A)
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⊆ Δ_i$.
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\end{enumerate}
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Die Zahl $δ$ aus \ref{il:3-4-1-3} ist Ihnen vielleicht als
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\emph{Lebesgue-Zahl}\index{Lebesgue-Zahl}\footnote{Henri Léon Lebesgue (* 28.
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Juni 1875 in Beauvais; † 26. Juli 1941 in Paris) war ein französischer
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Mathematiker.} der Überdeckung $\{Δ_1, …, Δ_n\}$ bekannt. Details finden Sie
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unter anderem bei
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\href{https://en.wikipedia.org/wiki/Lebesgue's_number_lemma}{Wikipedia}.
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\end{erinnerung}
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\begin{konstruktion}[Wegintegrale: Integration über stetige Wege]\label{kons:3-4-2}%
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Sei $U ⊂ ℂ$ offen und sei $f: U → ℂ$ holomorph. Weiter sei $γ: [a,b] → U$ ein
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stetig differenzierbarer Weg. Nach Erinnerung~\ref{eri:3-4-1} gibt es eine
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Überdeckung von $γ([a,b])$ durch endlich viele Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$,
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die ganz in $U$ liegen. Nach Satz~\ref{satz:3-3-11} finden wir auf jeder
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dieser Kreisscheiben eine Stammfunktion $F_i: Δ_i → ℂ$ von $f$.
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Nach Punkt~\ref{il:3-4-1-3} der Erinnerung~\ref{eri:3-4-1} gibt es eine
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endliche Unterteilung des Intervalls $[a,b]$,
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\[
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a = t_0 < t_1 < t_2 < … < t_m = b,
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\]
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sodass für jeden Index $0 \le j < m$ der Wertebereich $γ([t_j, t_{j+1}])$ ganz
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in einer der Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$ liegt. Genauer: für jeden Index $0
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\le j < m$ gibt es einen Index $i_j ∈ \{1, …, n\}$ mit
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\[
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γ([t_{j-1}, t_j]) ⊂ Δ_{i_j}.
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\]
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Wir betrachten dann die Zahl
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\[
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I_γ := \sum_{j=0}^{m-1} \left( F_{i_j}(γ(t_{j+1})) - F_{i_j}(γ(t_j)) \right).
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\]
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Konstruktion~\ref{kons:3-4-2} endet hier.
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\end{konstruktion}
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Der Beweis des folgenden Fakts ist elementar, aber etwas langwierig. Ich lass
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ihn deshalb lieber weg.
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\begin{fakt}[Wegintegrale: Unabhängigkeit von der Wahl der Überdeckung]\label{fakt:3-4-3}%
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Die Zahl $I_γ$ aus der obigen Konstruktion hängt nicht von der Wahl der
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Überdeckung durch Kreisscheiben, der Wahl der Stammfunktionen und der Wahl der
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Unterteilung des Intervalls $[a,b]$ ab. \qed
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\end{fakt}
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\begin{beobachtung}\label{beob:4-1-4}%
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Wenn der Weg $γ$ aus Konstruktion~\ref{kons:3-4-2} stetig differenzierbar ist,
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dann gilt
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\[
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I_γ = \int_γ f(z) \, dz.
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\]
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\end{beobachtung}
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Wie in Bemerkung~\vref{bem:3-2-2} versprochen, können wir nun den Begriff des
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Wegintegrals auf stetige Wege erweitern. Fakt~\ref{fakt:3-4-3} garantiert, dass
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die Definition sinnvoll ist und nicht von den Wahlen abhängt, die wir in
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Konstruktion~\ref{kons:3-4-2} getroffen haben. Beobachtung~\ref{beob:4-1-4}
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garantiert, dass die neue Definition für stetig differenzierbare Wege mit der
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alten Definition übereinstimmt.
