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Stefan Kebekus
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\chapter{Anwendungen der Laurentreihenentwicklung}
\section{Charakterisierung von Singularitäten}
Wir haben im Abschnitt~\ref{sec:9} drei Typen von isolierten Singularitäten
definiert. Mithilfe der Laurentreihenentwicklung können wir diese Typen jetzt
charakterisieren.
\begin{beobachtung}[Holomorphe Funktionen mit Singularitäten]\label{beo:9-2-10}%
Es sei $U ⊆ $ offen und es sei $f$ eine holomorphe Funktion mit isolierten
Singularitäten auf $U$. Es sei $T ⊂ U$ die Menge der Singularitäten und sei
$ρ ∈ T$ sei eine der isolierte Singularitäten. Um das Verhalten von $f$ bei
$ρ$ zu verstehen, entwickle $f$ bei $ρ$ in eine Laurentreihe. Genauer: wähle
eine Zahl $ε > 0$, sodass $ρ$ die einzige Singularität von $f$ in der
Kreisscheibe $B_{ε}(ρ)$ ist, also
\[
B_{ε}(p) ∩ T = \{ρ\}.
\]
Betrachte dann den Kreisring
\[
K_{\frac{ε}{2}}(ρ) = \{ z ∈ \::\: \frac{ε}{2} < |z - ρ| < ε \}.
\]
Nach Satz~\ref{satz:9-2-8} („Laurentreihenentwicklung“) gibt es eine auf
$K_{\frac{ε}{2}}(ρ)$ lokal gleichmäßig konvergierende Laurentreihe $\sum c_i
(z - p)$, deren Grenzfunktion auf $K_{\frac{ε}{2}}(ρ)$ mit $f$
übereinstimmt. Dann gilt Folgendes.
\begin{enumerate}
\item Der Punkt $ρ$ ist genau dann eine hebbare Singularität von $f$, wenn
der Hauptteil gleich null ist.
\item Der Punkt $ρ$ ist genau dann eine Polstelle von $f$, wenn der
Hauptteil nur endlich viele Summanden hat.
\item Der Punkt $ρ$ ist genau dann eine wesentliche Singularität von $f$,
wenn der Hauptteil unendlich viele Summanden hat.
\end{enumerate}
\end{beobachtung}
\begin{bsp}[Funktion mit wesentlicher Singularität]\label{bsp:9-2-11}%
Die Funktion
\[
f : \{0\}, \quad z ↦ \exp\left(\frac{1}{z}\right)
\]
ist durch die Laurentreihe
\[
f(z) = \sum_{k=-}\frac{1}{|k|!} z^k
\]
gegeben und hat deshalb in $0$ eine wesentliche Singularität.
\end{bsp}
\section{Automorphismen der komplexen Ebene}
Ähnlich wie im Abschnitt~\ref{sec:7-3} möchte ich die Stärke der
funktionentheoretischen Methoden demonstrieren, indem ich die Automorphismen der
komplexen Ebene bestimme.
\begin{frage}
Was sind die biholomorphen Selbstabbildungen $$?
\end{frage}
Einige Beispiele und Nicht-Beispiele sind und bereits bekannt.
\begin{bsp}[Affin-lineare Abbildungen]
Für alle $a,b ∈ $ mit $a ≠ 0$ ist die Abbildung
\[
f : , \quad z ↦ az + b
\]
biholomorph.
\end{bsp}
\begin{beobachtung}[Komposition mit Translationen]\label{beob:9-3-3}%
Gegeben irgendeine biholomorphe Abbildung $f : $, so ist die Abbildung
\[
f - f(0) :
\]
ebenfalls biholomorph und bildet die Null auf null ab.
\end{beobachtung}
\begin{bsp}[Polynome höheren Grades]
Polynome vom Grad $2$ sind ganz bestimmt keine Automorphismen, denn jedes
Polynom $f ∈ [z]$ zerfällt in Linearfaktoren
\[
f(z) = λ (z - a_1)(z - a_2)(z - a_n).
