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@@ -2,9 +2,9 @@
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\selectlanguage{german}
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\chapter{Singuläre Stellen holomorpher Funktionen}
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\label{sec:9}%
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\section{Isolierte Singularitäten}
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\label{sec:9-1}%
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Wir interessieren uns für die folgende Situation: Sei $U ⊂ ℂ$ ein Gebiet, sei $ρ
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∈ U$ ein Punkt. Gegeben eine holomorphe Funktion $f ∈ 𝒪(U ∖ ρ)$. Was kann ich
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@@ -57,6 +57,9 @@ Wir interessieren uns für die folgende Situation: Sei $U ⊂ ℂ$ ein Gebiet, s
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\end{enumerate}
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\end{definition}
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\section{Hebbare Singularitäten}
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\begin{satz}[Hebbarkeitsatz von Riemann]\label{satz:9-1-hebbarkeit}%
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\index{Hebbarkeitsatz von Riemann}In der Situation von
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Definition~\ref{def:9-1-1} sei $ρ ∈ T$. Falls die Funktion $|f|$ in der Nähe
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@@ -91,13 +94,13 @@ Wir interessieren uns für die folgende Situation: Sei $U ⊂ ℂ$ ein Gebiet, s
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$ℝ²$ überhaupt nicht differenzierbar.
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\end{bemerkung}
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\begin{frage}
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Was kann ich über Beiträge von Funktionen mit Polstelle sagen?
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\end{frage}
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Als Antwort eine Beispielrechnung.
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\section{Polstellen}
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\begin{rem}[Beispielrechnung zu Funktionen mit Polstellen]
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Was kann ich über Beiträge von Funktionen mit Polstelle sagen? Als Antwort eine
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Beispielrechnung.
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\begin{rem}[Beispielrechnung zu Funktionen mit Polstellen]\label{bsp:9-3-1}%
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In der Situation von Definition~\ref{def:9-1-1} sei $ρ ∈ T$ eine Polstelle der
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Ordnung $n > 0$ hat. Also gibt es eine Zahl $ε > 0$ und eine holomorphe
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Funktion $g ∈ 𝒪(B_ε(ρ))$, sodass folgendes gilt.
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@@ -128,9 +131,14 @@ Pol, dann gilt für jedes $M ∈ ℝ⁺$ und alle ausreichend kleinen $ε > 0$.
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\item Für jedes $z ∈ B_ε(ρ) ∖ \{ρ\}$ ist $|f(z)| > M$.
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\end{enumerate}
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Die Funktionswerte von $f$ explodieren also betragsmäßig, wenn ich mich dem
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Punkt $ρ$ annähere. Auf jeden Fall sind die Funktionswerte von $0$ weg
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beschränkt. \textbf{Das ist bei wesentlichen Singularitäten ganz anders!}
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\section{Wesentliche Singularitäten}
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Beispielrechnung~\ref{bsp:9-3-1} zeigt, dass die Funktionswerte von $f$
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betragsmäßig explodieren, wenn ich mich einer Polstelle annähere. Auf jeden
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Fall sind die Funktionswerte in der Nähe der Polstelle von $0$ weg beschränkt.
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\textbf{Das ist bei wesentlichen Singularitäten ganz anders!}
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\begin{satz}[Satz von Casorati\footnote{Felice Casorati (* 17.~Dezember 1835 in
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Pavia; † 11.~September 1890 in Casteggio) war ein italienischer
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@@ -174,327 +182,4 @@ beschränkt. \textbf{Das ist bei wesentlichen Singularitäten ganz anders!}
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deshalb keine wesentlichen Singularitäten hat.
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\end{proof}
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\section{Entwicklung in Laurentreihen}
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\sideremark{Vorlesung 13}
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In Kapitel~\ref{chap:6} haben wir gesehen, dass holomorphe Funktionen auf
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Kreisscheiben Potenzreihenentwicklungen besitzen. Wir wollen jetzt einen
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ähnlichen Satz für holomorphe Funktionen auf Kreisringen beweisen. Dazu
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verwenden wir denselben Trick wie bei der Potenzreihenentwicklung.
