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Funktionentheorie/03-wegintegrale.tex
Stefan Kebekus 41eb09a44c Working
2025-10-15 15:31:07 +02:00

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\chapter{Wegintegrale}
\section{Integration von vektorwertigen Funktionen}
In diesem Abschnitt ist $[a,b]$ stets ein nicht leeres, kompaktes Intervall.
Weiter sei $V$ ein reeller, endlich-dimensionaler Vektorraum.
\begin{definition}[Integration von Funktionen mit Werten im $^n$]\label{def:3-1-1}%
Gegeben eine stetige Abbildung $f: [a,b]^n$, dann definiert man
\[
\int_a^b f(t) \, dt ∈ ^n
\]
durch komponentenweise Integration.
\end{definition}
\begin{definition}[Integration von vektorwertigen Funktionen]
Gegeben eine stetige Abbildung $f: [a,b] → V$, dann wählt man eine Basis von
$V$ mit $^n$ zu identifizieren, definiert $\int_a^b f(t) \, dt$ mithilfe von
Definition~\ref{def:3-1-1} und rechnet nach, dass das Ergebnis nicht von der
Wahl der Basis abhängt.
\end{definition}
\begin{bsp}
Es ist
\[
\int_0^{2π} \exp(i · t) \, dt = \begin{pmatrix} \int_0^{2π} \cos(t) \, dt \\ \int_0^{2π} \sin(t) \, dt \end{pmatrix} = 0.
\]
\end{bsp}
Die folgenden Aussagen sollten Ihnen aus den Analysis-Vorlesungen bekannt sein.
\begin{prop}
Sei $f: [a,b] → V$ stetig. Dann gilt Folgendes.
\begin{enumerate}
\item Für jedes $c ∈ (a,b)$ gilt $\int_a^b f(t) \, dt = \int_a^c f(t) \, dt +
\int_c^b f(t) \, dt$.
\item Wenn $W$ reell-dimensionaler $$-Vektorraum ist und $φ: V → W$ linear,
dann ist
\[
\int_a^b (φ ◦ f)(t) \, dt = φ \left( \int_a^b f(t) \, dt \right).
\]
\item Wenn $f \equiv \vec{v}$ konstant ist, dann ist $\int_a^b f(t) \, dt =
(b-a) · \vec{v}$
\item Für jede Norm auf $V$ gilt $\left\| \int_a^b f(t) \, dt \right\|
\int_a^b \|f(t)\| \, dt.$ \qed
\end{enumerate}
\end{prop}
\begin{definition}[Stammfunktionen]
Sei $f: [a,b] → V$ stetig. Eine Abbildung $F: [a,b] → V$ heißt
Stammfunktion\index{Stammfunktion} von $f$, falls $F$ differenzierbar ist und
die Gleichung $F' = f$ gilt.
\end{definition}
\begin{satz}[Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung]
Sei $f: [a,b] → V$ stetig. Dann ist
\[
F: [a,b] → V, \quad t ↦ \int_a^t f(u) \, du
\]
eine Stammfunktion \qed
\end{satz}
\begin{satz}[Eindeutigkeit von Stammfunktionen]
Zwei Stammfunktionen unterscheiden sich nur um eine Konstante \qed
\end{satz}
\begin{satz}[Integrale und Stammfunktionen]
Sei $f: [a,b] → V$ stetig und $F$ eine Stammfunktion. Dann ist
\[
\int_a^b f(t) \, dt = F(b) - F(a). \eqno\qed
\]
\end{satz}
\begin{satz}[Integrale und Stammfunktionen]
Sei $f: [a,b] → V$ stetig und $F$ eine Stammfunktion. Dann ist
\[
\int_a^b f(t) \, dt = F(b) - F(a). \eqno\qed
\]
\end{satz}
\sideremark{Vorlesung 4}
\begin{bsp}[Integrale und Stammfunktionen]
Durch die Formel $\frac{1}{i} \exp(it)$ ist eine Stammfunktion von $\exp(it)$
gegeben. Also ist
\[
\int_0^{2π} \exp(it) \, dt = \frac{1}{i} \left( \exp(2πi) - \exp(2πi · 0) \right) = 0.
\]
\end{bsp}
\subsection{Rechenregeln zur Integration}
\begin{satz}[Substitution]\label{satz:substitution}%
Es sei $[α]$ nicht leer und kompakt, und $γ: [α][a,b]$ sei
differenzierbar. Dann ist
\[
\int_{γ(α)}^{γ(β)} f(t) \, dt = \int_α^β f(γ(s)) · γ'(s) \, ds. \qed
\]
\end{satz}
\begin{satz}[Ableiten unter dem Integral]\label{satz:ableiten-integral}%
Es sei $U ⊂ $ offen, und es sei $(f_t)_{t ∈ [a,b]}$ eine Familie von
holomorphen Funktionen. Falls die Abbildung
\[
f: U [a,b], \quad (z,t) ↦ f_t(z)
\]
und
\[
\frac{∂f}{∂z}: U [a,b], \quad (z,t)\frac{∂f_t}{∂z}(z)
\]
beide stetig sind, dann ist die Abbildung
\[
F: U → , \quad z ↦ \int_0^b f_t(z) \, dt
\]
holomorph und
\[
\frac{dF}{dz}(z) = \int_0^b \frac{∂f_t}{∂z}(z) \, dt. \eqno\qed
\]
\end{satz}
\begin{satz}[Hausaufgabe]
Partielle Integration funktioniert so, wie man denkt.