\]
\begin{itemize}
\item Wenn zwei der $a_$ gleich sind, dann hat $f$ eine mehrfache
Nullstelle. Die Ableitung $f'$ verschwindet dort. Aber biholomorphe
Abbildungen haben nach dem Satz über die lokale Umkehrbarkeit nirgends
eine verschwindende Ableitung.
\item Wenn alle $a_$ verschieden sind, dann hat $f$ mindestens zwei
verschiedene Nullstellen. Also ist $f$ nicht injektiv.
\end{itemize}
\end{bsp}
\begin{bsp}[Potenzreihen mit unendlich vielen Summanden]\label{bsp:9-3-5}%
Ich behaupte, dass Potenzreihen mit unendlich vielen Summanden ebenfalls
\emph{keine} Automorphismen der komplexen Ebene sind. Dazu führe ich einen
Widerspruchsbeweis. Angenommen, es gäbe einen Automorphismus $f : $ der
durch eine Potenzreihe
\[
f(z) = \sum a_i zⁱ
\]
mit unendlich vielen Summanden gegeben ist. Nach Beobachtung~\ref{beob:9-3-3}
können wir ohne Einschränkung annehmen, dass $a_0 = 0$ ist, also $f(0) = 0$.
Insbesondere bildet $f$ die Menge $^*$ biholomorph auf sich selbst ab.
Aber: die Menge $^*$ hat einen interessanten Automorphismus, nämlich
\[
j : ^*^*, \quad z ↦ z^{-1}.
\]
Die Abbildung $f ◦ j : ^*^*$ ist dann auch holomorph und bijektiv, und
kann als holomorphe Funktion mit Pol bei $0$ aufgefasst werden. Die
Laurentreihe von $f ◦ j$ ergibt sich sehr einfach aus der Laurentreihe von
$f$,
\[
f ◦ j = \sum a_i z^{-i}.
\]
Ich stelle fest: Der Hauptteil dieser Laurentreihe hat unendlich viele
Summanden. Wie ist in Beobachtung~\ref{beo:9-2-10} gesehen haben, bedeutet
das Folgendes: wenn ich $f ◦ j$ als Funktion mit isolierter Singularität
auffasse, dann hat $f ◦ j$ hat bei $0$ eine wesentliche Singularität.
Ich behaupte, dass $f ◦ j$ dann aber nicht bijektiv sein kann. Betrachte dazu
die Kreisscheibe $B_{1/2}(1)^*$. Wir wissen, dass die Bildmenge $(f ◦ j)
\left(B_{1/2}(0)\right)$ eine offene Teilmenge von $^*$ ist.
Es gilt aber auch noch Satz~\ref{satz:9-1-casorati-weierstrass}
(„Casorati-Weierstraß“). Demnach ist die Bildmenge
\[
(f ◦ j) \left(B_{1/2}(0) \{0\}\right)
\]
dicht, schneidet also $(f ◦ j) \left(B_{1/2}(0)\right)$ in mindestens einem
Punkt. Dieser Punkt hat demnach zwei Urbilder, nämlich eines in $B_{1/2}(1)$
und eines $B_{1/2}(0) \{0\}$. Also ist $f ◦ j$ tatsächlich nicht injektiv!
\end{bsp}
\begin{bemerkung}
Die Argumentation aus Beispiel~\ref{bsp:9-3-5} zeigt in Wirklichkeit, dass
holomorphe Funktionen mit essenziellen Singularitäten niemals injektiv sind.
\end{bemerkung}
In der Summe haben wir folgenden Satz bewiesen.
\begin{satz}[Automorphismen der komplexen Ebene]\label{satz:9-3-6}%
Jede biholomorphe Abbildung $f : $ ist von der Form
\[
f(z) = az + b
\]
für gewisse $a,b ∈ $ mit $a ≠ 0$. \qed
\end{satz}
\section{Funktionen mit vorgeschriebenen Singularitäten}
\sideremark{Vorlesung 14}
\begin{frage}[Funktionen mit vorgeschriebenen Singularitäten, vereinfachte Fragestellung]\label{fr:11-3-1}%
Sei $P ⊂ $ eine abgeschlossene und diskrete Teilmenge. Gibt es eine Funktion
$f ∈ 𝒪( P)$, sodass $f$ in jedem Punkt von $P$ einen Pol oder eine
wesentliche Singularität hat?