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\begin{definition}[Wegintegrale: Integration über stetige Wege]\label{def:4-1-5}%
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Sei $U ⊂ ℂ$ offen und sei $f: U → ℂ$ holomorph. Weiter sei $γ: [a,b] → U$ ein
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stetiger Weg. Dann definiert man das \emph{Wegintegral}\index{Wegintegral!für
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stetige Wege} als
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\[
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\int_γ f(z) \, dz := I_{γ}.
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\]
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\end{definition}
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\section{Homotopie von Wegen}
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Gegeben eine offene Menge $U ⊂ ℂ$ und Punkte $z_0, z_1 ∈ U$, so betrachten wir
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Wege, die $z_0$ und $z_1$ verbinden. Anschaulich ist klar, dass manche dieser
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Wege stetig ineinander übergeführt werden können und andere nicht.
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\begin{definition}[Homotopie von Wegen]\label{def:3-4-1}%
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Es sei $U$ ein topologischer Raum, und $[a, b] ⊂ ℝ$ ein kompaktes Intervall.
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Zwei stetige Wege
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\[
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γ_0: [a, b] → U, \quad γ_1: [a, b] → U
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\quad\text{mit}\quad
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γ_0(a) = γ_1(a), \quad γ_0(b) = γ_1(b)
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\]
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heißen \emph{homotop}\index{homotope Wege}, wenn es stetige Abbildung
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\[
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Γ: [a, b] ⨯ [0, 1] \longrightarrow U
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\]
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gibt, sodass die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
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\begin{itemize}
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\item $\forall s ∈ [0, 1] : Γ(a, s) = γ_0(a) \text{ und } Γ(b, s) = γ_0(b)$
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\item $\forall t ∈ [a, b] : Γ(t, 0) = γ_0(t) \text{ und } Γ(t, 1) = γ_1(t)$.
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\end{itemize}
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Eine Abbildung $Γ$ mit diesen Eigenschaften heißt
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\emph{Homotopie}\index{Homotopie von Wegen} zwischen den Wegen $γ_0$ und
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$γ_1$.
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\end{definition}
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In der Situation von Definition~\ref{def:3-4-1} kann man die Homotopie als
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Familie von Wegen auffassen, $γ_s := Γ(•, s)$, die stetig zwischen den Wegen
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$γ_0$ und $γ_1$ interpoliert.
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\begin{definition}[Zusammenziehbare Wege und einfach zusammenhängende Räume]\label{def:3-4-2}%
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Es sei $U$ ein topologischer Raum, und $[a, b] ⊂ ℝ$ ein kompaktes Intervall.
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Ein \emph{geschlossener Weg}\index{geschlossener Weg} in $U$ ist ein stetiger
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Weg
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\[
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γ: [a, b] → U \quad\text{mit}\quad γ(a) = γ(b).
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\]
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Ein geschlossener Weg heißt \emph{zusammenziehbar}\index{zusammenziehbare
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Wege} oder \emph{kontrahierbar}\index{kontrahierbare Wege}, wenn er homotop zu
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einem konstanten Weg ist. Der Raum $U$ heißt \emph{wegweise einfach
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zusammenhängend}\index{wegweise einfach zusammenhängend}, wenn jeder
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geschlossener Weg zusammenziehbar ist.
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\end{definition}
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\begin{bsp}[Zentrierte geschlossene Wege in der Kreisscheibe]
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Es sei $U ⊂ ℂ$ die Einheits-Kreisscheibe und es sei $γ_0: [a, b] → U$ ein Weg
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mit $γ_0(a) = γ_0(b) = 0$. Dann ist
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\[
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Γ: [a, b] ⨯ [0, 1] → U, \quad (t, s) ↦ (1 - t) · γ_0(t)
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\]
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eine Homotopie zwischen dem Weg $γ_0$ und dem konstanten Weg $γ_1 \equiv 0$.
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Also ist $γ_0$ zusammenziehbar.