\end{satz}
\begin{satz}[Hausaufgabe]
Partialbruchzerlegung funktioniert so, wie man denkt:
\[
\frac{1}{1 +} = \frac{i/2}{x+i} + \frac{-i/2}{x-i}.
\]
\end{satz}
\section{Wegintegrale}
\begin{definition}[Wegintegrale]\label{def:3-2-1}%
Sei $U ⊂ $ offen und sei $f: U → $ holomorph. Weiter sei $γ: [a,b] → U$ ein
stetig differenzierbarer Weg. Dann definiert man das
\emph{Wegintegral}\index{Wegintegral} als
\[
\int_γ f(z) \, dz := \int_a^b f(γ(t)) · γ'(t) \, dt.
\]
\end{definition}
\begin{bsp}[Wegintegral]\label{bsp:3-2-2}%
Es sei $U = ^*$ und es sei $f(z) = z^n$. Weiter betrachten wir den Weg
\[
γ: [0,2π]^*, \quad t ↦ r\exp(it),
\]
der einen Kreis mit Radius $r$ um den Nullpunkt beschreibt. Dann ist
\begin{align*}
\int_γ f(z) \, dz &= \int_0^{} \left[ r · \exp(it) \right]^n · ri · \exp(it) \, dt \\
&= i · \int_0^{} r^{n+1} · \exp\bigl((n+1)it\bigr) \, dt \\
&= \begin{cases}
0 & \text{falls } n ≠ -1 \\
2πi & \text{falls } n = -1.
\end{cases}
\end{align*}
\end{bsp}
\begin{erg}[Wegintegrale über stückweise stetig differenzierbare Wegs]
Manchmal ist es günstig, auch stückweise stetig differenzierbare Wege
zuzulassen: Sei $U ⊂ $ offen, sei $f ∈ 𝒪(U)$, und sei $γ: [a,b] → U$
stückweise stetig differenzierbar. Dann definiert man
\[
\int_γ f(z) \, dz
\]
als Summe der Integrale über die (endlich vielen) stetig differenzierbaren
Teilwege.
\end{erg}
\subsection{Elementare Fakten zur Wegintegration}
\begin{prop}[Umkehrung des Weges]
In der Situation von Definition~\ref{def:3-2-1} sei $\overline{γ}: [a,b] → U$
derselbe Weg wie $γ$, nur umgekehrt durchlaufen: $\overline{γ}(t) = γ(b+a-t)$.
Dann ist
\[
\int_{\overline{γ}} f(z) \, dz = - \int_γ f(z) \, dz. \eqno\qed
\]
\end{prop}
\begin{prop}[Unabhängigkeit von der Parametrisierung]
In der Situation von Definition~\ref{def:3-2-1} sei $δ : [c, d][a,b]$
stetig differenzierbar mit $δ(c) = a$ und $δ(d) = b$. Dann ist
\[
\int_{γ ◦ δ} f(z) \, dz = \int_γ f(z) \, dz.
\]
\end{prop}
\begin{proof}
Um die Notation zu entwickeln, schreibe
\[
φ: [a,b], \quad φ(t) = f(γ(t)) · γ'(t).
\]
Dann
\begin{align*}
\int_γ f(z) \, dz &= \int_a^b f(γ(t)) · γ'(t) \, dt = \int_a^b φ(t) \, dt \\
&= \int_c^d φ(δ(s)) · δ'(s) \, ds && \text{Substitutionsregel} \\
&= \int_c^d f\bigl((γ ◦ δ)(s)\bigr) · γ'(δ(s)) · δ'(s) \, ds \\
&= \int_c^d f\bigl((γ ◦ δ)(s)\bigr) · (γ ◦ δ)' \, ds && \text{reell-komplexe Kettenregel} \\
&= \int_{γ ◦ δ} f(z) \, dz. && \qedhere
\end{align*}
\end{proof}
\begin{beobachtung}[Abschätzungen]
Wir bleiben in der Situation von Definition~\ref{def:3-2-1} und erinnern uns
daran, dass die Länge des Weges $γ$ durch die Formel
\[
L(γ) := \int_0^b |γ'(t)| \, dt
\]
gegeben ist. Damit erhalten wir die Abschätzung
\[
\left| \int_γ f(z) \, dz \right| ≤ \int_a^b |f(γ(t))| · |γ'(t)| \, dt ≤ \sup_{t ∈ [a,b]} |f(γ(t))| · L(γ).