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\begin{bemerkung}[Erinnerung]
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Gegeben Kreisscheibe $B_r(0)$ und $f ∈ 𝒪(B_r(0))$, dann wähle $0 < ρ < r$.
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Nach Satz~\vref{satz:4-4-1} („Integralformel von Cauchy“) gilt für alle $w ∈
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B_{ρ}(0)$
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\[
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f(w) = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_{ρ}(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz.
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\]
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Schreibe
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\[
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\frac{1}{z - w} = \frac{1}{z} · \frac{1}{1 - w/z} = \frac{1}{z} · \sum_{i=0}^∞ \left(\frac{w}{z}\right)ⁱ,
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\]
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und setze dies in das Integral ein. Vertausche Integral und Summe und erhalte
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eine Potenzreihendarstellung von $f$.
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\end{bemerkung}
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So etwas wollen wir jetzt auch für holomorphe Funktionen auf $B_r(0)$ machen,
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die bei $0$ eine Singularität haben. Sogar noch allgemeiner: für Funktionen auf
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Kreisringen.
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\begin{notation}[Kreisring]
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Seien reelle Zahlen $0 < r < R$ gegeben und sei $ρ ∈ ℂ$. Dann sei
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\[
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K_{r,R}(ρ) = \{ z ∈ ℂ \::\: r < |z - ρ| < R \}
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\]
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der offene \emph{Kreisring}\index{Kreisring} um $p$ mit Radien $r$ und $R$.
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\end{notation}
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\begin{situation}[Holomorphe Funktion auf Kreisring]\label{situation:9-2-2}%
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Es seien reelle Zahlen $0 < r < R$ und es sei eine holomorphe Funktion auf dem
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Kreisring $K_{r,R}(0)$ gegeben, $f ∈ 𝒪(K_{r,R}(0))$.
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\end{situation}
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\begin{konstruktion}[Potenzreihenentwicklung auf Kreisring]\label{kons:9-2-4}%
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In Situation~\ref{situation:9-2-2} sei ein Punkt $w ∈ K_{r,R}(0)$ gegeben.
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Dann wähle reelle Zahlen $a$ und $A$ mit
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\[
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r < a < |w| < A < R.
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\]
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und betrachte den in Abbildung~\ref{fig:9-2-1} gezeigten Weg $γ$ in $K_{r,R}(0)$.
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\begin{figure}
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\begin{center}
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\includegraphics[width=10cm]{09-annulus.png}
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\end{center}
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\caption{Wege im Kreisring $K_{r,R}(0)$}
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\label{fig:9-2-1}
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\end{figure}
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Als Erstes werde ich kann den Funktionswert $f(w)$ als Integral über den Weg
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$γ$ ausdrücken. Dazu wähle eine Zahl $ε > 0$, sodass die abgeschlossene
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Kreisscheibe $\overline{B_ε(w)}$ ganz in $K_{a,A}(0)$ liegt. Dann gilt nach
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der Cauchy Integralformel die Gleichung
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\[
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f(w) = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_ε(w)} \frac{f(z)}{z - w} dz.
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\]
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Jetzt beobachte, dass der Weg $γ$ frei homotop zum Weg rund um $∂ B_ε(w)$ ist.
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Also sind nach Satz~\ref{satz:4-3-6} („Invarianz von Wegintegralen unter
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freier Homotopie“) die Integrale über diese Wege gleich,
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\begin{align*}
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f(w) & = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_ε(w)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz \\
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||||
& = \frac{1}{2π i} \int_{γ} \frac{f(z)}{z - w} \, dz \\
|
||||
& = \frac{1}{2π i} \left[ \int_{∂ B_A(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz - \int_{∂ B_a(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz \right].
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||||
\end{align*}
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Jetzt wenden wir den Trick mit der geometrischen Reihe zweimal an.
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\begin{itemize}
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\item Für alle $z ∈ ∂ B_A(0)$ und alle $w ∈ K_{r,A}(0)$ ist
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\[
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\frac{f(z)}{z - w} = \frac{f(z)}{z} · \sum \left(\frac{w}{z}\right)ⁱ
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\]
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||||
und deshalb
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\[
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||||
\int_{∂ B_A(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz
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||||
= \sum_{i=0}^∞ \left( \int_{∂ B_A(0)} \frac{f(z)}{z^{i+1}} \, dz \right) · wⁱ.