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\end{bsp}
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\begin{bsp}[Allgemeine geschlossene Wege in der Kreisscheibe]\label{bsp:3-4-4}%
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Es sei $U ⊂ ℂ$ die Einheits-Kreisscheibe und es sei $γ_0: [a, b] → U$
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irgendein geschlossener Weg mit $γ_0(a) = γ_0(b) =: z$. Dann ist
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\[
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Γ: [a, b] ⨯ [0, 1] → U, \quad (t, s) ↦ (1 - s) · (γ_0(t) - z) + z
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\]
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eine Homotopie zwischen $γ_0$ und dem konstanten Weg $γ_1 \equiv z$. Also ist
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die Kreisscheibe einfach zusammenhängend.
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\end{bsp}
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\begin{bemerkung}[Konvexe Mengen sind einfach zusammenhängend]
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Der wesentliche Punkt in Beispiel~\ref{bsp:3-4-4} ist, dass die Bildmenge von
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$Γ$ ganz in der Kreisscheibe enthalten ist. Die zum Beweis notwendige
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Rechnung verwendet allerdings nur, dass die Kreisscheibe konvex ist.
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Tatsächlich sind alle konvexen Mengen wegweise einfach zusammenhängend. In
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nicht-konvexen Mengen können geschlossene Wege durchaus nicht zusammenziehbar
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sein.
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\end{bemerkung}
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\begin{bemerkung}
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Homotopie ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge der Wege mit festen
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Anfangs- und Endpunkten. Insbesondere ist Homotopie reflexiv, symmetrisch und
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transitiv.
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\end{bemerkung}
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\begin{bemerkung}
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Wir haben noch kein Kriterium dafür, dass eine Menge \emph{nicht} einfach
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zusammenhängend ist. Halten Sie durch! Der Integralsatz von Cauchy wird uns
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aber bald ein solches Kriterium liefern und wir werden in
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Beispiel~\vref{bsp:4-3-3} die (anschaulich vielleicht völlig einsichtige)
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Behauptung zeigen, dass $ℂ^*$ nicht einfach zusammenhängend ist.
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\end{bemerkung}
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\section{Der Integralsatz von Cauchy}
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Nach den vorhergehenden Abschnitten werden Sie sich schon denken, was jetzt
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kommt: Wegintegrale über homotope Wege sind gleich. Der folgende Satz stellt
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dies präzise dar.
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\begin{satz}[Homotopieinvarianz von Wegintegralen]\label{satz:4-3-1}%
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\index{Homotopieinvarianz von Wegintegralen}Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und es sei $f
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: U → ℂ$ holomorph. Weiter seien $γ_0, γ_1 : [a, b] → U$ zwei stetige Wege
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mit $γ_0(a) = γ_1(a)$ und $γ_0(b) = γ_1(b)$. Wenn $γ_0$ und $γ_1$ zueinander
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homotop sind, dann gilt die Gleichheit
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\begin{equation}\label{eq:4-3-1-1}
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\int_{γ_0} f(z) \, dz = \int_{γ_1} f(z) \, dz.
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\end{equation}
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\end{satz}
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\begin{proof}[Beweis durch Bild]
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Wie in Definition~\ref{def:3-4-1} sei
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\[
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Γ: [a, b] ⨯ [0, 1] \longrightarrow U
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\]
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eine Homotopie zwischen den Wegen $γ_0$ und $γ_1$. Weil die Menge $[a, b] ⨯
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[0, 1]$ kompakt ist, können wir nach Erinnerung~\ref{eri:3-4-1} die Bildmenge
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$γ\bigl([a, b] ⨯ [0, 1]\bigr) ⊂ U$ ist kompakt mit endlich viele Kreisscheiben
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$Δ_1, …, Δ_n$ aus $U$ überdecken. Weiter können wir eine Unterteilung der
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Intervalle finden,
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\begin{align*}
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a & = t_0 < t_1 < t_2 < … < t_m = b && \text{von } [a, b], \\
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0 & = s_0 < s_1 < s_2 < … < s_k = 1 && \text{von } [0, 1],
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||
\end{align*}
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sodass für alle Indizes $0 ≤ j < m$ und $0 ≤ l < k$ die Bildmenge
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$Γ\bigl([t_j, t_{j+1}] ⨯ [s_l, s_{l+1}]\bigr)$ ganz in einer der Kreisscheiben
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$Δ_1, …, Δ_n$ liegt. Als Nächstes wenden wir Korollar~\ref{kor:3-4-7} an und
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wählen für jede Kreisscheibe $Δ_i$ eine Stammfunktion $F_i: Δ_i → ℂ$ von
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$f|_{Δ_i}$. Nach Konsequenz~\ref{kons:3-3-3} gilt dann für jeden der in
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Abbildung~\ref{fig:4-3-1-1} eingezeichneten (geschlossenen!) Wege $β_{i,j}$
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die Gleichung
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\[
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\int_{β_{j,l}} f(z) \, dz = 0.