\end{frage}
\begin{bemerkung}[Naiver Ansatz]
Wenn die Menge $P$ aus Frage~\ref{fr:11-3-1} endlich ist, ist das alles kein
Hexenwerk. Wir können zum Beispiel die Funktion
\[
f(z) = \sum_{p ∈ P} \frac{1}{z-p} \quad \text{oder} \quad f(z) = \sum_{p ∈ P} \exp\left(\frac{1}{z-p}\right) \quad \text{oder} \quad \dots
\]
nehmen. Aber was, wenn die Menge $P$ unendlich ist? Kann man dann unendliche
Summen nehmen? Wie garantieren wir deren Konvergenz?
\end{bemerkung}
Der folgende Satz beantwortet Frage~\ref{fr:11-3-1} vollständig. Der Satz
erlaubt sogar, die Hauptteile der $f$ für jeden Punkt $p ∈ P$ einen vorzugeben.
\begin{satz}[Mittag-Leffler\footnote{Magnus Gösta Mittag-Leffler, genannt Gösta,
(* 16.~März 1846 in Stockholm; † 7.~Juli 1927 in Djursholm[1]) war ein
schwedischer Mathematiker, der sich vor allem mit Analysis
beschäftigte.}]\label{satz:mittag-leffler}%
\index{Satz von Mittag-Leffler}Sei $P ⊂ $ eine abgeschlossene, diskrete
Teilmenge. Für jedes $p ∈ P$ sei eine Laurentreihe $f_p$ mit
Entwicklungspunkt $p$ gegeben, die auf $K_{0,∞}(p) = \{p\}$ konvergiert.
Dann gibt es eine Funktion $f ∈ 𝒪( P)$, sodass für jeden Punkt $p ∈ P$
gilt: Die Laurententwicklung von $f$ am Punkt $p$ hat denselben Hauptteil wie
die Laurentreihe $f_p$.
\end{satz}
\begin{bemerkung}
Satz~\ref{satz:mittag-leffler} ist nicht optimal. Es gibt allgemeinere
Versionen, bei denen zum Beispiel statt $$ nur durch eine offene Menge $U ⊆
$ betrachtet wird.
\end{bemerkung}
\begin{proof}
Falls die Menge $P$ endlich ist, so können wir einfach $f(z) = \sum_{p ∈ P}
f_p(z)$ nehmen. Im Folgenden nehmen wir also ohne Beschränkung der
Allgemeinheit an, dass die Menge $P$ unendlich ist. Der Einfachheit halber
nehmen wir zusätzlich noch an, dass die Menge $P$ den Nullpunkt nicht enthält.
Um die Notation zu vereinfachen, schreiben wir für jeden Punkt $p ∈ P$ die
$h_p$ für den Hauptteil der Laurentreihe $f_p$. Dies ist eine Laurentreihe
mit trivialem Nebenteil, die auf ganz $ \{p\}$ konvergiert.
\paragraph*{Schritt 1}
Um das Problem von Mittag-Leffler auf den endlichen Fall zurückzuführen,
beachte, dass für jede kompakte Menge $K ⊂ $ nur endlich viele $p ∈ P$ in $K$
liegen. Dies gilt, weil die Menge $P$ diskret ist. Wir nutzen dies, und
zerlegen die Menge $P$ in Teilmengen der Form wie folgt.
\begin{center}
\includegraphics[width=8cm]{10-mittagLeffler.png}
\end{center}
Gegeben eine natürliche Zahl $n ∈ $, dann ist die Summe der Hauptteile,
\[
S_n := \sum_{n ≤ |p| < n+1} h_p,
\]
eine endliche Summe von Laurentreihen\footnote{Wobei $h_p$ jeweils auf ganz $
\{p\}$ konvergiert} und deshalb selbst eine Laurentreihe die auf ganz
\[
\{ p ∈ P \::\: n ≤ |p| < n+1\}
\]
konvergiert. Wir erhalten also eine Funktion, die wir (nicht ganz korrekt)
wieder mit $S_n$ bezeichnen,
\[
S_n : \underbrace{ \{ p ∈ P \::\: n ≤ |p| < n+1\}}_{\text{enthält die gesamte offene Kreisscheibe }B_n(0)}.