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\]
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||||
\item Für alle $z ∈ ∂ B_a(0)$ und alle $w ∈ K_{a,R}(0)$ ist
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\[
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||||
\frac{f(z)}{z - w} = \frac{-f(z)}{w - z} = \frac{-f(z)}{w} · \frac{1}{1 - z/w} = \frac{-f(z)}{w} \sum \left(\frac{z}{w}\right)ⁱ
|
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\]
|
||||
und deshalb
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||||
\[
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||||
\int_{∂ B_a(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz = \sum_{i=0}^∞ \left( \int_{∂ B_a} (-f(z) \, zⁱ) \, dz \right) · w^{-(i+1)}.
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\]
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\end{itemize}
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Wie zuvor gilt: Der Wert der Integrale hängen nicht von der Wahl von $a$ und
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$A$ ab und die Reihen konvergieren auf $K_{r,R}(0)$ lokal gleichmäßig.
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Zusammenfassend können wir sagen: Es gibt Familien von komplexen Zahlen
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$(α_i)_{i ∈ ℤ}$, sodass für jedes $w ∈ K_{r,R}(0)$ die folgende Gleichung
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gilt,
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\[
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f(w) = \sum_{i=0}^∞ α_i \, wⁱ + \sum_{i=0}^∞ α_{-(i+1)} \, w^{-(i+1)}.
|
||||
\]
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||||
Beide Reihen konvergieren auf $K_{r,R}(0)$ lokal gleichmäßig, und es gilt
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\[
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||||
f(w) = \lim_{n → ∞} \sum_{i=-n}^n α_i \, wⁱ.
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\]
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Die Konstruktion endet hier.
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\end{konstruktion}
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Die Darstellung von $f$ als „Potenzreihe mit negativen Exponenten“ ist natürlich
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schrecklich wichtig. Sie wird als
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\emph{Laurentreihenentwicklung}\footnote{Pierre Alphonse Laurent (* 18.~Juli
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1813 in Paris; † 2.~September 1854 ebenda) war ein französischer Mathematiker.}
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bezeichnet.
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\begin{definition}[Laurentreihen]\label{def:9-2-5}%
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Eine \emph{Laurentreihe}\index{Laurentreihe} mit Entwicklungspunkt $ρ$ ist ein
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Ausdruck der Form
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\[
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\sum_{i ∈ ℤ} c_i \, (z - ρ)ⁱ.
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\]
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Dabei sind die $c_i$ und $ρ$ komplexe Zahlen.
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\end{definition}
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\begin{definition}[Konvergenz von Laurentreihen]
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Gegeben eine Laurentreihe wie in Definition~\ref{def:9-2-5} und eine
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natürliche Zahl $n$, so bezeichnet man den Ausdruck
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\[
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||||
\sum_{i=-n}^n c_i \, (z - ρ)ⁱ
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\]
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als die \emph{$n$.te Partialsumme}\index{Partialsumme!einer Laurentreihe} der
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Laurentreihe. Man sagt, die Laurentreihe konvergiert für ein $z_0 ∈ ℂ$ gegen
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$g ∈ ℂ$, wenn die Folge $\sum_{i=-n}^n c_i \, (z_0 - p)ⁱ$ gegen $g$
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konvergiert. Man sagt, die Laurentreihe konvergiert auf einer Menge $M ⊆ ℂ$
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lokal gleichmäßig, wenn die Folge der Partialsummen auf $M$ lokal gleichmäßig
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konvergiert.
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\end{definition}
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\begin{definition}[Haupt- und Nebenteil von Laurentreihen]
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Gegeben eine Laurentreihe wie in Definition~\ref{def:9-2-5}, so nennt man die
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Teilreihen
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\[
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\sum_{i=1}^{∞} c_i (z - p)^{-i}
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\quad\text{und}\quad
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||||
\sum_{i=0}^{∞} c_i (z - p)ⁱ
|
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\]
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den \emph{Hauptteil}\index{Hauptteil einer Laurentreihe} und den
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\emph{Nebenteil}\index{Nebenteil einer Laurentreihe} der Laurentreihe.