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\]
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Gleichung~\eqref{eq:4-3-1-1} folgt nun durch Addition über alle Indizes $i$
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und $j$. Man beachte dabei, dass sich Wegintegrale über entgegengesetzt
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orientierte Wege aufheben.
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\begin{figure}
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\begin{center}
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\includegraphics[width=13cm]{04-homotopie-2.png}
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||
\end{center}
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\caption{Die geschlossenen Wege $β_{j,l}$ in der Homotopie $Γ: [a,b] ⨯ [0,1] → U$.}
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\label{fig:4-3-1-1}
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\end{figure}
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\end{proof}
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\begin{kor}[Integralsatz von Cauchy]\label{kor:4-3-2}%
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\index{Integralsatz von Cauchy}Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und es sei $f : U → ℂ$
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holomorph. Weiter sei $γ : [a, b] → U$ ein zusammenziehbarer, stetiger Weg.
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Dann ist
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\[
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\int_{γ} f(z) \, dz = 0.
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\]
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\end{kor}
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\begin{bsp}[Die Menge $ℂ^*$ ist nicht einfach zusammenhängend]\label{bsp:4-3-3}%
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Wir betrachten die offene Menge $U := ℂ^* = ℂ ∖ \{0\}$ und die holomorphe
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Funktion $f: U → ℂ$, $z ↦ 1/z$. Weiter betrachten wir den geschlossenen
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Kreisweg
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\[
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γ: [0, 1] → U, \quad t ↦ e^{2πi t}.
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||
\]
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Wir haben in Beispiel~\vref{bsp:3-2-2} aber bereits ausgerechnet, was das
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Wegintegral ist:
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\[
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\int_γ \frac{1}{z} \, dz = 2πi.
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\]
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Nach Korollar~\ref{kor:4-3-2}, dem Integralsatz von Cauchy, ist der Weg $γ$
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also nicht zusammenziehbar. Wir haben damit gezeigt, dass die Menge $ℂ^*$
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nicht einfach zusammenhängend ist.
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\end{bsp}
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\sideremark{Vorlesung 7}
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\begin{kor}[Existenz von Stammfunktionen in einfach zusammenhängenden Mengen]%
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Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und wegweise einfach zusammenhängend, und es sei $f : U →
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ℂ$ holomorph. Dann gibt es eine Stammfunktion $F: U → ℂ$ von $f$.
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\end{kor}
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\begin{proof}
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Sei eine holomorphe Funktion $f$ gegeben. Um die Existenz einer Stammfunktion
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zu beweisen, genügt es nach Satz~\vref{satz:3-3-9} zu zeigen, dass die
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Wegintegrale $\int_• f(z)\, dz$ nur von Start- und Endpunkt des jeweiligen
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Weges abhängen. Seien also $γ_0 : [a_0, b_0] → U$ $γ_1 : [a_1, b_1] → U$ zwei
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stetige Wege gleichem Start- und Endpunkt, $γ_0(a_0) = γ_1(a_1)$ und $γ_0(b_0)
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= γ_1(b_1)$. Betrachte als Nächstes den Weg $γ$, definiert durch
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\[
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γ : [a_0, b_0 + b_1 - a_1] → U, \quad t ↦ :=
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\begin{cases}
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||
γ_0(t) & t ∈ [a_0, b_0), \\
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||
γ_1(b_0 + b_1 - t) & t ∈ [b_0, b_0 + b_1 - a_1].