\]
\paragraph*{Schritt 2}
Beachte, dass die Funktion $S_n$ auf der Kreisscheibe $B_n(0)$ holomorph ist,
weil dort keine der Singularitäten liegen. Wir können die Funktion $S_n$
deshalb am Nullpunkt in eine Potenzreihe entwickeln, deren Konvergenzradius
mindestens $n$ ist. Aufgrund der lokal gleichmäßigen Konvergenz dieser
Potenzreihe wird die Folge der Partialsummen auf der kompakten Kreisscheibe
$\overline{B_{n-1}(0)}$ gleichmäßig gegen $S_n$ konvergieren. Wir finden also
für jedes $n ≥ 1$ ein Polynom $Q_n$, sodass
\begin{equation}\label{eq:11-3-4-1}%
\forall z ∈ B_{n-1}(0) : |S_n(z) - Q_n(z)| ≤ 2^{-n}
\end{equation}
gilt.
\paragraph*{Schritt 3}
Definiere jetzt die Funktionenfolge
\[
f_m : P → , \quad z ↦ \sum_{n=1}^m (S_n(z) - Q_n(z)).
\]
Damit gilt schon einmal Folgendes.
\begin{enumerate}
\item\label{il:11-3-4-1} Für jedes $m$ ist die Funktion $f_m$ auf $ P$
holomorph, weil sie als endliche Summe von holomorphen Funktionen
dargestellt ist.
\item\label{il:11-3-4-2} Für jeden Punkt $p ∈ P$ und jedes $m > |p|$ hat die
Funktion $f_m$ bei $p$ denselben Hauptteil wie die Laurentreihe $f_p$,
weil die Polynome $Q_n$ nichts an den Hauptteilen in $p ∈ P$ ändern.
\end{enumerate}
Falls wir zeigen können, dass die Funktionenfolge $f_m$ auf $ P$ lokal
gleichmäßig gegen eine Funktion $f$ konvergiert, sind wir fertig. Der Grund
ist der Folgende.
\begin{enumerate}
\item Als Grenzfunktion einer lokal gleichmäßig konvergierenden Folge
holomorpher Funktionen ist $f$ nach
Proposition~\vref{prop:potenzreihe-holomorph} wieder holomorph.
\item Nach \ref{il:11-3-4-2} und Korollar~\ref{kor:10-2-7} hat die
Laurentreihe von $f$ bei jedem Punkt $p ∈ P$ hat denselben Hauptteil wie
die Laurentreihe $f_p$.
\end{enumerate}
\paragraph*{Schritt 4}
Um die lokal gleichmäßige Konvergenz zu zeigen, sei ein Punkt $z_0 P$
gegeben. Wir müssen eine Umgebung dieses Punktes finden, auf der die Folge
$f_m$ gleichmäßig konvergiert. Wähle dazu eine Zahl $n ∈ $ mit $n > |z_0|$
und betrachte die Umgebung $B_n(z_0) P$. Für jedes $z ∈ B_n(z_0) P$ gilt
dann:
\begin{align*}
|f(z) - f_m(z)| &= \left| \sum_{n=m+1}^∞ (S_n(z) - Q_n(z)) \right| \\
&\sum_{n=m+1}^∞ |S_n(z) - Q_n(z)| && \text{Dreiecks-Ungleichung} \\
&\sum_{n=m+1}^∞ 2^{-n} && \text{\eqref{eq:11-3-4-1}} \\
& = 2 - \frac{1-(\frac{1}{2})^{m+1}}{1-\frac{1}{2}} = \left(\frac{1}{2}\right)^{m+1}.
\end{align*}
Damit ist die gleichmäßige Konvergenz von $f_m$ auf $B_n(z_0) P$ gezeigt.
\end{proof}
% !TEX root = Funktionentheorie