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Stefan Kebekus
2025-10-16 17:30:13 +02:00
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@@ -222,7 +222,7 @@ Die folgenden Aussagen sollten Ihnen aus den Analysis-Vorlesungen bekannt sein.
\end{beobachtung}
\subsection{Wegintegrale und Stammfunktionen}
\section{Wegintegrale und Stammfunktionen}
\begin{definition}[Stammfunktion]
Sei $U ⊂ $ offen und $f: U → $ stetig. Eine holomorphe Funktion $F: U → $
@@ -246,6 +246,9 @@ von $$. Die Begriffe hängen offenbar zusammen.
\]
\end{beobachtung}
\subsection{Berechnung von Wegintegralen mithilfe von Stammfunktionen}
\begin{kons}[Wegintegrale bei Existenz von Stammfunktionen]
Wenn in der Situation von Definition~\ref{def:3-2-1} eine Stammfunktion von
$f$ existiert, dann hängt das Wegintegral $\int_γ f(z) \, dz$ nur vom Start-
@@ -295,9 +298,280 @@ Fakten der Analysis und Topologie.
stetig differenzierbaren Weg $γ: [0,1] → U$ mit $γ(0) = z_1$ und $γ'(0) =
z_2$. Dann ist aber
\[
f(z_2) - f(z_1) = \int_γ f'(z) \, dz = \int_{γ} 0 \, dz = 0. \qed
f(z_2) - f(z_1) = \int_γ f'(z) \, dz = \int_{γ} 0 \, dz = 0.
\]
Da dies für alle Punkte $z_1, z_2 ∈ U$ gilt, ist die Konstanz der Funktion
$f$ gezeigt.
\end{proof}
\subsection{Konstruktion von Stammfunktionen durch Wegintegrale}
Wir erinnern uns an die Ergebnisse des letzten Abschnitts: Es sei $U \subset
\bC$ offen und es sei $f: U \to \bC$ stetig. Wenn $f$ eine Stammfunktion $F: U
\to \bC$ besitzt, dann gilt für jeden (stückweise) stetig differenzierbaren Weg
$\gamma: [a,b] \to U$ die Gleichung
\[
\int_\gamma f(z)\, dz = F(\gamma(b)) - F(\gamma(a)).
\]
Das Wegintegral hängt also nur von Start- und Endpunkt ab. Insbesondere gilt:
Wenn der Weg $\gamma$ geschlossen ist (das bedeutet: $\gamma(a) = \gamma(b)$),
dann ist
\[
\int_\gamma f(z)\, dz = 0.
\]
Ziel dieses Kapitels ist die Umkehrung dieser Aussage: Wir wollen zeigen, dass
die Existenz einer Stammfunktion bereits aus der Tatsache folgt, dass das
Wegintegral nur von Start- und Endpunkt abhängt. Die folgende Beobachtung wird
beim Beweis helfen.
\begin{beobachtung}
Es sei $U \subseteq \bC$ offen und es sei $f: U \to \bC$ eine Funktion, sodass
für jeden geschlossenen Weg $\gamma$ stets $\int_\gamma f(z)\, dz = 0$ ist.
Gegeben seien zwei (stückweise) stetig differenzierbare Wege
\[
\gamma_1: [a_1, b_1] \to U \qquad \gamma_2: [a_2, b_2] \to U
\]
mit identischem Start- und Endpunkt,
\[
\gamma_1(a_1) = \gamma_2(a_2) =: z_a \quad\text{und}\quad \gamma_1(b_1) = \gamma_2(b_2) =: z_b.
\]
Wir wollen zeigen, dass die Wegintegrale über $\gamma_1$ und $\gamma_2$ gleich
sind. Dazu betrachten wir den Weg, der zuerst $\gamma_1$ hin und dann
$\gamma_2$ zurück durchläuft. Genauer: Betrachte den folgenden, stückweise
stetig differenzierbaren Weg
\[
\delta: [a_1, (b_1 - a_1), (b_2 - a_2)] \to U, \quad t \mapsto
\begin{cases}
\gamma_1(t + a_1) & \text{falls } t < b_1 - a_1 \\
\gamma_2(b_2 + b_2 - a_1 - t) & \text{sonst}.
\end{cases}
\]
Dann gilt:
\begin{align*}
0 & = \int_\delta f(z)\, dz && \text{weil $\delta$ geschlossen} \\
& = \int_{\gamma_1} f(z)\, dz - \int_{\gamma_2} f(z)\, dz.
\end{align*}
Also folgt:
\[
\int_{\gamma_1} f(z)\, dz = \int_{\gamma_2} f(z)\, dz.
\]
Zusammenfassung: Wenn das Wegintegral über jeden geschlossenen Weg
verschwindet, dann hängen die Wegintegral $\int_{\bullet} f(d)\, dz$ nur von
Start- und Endpunkt ab.
\end{beobachtung}
\begin{satz}[Existenz von Stammfunktionen]\label{satz:3-3-9}%
Sei $U \subset \mathbb{C}$ offen, und sei $f: U \to \bC$ stetig. Falls die
Wegintegral $\int_{\bullet} f(d)\, dz$ nur von Start- und Endpunkt abhängen,
dann existiert eine Stammfunktion.