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\end{definition}
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Konstruktion~\ref{kons:9-2-4} arbeitet mit Kreisringen um den Nullpunkt. Wie
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immer gelten dieselben Aussagen für Kreisringe mit beliebigem Mittelpunkt. Am
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Ende des Tages haben wir Folgendes bewiesen.
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\begin{satz}[Laurentreihenentwicklung]\label{satz:9-2-8}%
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Es sei $ρ ∈ ℂ$ ein Punkt und es seien reelle Zahlen $0 < r < R$
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gegeben. Weiter sei $f ∈ 𝒪(K_{r,R}(p))$ eine auf dem Kreisring
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||||
$K_{r,R}(p)$ holomorphe Funktion. Dann existiert eine auf ganz $K_{r,R}(p)$
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lokal gleichmäßig konvergierende Laurentreihe deren Grenzfunktion mit $f$
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übereinstimmt. Zusätzlich gilt: Haupt- und Nebenteil Laurentreihe konvergieren
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auf $K_{r,R}(p)$ ebenfalls jeweils lokal gleichmäßig. \qed
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\end{satz}
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\begin{kor}[Eindeutigkeit der Laurentreihenentwicklung]
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In der Situation von Satz~\ref{satz:9-2-8} ist die Darstellung von $f$ als
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Laurentreihe eindeutig.
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\end{kor}
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\begin{proof}
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Nach Satz~\ref{satz:9-2-8} gibt es eine Laurentreihe
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\[
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f(z) = \sum_{i ∈ ℤ} c_i (z - ρ)ⁱ
|
||||
\]
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die auf $K_{r,R}(ρ)$ lokal gleichmäßig gegen $f$ konvergiert. Wir wollen
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zeigen, dass die Koeffizienten $c_i$ eindeutig bestimmt sind. Sei dazu eine
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Zahl $n ∈ ℤ$ gegeben. Wir wollen $c_n$ bestimmen. Dazu wähle eine Zahl $r <
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a < R$ und betrachte die folgenden Integrale,
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\begin{multline*}
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\int_{∂ B_a(ρ)} f(z) · (z - ρ)^n \, dz \\
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||||
\begin{aligned}
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||||
& = \int_{∂ B_a(ρ)} \left(\lim_{k → ∞} \sum_{i=-k}^k c_i (z - ρ)ⁱ \right) (z - ρ)^n \, dz && \text{Laurentreihe von } f \\
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||||
& = \lim_{k → ∞} \sum_{i=-k}^k \int_{∂ B_a(ρ)} c_i (z - ρ)^{i+n} \, dz && \text{lokal gleichmäßige Konvergenz} \\
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||||
& = 2π i · c_{-1-n} && \text{Beispiel~\vref{bsp:3-2-2}.}
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||||
\end{aligned}
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\end{multline*}
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Also sind die Koeffizienten der Laurentreihe durch eine Formel gegeben, in der
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nur die Funktion $f$ vorkommt. Also sind die Koeffizienten der Laurentreihe
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eindeutig bestimmt.
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\end{proof}
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Wir haben im Abschnitt~\ref{sec:9-1} drei Typen von isolierten Singularitäten
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definiert. Mithilfe der Laurentreihenentwicklung können wir diese Typen jetzt
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charakterisieren.
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\begin{beobachtung}[Holomorphe Funktionen mit Singularitäten]\label{beo:9-2-10}%
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Es sei $U ⊆ ℂ$ offen und es sei $f$ eine holomorphe Funktion mit isolierten
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Singularitäten auf $U$. Es sei $T ⊂ U$ die Menge der Singularitäten und sei
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$ρ ∈ T$ sei eine der isolierte Singularitäten. Um das Verhalten von $f$ bei
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$ρ$ zu verstehen, entwickle $f$ bei $ρ$ in eine Laurentreihe. Genauer: wähle
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eine Zahl $ε > 0$, sodass $ρ$ die einzige Singularität von $f$ in der
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Kreisscheibe $B_{ε}(ρ)$ ist, also
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\[
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||||
B_{ε}(p) ∩ T = \{ρ\}.