\]
\end{beobachtung}
\subsection{Wegintegrale und Stammfunktionen}
\begin{definition}[Stammfunktion]
Sei $U ⊂ $ offen und $f: U → $ stetig. Eine holomorphe Funktion $F: U → $
heißt \emph{Stammfunktion}\index{Stammfunktion} von $f$, wenn $F' = f$ ist.
\end{definition}
Wir haben zwei Begriffe von Stammfunktionen: einmal für Funktionen auf reellen
Intervallen $φ: [a,b]$, einmal für Funktionen $φ: U → $ auf offenen Mengen
von $$. Die Begriffe hängen offenbar zusammen.
\begin{beobachtung}
Es sei $U ⊂ $ offen, es sei $f: U → $ stetig mit Stammfunktion $F: U → $.
Weiter sei $γ: [a,b] → U$ stetig differenzierbar. Dann ist
\begin{align*}
(F ◦ γ)' & = (F' ◦ γ) · γ' && \text{reell-komplexe Kettenregel} \\
& = (f ◦ γ) · γ' && F ◦ γ \text{ ist Stammfunktion auf } [a,b] \text{ von } (f ◦ γ) · γ'.
\end{align*}
Also gilt nach dem Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung
\[
\int_γ f(z) \, dz = \int_a^b [f ◦ γ(t)] · γ'(t) \, dt = [F ◦ γ](b) - [F ◦ γ](a).
\]
\end{beobachtung}
\begin{kons}[Wegintegrale bei Existenz von Stammfunktionen]
Wenn in der Situation von Definition~\ref{def:3-2-1} eine Stammfunktion von
$f$ existiert, dann hängt das Wegintegral $\int_γ f(z) \, dz$ nur vom Start-
und Endpunkt des Weges ab, aber nicht vom Weg selbst. Insbesondere gilt: Wenn
$γ$ ein geschlossener Weg ist (d.h.~Startpunkt = Endpunkt), dann ist $\int_γ
f(z) \, dz = 0$.
\end{kons}
\begin{bsp}[Wegintegrale bei Existenz von Stammfunktionen]
Betrachte die Situation von Beispiel~\ref{bsp:3-2-2}. Für $n ≠ -1$ ist
$\frac{1}{n+1} · z^{n+1}$ eine Stammfunktion von $z^n$. Also ist für $n ≠ -1$
das Integral
\[
\int_γ z^n \, dz = 0, \quad \text{wo } γ: [0,2π]^*, \quad t ↦ \exp(it).
\]
Für $n = -1$ gibt es keine auf ganz $^*$ definierte Stammfunktion, denn das
wäre der Logarithmus.
\end{bsp}
\begin{kons}[Funktionen mit verschwindender Ableitung]\label{kons:3-2-11}%
Sei $U ⊂ $ offen und sei $f: U → $ holomorph mit $f' \equiv 0$. Dann ist
$f$ lokal konstant.
\end{kons}
Vor dem Beweis der Konsequenz~\ref{kons:3-2-11} erinnere ich an zwei elementare
Fakten der Analysis und Topologie.
\begin{fakt}[Zerlegung in Zusammenhangskomponenten]\label{fakt:3-2-12}%
Sei $U ⊂ $ offen. Dann kann ich $U$ auf eindeutige Weise schreiben als
\[
U = \bigcup_{α ∈ A} U_α,
\]
wobei die Teilmengen $U_α$ offen, zusammenhängend und disjunkt sind.
\qed
\end{fakt}
\begin{fakt}[Zusammenhang und Wegzusammenhang]\label{fakt:3-2-13}%
Wenn $U ⊂ $ offen und zusammenhängend ist, und wenn $z_1, z_2 ∈ U$ sind, dann
gibt es einen stetig differenzierbaren Weg $γ: [0,1] → U$ mit $γ(0) = z_1$ und
$γ(1) = z_2$. \qed
\end{fakt}
\begin{proof}[Beweis von Konsequenz~\ref{kons:3-2-11}]
Nach Fakt~\ref{fakt:3-2-12} können wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit
annehmen, dass die offene Menge $U$ zusammenhängend ist. Seien nun zwei
Punkte $z_1, z_2 ∈ U$ gegeben. Nach Fakt~\ref{fakt:3-2-13} gibt es einen
stetig differenzierbaren Weg $γ: [0,1] → U$ mit $γ(0) = z_1$ und $γ'(0) =
z_2$. Dann ist aber
\[
f(z_2) - f(z_1) = \int_γ f'(z) \, dz = \int_{γ} 0 \, dz = 0. \qed
\]
\end{proof}
% !TEX root = Funktionentheorie