\end{satz}
\begin{proof}
Wir können ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass die offene Menge
$U$ zusammenhängend ist -- ansonsten betrachte die Zusammenhangskomponenten
einzeln. Wähle einen Punkt $z_0 \in U$. Die Annahme, dass Wegintegrale nur von
Start- und Endpunkt abhängen, erlaubt die Definition der folgenden Funktion:
\[
F: U \to \bC, \quad z \mapsto \int_\gamma f(z)\, dz, \text{ wobei $\gamma$ ein Weg ist, der $z_0$ und $z$ verbindet.}
\]
Ich behaupte, dass $F$ eine Stammfunktion von $f$ ist. Dazu müssen wir
zeigen, dass $F$ an jedem Punkt von $U$ komplex differenzierbar ist und dass
$F' = f$ gilt. Sei also ein Punkt $p \in U$ gegeben. Wir müssen zeigen, dass
\begin{equation}\label{eq:3-3-9-1}
\lim_{h \to 0} \frac{F(p+h) - F(p)}{h} = f(p)
\end{equation}
ist. Dazu wähle irgendeinen Weg $\delta: [0, 1] \to U$ mit $\delta(0) = z_0$,
und $\delta(1) = p$. Für komplexe Zahlen $h$ von hinreichend kleinem Betrag
ist die Kreisscheibe um $p$ mit Radius $|h|$ komplett in $U$ enthalten.
Gegeben ein solches $h$, betrachten wir den Weg
\[
\gamma_h: [0, 1] \to U, \quad t \mapsto p + t \cdot h.
\]
Dann ist
\[
F(p) = \int_\delta f(z)\, dz \quad\text{und}\quad F(p+h) = \int_\delta f(z)\, dz + \int_{\gamma_h} f(z)\, dz.
\]
Also gilt für jede komplexe Zahl $h$ mit ausreichend kleinem Betrag die Gleichung
\begin{align*}
\frac{F(p+h) - F(h)}{h} & = \frac{\int_{\gamma_h} f(z)\, dz}{h} \\
& = \frac{1}{h} \int_0^1 f(\gamma_h(t)) \cdot \gamma_h'(t)\, dt \\
& = \frac{1}{h} \int_0^1 f(p + t \cdot h) \cdot h\, dt \\
& = \int_0^1 f(p + th)\, dt.
\end{align*}
Gleichung~\eqref{eq:3-3-9-1} folgt sofort, weil $f$ bei $p$ stetig ist!
\end{proof}
\subsection{Rechteckwege}
Satz~\ref{satz:3-3-9} gibt es sehr allgemein. Die Voraussetzung ist aber sehr
stark: Das Wegintegral muss über jeden geschlossenen Weg verschwinden. Das ist
in der Praxis schwer zu überprüfen. Wir wollen daher eine Variante des Satzes
beweisen, die eine schwächere Voraussetzung hat. Dazu betrachten statt
beliebigen nur noch achsenparallele Wege der folgenden Art.
\begin{center}
\begin{tikzpicture}
\draw[->] (0,0) -- (2,0) node[midway,below] {$\gamma_1$};
\draw[->] (2,0) -- (2,1.5) node[midway,right] {$\gamma_2$};
\end{tikzpicture}
\end{center}
Statt beliebiger geschlossener Wege betrachtet man nur „Rechteckwege“ der
folgenden Art.
\begin{center}
\begin{tikzpicture}
\draw[->] (0,0) -- (2,0) node[midway,below] {$\gamma_1$};
\draw[->] (2,0) -- (2,1.5) node[midway,right] {$\gamma_2$};
\draw[->] (2,1.5) -- (0,1.5) node[midway,above] {$\gamma_3$};
\draw[->] (0,1.5) -- (0,0) node[midway,left] {$\gamma_4$};
\end{tikzpicture}
\end{center}
\begin{notation}
Gegeben eine offene Menge $U \subseteq \bC$, ein achsenparalleles Rechteck
$\mathcal{R} \subset U$ und eine stetige Funktion $f : U \to \bC$, dann nennt
man
\[
\int_{\gamma_1} f(z)\, dz + \int_{\gamma_2} f(z)\, dz + \int_{\gamma_3} f(z)\, dz + \int_{\gamma_4} f(z)\, dz
\]
das \emph{Randintegral}\index{Randintegral} über das Rechteck $\mathcal{R}$.
\end{notation}
\begin{satz}[Stammfunktionen auf der Kreisscheibe]\label{satz:3-3-11}%
Es sei $U = \{z \in \bC \mid |z| < 1\}$ die Kreisscheibe und es sei $f: U \to
\bC$ eine stetige Funktion, sodass das Randintegral über achsenparallele
Rechtecke stets verschwindet. Dann besitzt $f$ eine Stammfunktion.
\end{satz}
\begin{bemerkung}
Die Aussage „Dann besitzt $f$ eine Stammfunktion.“ ist nicht optimal. Es gilt:
„Die Funktion $f$ besitzt genau dann eine Stammfunktion, wenn \ldots“. Die
Umkehrrichtung ist ja schon aus dem letzten Kapitel bekannt.