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||||
\]
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||||
Betrachte dann den Kreisring
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||||
\[
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||||
K_{\frac{ε}{2},ε}(ρ) = \{ z ∈ ℂ \::\: \frac{ε}{2} < |z - ρ| < ε \}.
|
||||
\]
|
||||
Nach Satz~\ref{satz:9-2-8} („Laurentreihenentwicklung“) gibt es eine auf
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||||
$K_{\frac{ε}{2},ε}(ρ)$ lokal gleichmäßig konvergierende Laurentreihe $\sum c_i
|
||||
(z - p)ⁱ$, deren Grenzfunktion auf $K_{\frac{ε}{2},ε}(ρ)$ mit $f$
|
||||
übereinstimmt. Dann gilt Folgendes.
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||||
\begin{enumerate}
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||||
\item Der Punkt $ρ$ ist genau dann eine hebbare Singularität von $f$, wenn
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der Hauptteil gleich null ist.
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||||
\item Der Punkt $ρ$ ist genau dann eine Polstelle von $f$, wenn der
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||||
Hauptteil nur endlich viele Summanden hat.
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||||
\item Der Punkt $ρ$ ist genau dann eine wesentliche Singularität von $f$,
|
||||
wenn der Hauptteil unendlich viele Summanden hat.
|
||||
\end{enumerate}
|
||||
\end{beobachtung}
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||||
|
||||
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||||
\section{Automorphismen der komplexen Ebene}
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||||
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||||
Ähnlich wie im Abschnitt~\ref{sec:7-3} möchte ich die Stärke der
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||||
funktionentheoretischen Methoden demonstrieren, indem ich die Automorphismen der
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||||
komplexen Ebene bestimme.
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||||
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||||
\begin{frage}
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||||
Was sind die biholomorphen Selbstabbildungen $ℂ → ℂ$?
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||||
\end{frage}
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||||
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||||
Einige Beispiele und Nicht-Beispiele sind und bereits bekannt.
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||||
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||||
\begin{bsp}[Affin-lineare Abbildungen]
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||||
Für alle $a,b ∈ ℂ$ mit $a ≠ 0$ ist die Abbildung
|
||||
\[
|
||||
f : ℂ → ℂ, \quad z ↦ az + b
|
||||
\]
|
||||
biholomorph.
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||||
\end{bsp}
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||||
|
||||
\begin{beobachtung}[Komposition mit Translationen]\label{beob:9-3-3}%
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||||
Gegeben irgendeine biholomorphe Abbildung $f : ℂ → ℂ$, so ist die Abbildung
|
||||
\[
|
||||
f - f(0) : ℂ → ℂ
|
||||
\]
|
||||
ebenfalls biholomorph und bildet die Null auf null ab.
|
||||
\end{beobachtung}
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||||
|
||||
\begin{bsp}[Polynome höheren Grades]
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||||
Polynome vom Grad $≥ 2$ sind ganz bestimmt keine Automorphismen, denn jedes
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||||
Polynom $f ∈ ℂ[z]$ zerfällt in Linearfaktoren
|
||||
\[
|
||||
f(z) = λ (z - a_1)(z - a_2) ⋯ (z - a_n).
|
||||
\]
|
||||
\begin{itemize}
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||||
\item Wenn zwei der $a_•$ gleich sind, dann hat $f$ eine mehrfache
|
||||
Nullstelle. Die Ableitung $f'$ verschwindet dort. Aber biholomorphe
|
||||
Abbildungen haben nach dem Satz über die lokale Umkehrbarkeit nirgends
|
||||
eine verschwindende Ableitung.
|
||||
|
||||
\item Wenn alle $a_•$ verschieden sind, dann hat $f$ mindestens zwei
|
||||
verschiedene Nullstellen. Also ist $f$ nicht injektiv.