|
||
\end{cases}
|
||
\]
|
||
Beachte, dass der Weg $γ$ stetig ist und $γ(a_0) = γ(b_0 + b_1 - a_1)$ gilt,
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||
also dass $γ$ ein geschlossener Weg ist. Da $U$ wegweise einfach
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zusammenhängend ist, ist der Weg $γ$ zusammenziehbar. Nach dem gilt daher nach
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dem Integralsatz von Cauchy,
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\begin{align*}
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0 & = \int_{γ} f(z) \, dz && \text{Korollar~\ref{kor:4-3-2}}\\
|
||
& = \int_{γ_0} f(z) \, dz - \int_{γ_1} f(z) \, dz && \text{Konstruktion von }γ.
|
||
\end{align*}
|
||
Damit folgt die Behauptung.
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\end{proof}
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Gelegentlich ist es nützlich, die folgende schwächere Version des Begriffs der
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Homotopie zu verwenden. Abbildung~\ref{fig:4-3-1-2} veranschaulicht die
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Situation.
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\begin{figure}
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\begin{center}
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||
\includegraphics[width=13cm]{04-freeHomotopy-1.png}
|
||
\end{center}
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||
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||
\caption{Freie Homotopie von geschlossenen Wegen}
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||
\label{fig:4-3-1-2}
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||
\end{figure}
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||
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||
\begin{definition}[Freie Homotopie von geschlossenen Wegen]\label{def:4-3-5}%
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||
Es sei $U$ ein topologischer Raum, und $[a, b] ⊂ ℝ$ ein kompaktes Intervall.
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||
Zwei geschlossene Wege
|
||
\[
|
||
γ_0: [a, b] → U, \quad γ_1: [a, b] → U
|
||
\quad\text{mit}\quad
|
||
γ_0(a) = γ_0(b), \quad γ_1(a) = γ_1(b)
|
||
\]
|
||
heißen \emph{frei homotop}\index{freie Homotopie von Wegen}, wenn es eine
|
||
stetige Abbildung
|
||
\[
|
||
Γ: [a, b] ⨯ [0, 1] \longrightarrow U
|
||
\]
|
||
gibt, sodass die folgenden Bedingungen erfüllt sind.
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||
\begin{enumerate}
|
||
\item Für jedes $s ∈ [0, 1]$ gilt: $Γ(a, s) = Γ(b, s)$.
|
||
\item Für jedes $t ∈ [a, b]$ gilt: $Γ(t, 0) = γ_0(t)$ und $Γ(t, 1) =
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||
γ_1(t)$.
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||
\end{enumerate}
|
||
Eine Abbildung $Γ$ mit diesen Eigenschaften heißt \emph{freie
|
||
Homotopie}\index{freie Homotopie von Wegen} zwischen den Wegen $γ_0$ und
|
||
$γ_1$.
|
||
\end{definition}
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||
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||
Der Satz~\ref{satz:4-3-1} über die Homotopieinvarianz von Wegintegralen lässt
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sich mit kleinen Änderungen auch auf freie Homotopien von geschlossenen Wegen
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übertragen.
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||
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||
\begin{satz}[Invarianz von Wegintegralen unter freier Homotopie]\label{satz:4-3-6}%
|
||
Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und es sei $f : U → ℂ$ holomorph. Weiter seien $γ_0, γ_1
|
||
: [a, b] → U$ zwei stetige. Wenn $γ_0$ und $γ_1$ zueinander frei homotop
|
||
sind, dann gilt die Gleichheit
|
||
\begin{equation}\label{eq:4-3-6-1}
|
||
\int_{γ_0} f(z) \, dz = \int_{γ_1} f(z) \, dz.
|
||
\end{equation}
|
||
\end{satz}
|
||
\begin{proof}[Beweisskizze mit Bild]
|
||
Es sei $Γ : [a,b] ⨯ [0,1] → U$ eine freie Homotopie zwischen den geschlossenen
|
||
Wegen $γ_0$ und $γ_1$. Betrachte weiter den in Abbildung~\ref{fig:4-3-3}
|
||
gezeigten Weg
|
||
\begin{figure}
|
||
\begin{center}
|
||
\includegraphics[width=5cm]{04-freeHomotopy-2.png}
|
||
\end{center}
|
||
|
||
\caption{Beweis: Invarianz von Wegintegralen unter freier Homotopie}
|
||
\label{fig:4-3-3}
|
||
\end{figure}
|
||
\[
|
||
δ : [0, 1] → U, s ↦ Γ(a, s).
|
||
\]
|
||
Dies ist ein Weg, der den Punkt $γ_0(a) = γ_0(b)$ mit dem Punkt $γ_1(a) =
|
||
γ_1(b)$ verbindet. Konstruiere nun einen geschlossenen Weg $\wtilde{γ}_1 :
|
||
[a,b] → U$, der Folgendes macht:
|
||
\begin{itemize}
|
||
\item Er beginnt bei $γ_0(a)$,
|
||
\item folgt dem Weg $δ$ bis zu $γ_1(a)$,
|
||
\item folgt dann dem Weg $γ_1$ bis zu $γ_1(b)$,
|
||
\item folgt dann dem Weg $δ$ zurück bis zu $γ_0(a)$.
|
||
\end{itemize}
|
||
Ich behaupte, dass die Wege $γ_0$ und $\wtilde{γ}_1$ homotop sind. Dazu
|
||
konstruiere eine Homotopie, also eine stetige Familie von Wegen, die $γ_0$ in
|
||
$\wtilde{γ}_1$ überführt. Für jeden Parameterwert $s ∈ [0, 1]$ definieren wir
|
||
den Weg
|
||
\[
|
||
\wtilde{γ}_s : [a,b] → U,
|
||
\]
|
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der Folgendes macht:
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\begin{itemize}
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\item Er beginnt bei $γ_0(a)$,
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\item folgt dem Weg $δ$ bis zu $Γ(a,s)$,
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\item folgt dann dem Weg $Γ(•, s)$ bis zu $Γ(b,s)$,
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\item folgt dann dem Weg $δ$ zurück bis zu $γ_0(a)$.
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\end{itemize}
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Die Abbildung
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\[
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\wtilde{Γ} : [a,b] ⨯ [0,1] → U, \quad (t,s) ↦ \wtilde{γ}_s(t)
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\]
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definiert dann die gesuchte Homotopie zwischen den Wegen $γ_0$ und
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$\wtilde{γ}_1$. Nach Satz~\ref{satz:4-3-1} gilt daher
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\[
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\int_{γ_0} f(z) \, dz = \int_{\wtilde{γ}_1} f(z) \, dz = \int_{γ_1} f(z) \, dz.
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\]
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Die letzte Gleichung folgt unmittelbar aus der Definition des Wegintegrals
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über stetige Wege (Definition~\ref{def:4-1-5}) und der Tatsache, dass die
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Wegintegrale über den Hin- und Rückweg entlang von $δ$ sich aufheben.
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\end{proof}
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\section{Anwendung: Reelle Integration}
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Der Integralsatz von Cauchy kann verwendet werden, um rein reelle Integrale
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auszurechnen, die uns auch schon in der Vorlesung „Analysis II“ interessiert
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hätten. Die Notizen von Andreas Demleitner zur Vorlesung „Funktionentheorie“
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aus dem Jahr 2022 sind so gut, dass ich die Seiten hier einfach wiedergebe.
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\begin{center}
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\noindent\includegraphics[width=14cm]{04-integration-1.png}
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\noindent\includegraphics[width=14cm]{04-integration-2.png}
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\noindent\includegraphics[width=14cm]{04-integration-3.png}
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\end{center}
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% !TEX root = Funktionentheorie
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