|
||||
\end{itemize}
|
||||
\end{bsp}
|
||||
|
||||
\begin{bsp}[Potenzreihen mit unendlich vielen Summanden]\label{bsp:9-3-5}%
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||||
Ich behaupte, dass Potenzreihen mit unendlich vielen Summanden ebenfalls
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||||
\emph{keine} Automorphismen der komplexen Ebene sind. Dazu führe ich einen
|
||||
Widerspruchsbeweis. Angenommen, es gäbe einen Automorphismus $f : ℂ → ℂ$ der
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||||
durch eine Potenzreihe
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||||
\[
|
||||
f(z) = \sum a_i zⁱ
|
||||
\]
|
||||
mit unendlich vielen Summanden gegeben ist. Nach Beobachtung~\ref{beob:9-3-3}
|
||||
können wir ohne Einschränkung annehmen, dass $a_0 = 0$ ist, also $f(0) = 0$.
|
||||
Insbesondere bildet $f$ die Menge $ℂ^*$ biholomorph auf sich selbst ab.
|
||||
|
||||
Aber: die Menge $ℂ^*$ hat einen interessanten Automorphismus, nämlich
|
||||
\[
|
||||
j : ℂ^* → ℂ^*, \quad z ↦ z^{-1}.
|
||||
\]
|
||||
Die Abbildung $f ◦ j : ℂ^* → ℂ^*$ ist dann auch holomorph und bijektiv, und
|
||||
kann als holomorphe Funktion mit Pol bei $0$ aufgefasst werden. Die
|
||||
Laurentreihe von $f ◦ j$ ergibt sich sehr einfach aus der Laurentreihe von
|
||||
$f$,
|
||||
\[
|
||||
f ◦ j = \sum a_i z^{-i}.
|
||||
\]
|
||||
Ich stelle fest: Der Hauptteil dieser Laurentreihe hat unendlich viele
|
||||
Summanden. Wie ist in Beobachtung~\ref{beo:9-2-10} gesehen haben, bedeutet
|
||||
das Folgendes: wenn ich $f ◦ j$ als Funktion mit isolierter Singularität
|
||||
auffasse, dann hat $f ◦ j$ hat bei $0$ eine wesentliche Singularität.
|
||||
|
||||
Ich behaupte, dass $f ◦ j$ dann aber nicht bijektiv sein kann. Betrachte dazu
|
||||
die Kreisscheibe $B_{1/2}(1) ⊂ ℂ^*$. Wir wissen, dass die Bildmenge $(f ◦ j)
|
||||
\left(B_{1/2}(0)\right)$ eine offene Teilmenge von $ℂ^*$ ist.
|
||||
|
||||
Es gilt aber auch noch Satz~\ref{satz:9-1-casorati-weierstrass}
|
||||
(„Casorati-Weierstraß“). Demnach ist die Bildmenge
|
||||
\[
|
||||
(f ◦ j) \left(B_{1/2}(0) ∖ \{0\}\right) ⊆ ℂ
|
||||
\]
|
||||
dicht, schneidet also $(f ◦ j) \left(B_{1/2}(0)\right)$ in mindestens einem
|
||||
Punkt. Dieser Punkt hat demnach zwei Urbilder, nämlich eines in $B_{1/2}(1)$
|
||||
und eines $B_{1/2}(0) ∖ \{0\}$. Also ist $f ◦ j$ tatsächlich nicht injektiv!
|
||||
\end{bsp}
|
||||
|
||||
\begin{bemerkung}
|
||||
Die Argumentation aus Beispiel~\ref{bsp:9-3-5} zeigt in Wirklichkeit, dass
|
||||
holomorphe Funktionen mit essenziellen Singularitäten niemals injektiv sind.
|
||||
\end{bemerkung}
|
||||
|
||||
In der Summe haben wir folgenden Satz bewiesen.
|
||||
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\begin{satz}[Automorphismen der komplexen Ebene]\label{satz:9-3-6}%
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Jede biholomorphe Abbildung $f : ℂ → ℂ$ ist von der Form
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\[
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f(z) = az + b
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\]
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für gewisse $a,b ∈ ℂ$ mit $a ≠ 0$. \qed
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\end{satz}
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% !TEX root = Funktionentheorie
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