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}
Satz~\ref{satz:3-3-11} zeigt dieselbe Folgerung wie Satz~\ref{satz:3-3-9},
aber unter schwächeren Voraussetzungen. Also ist der Beweis aufwändiger. Die
Grundidee ist aber dieselbe.
\end{bemerkung}
\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:3-3-11} als Bildgeschichte]
Gegeben irgendeinen Punkt $p \in U$, dann kann ich den $0$-Punkt wie folgt
durch zwei achsenparallele Wege mit $p$ verbinden, die ganz innerhalb von $U$
verlaufen. Hier benutze ich natürlich, dass $U$ eine Kreisscheibe ist.
\begin{center}
\begin{tikzpicture}
\draw (0,0) circle (2cm);
\draw[->] (0,0) -- (1.5,0) node[midway,below] {$\gamma_1$};
\draw[->] (1.5,0) -- (1.5,1) node[midway,left] {$\gamma_2$};
\node at (1.5,1) [circle,fill,inner sep=1.5pt,label=left:$p$] {};
\node at (0,0) [circle,fill,inner sep=1.5pt,label=below:$0$] {};
\end{tikzpicture}
\end{center}
Definiere damit eine Funktion
\[
F : U \to \bC, \quad p \mapsto \int_{\gamma_1} f(z)\, dz + \int_{\gamma_2} f(z)\, dz.
\]
Ich behaupte, dass $F$ eine Stammfunktion von $f$ ist. Dazu müssen wir zeigen,
dass $F$ an jedem Punkt von $U$ komplex differenzierbar ist und dass $F' = f$
gilt. Sei also ein Punkt $p \in U$ gegeben.
Ich diskutiere erst einmal die partielle Ableitung von $F$ nach $x$. Gegeben
eine hinreichend kleine reelle Zahl $h$, betrachte die folgenden Wege, die
wieder vollständig innerhalb von $U$ verlaufen.
\begin{center}
\begin{tikzpicture}[scale=0.8]
\draw[->] (0,0) -- (2,0) node[midway,below] {$\gamma_1$};
\draw[->] (2,0) -- (3,0) node[midway,below] {$\delta_1$};
\draw[->] (2,0) -- (2,2) node[midway,left] {$\gamma_2$};
\draw[->] (3,0) -- (3,2) node[midway,right] {$\delta_2$};
\draw[->] (3,2) -- (2,2) node[midway,above] {$\delta_3$};
\node at (2,2) [circle,fill,inner sep=1pt,label=left:$p$] {};
\node at (3,2) [circle,fill,inner sep=1pt,label=right:$p+h$] {};
\node at (0,0) [circle,fill,inner sep=1pt,label=below:$0$] {};
\end{tikzpicture}
\end{center}
Weil das Randintegral über das Rechteck verschwindet, ist
\begin{align*}
F(p + h) & = \int_{\gamma_1} f(z)\, dz + \int_{\delta_1} f(z)\, dz + \int_{\delta_2} f(z)\, dz \\
& = \int_{\gamma_1} f(z)\, dz + \int_{\delta_1} f(z)\, dz + \int_{\delta_2} f(z)\, dz \\
& \qquad - \bigl(\int_{\delta_1} f(z)\, dz + \int_{\delta_2} f(z)\, dz + \int_{\delta_3} f(z)\, dz - \int_{\gamma_2} f(z)\, dz\bigr) \\
& = \int_{\gamma_1} f(z)\, dz - \bigl(\int_{\delta_3} f(z)\, dz - \int_{\gamma_2} f(z)\, dz\bigr) \\
& = F(p) - \int_{\delta_3} f(z)\, dz.
\intertext{Also ist}
F(p+h) - F(p) & = -\int_{\delta_3} f(z)\, dz = \int_0^1 f(p + t \cdot h) \cdot h\, dt \\
\end{align*}
und damit
\[
\lim_{h \to 0} \frac{F(p+h) - F(p)}{h} = f(p).
\]
Zusammenfassung: Die Funktion $F$ ist am Punkt $p$ partiell nach $x$
differenzierbar und es ist $\frac{\partial F}{\partial x}(p) = f(p)$. Analog
beweist man: Die Funktion $F$ ist am Punkt $p$ partiell nach $y$
differenzierbar und es ist $\frac{\partial F}{\partial y}(p) = i \cdot f(p)$.
Das hat zwei Konsequenzen.
\begin{itemize}
\item Weil $f$ stetig ist, haben wir gezeigt, dass $F$ stetig partiell
differenzierbar ist, also total differenzierbar.
\item Es ist $\frac{\partial F}{\partial \overline{z}} = \frac{\partial
F}{\partial x} + i \frac{\partial F}{\partial y} = 0$. Also erfüllen die
partiellen Ableitungen von $F$ die Cauchy-Riemann-Differenzialgleichungen.
\end{itemize}
In der sehen wir, dass $F$ komplex differenzierbar ist und dass $F' = f$ gilt.
\end{proof}
\section{Homotopie von Wegen}
Gegeben eine offene Menge $U \subset \mathbb{C}$, und Punkte $z_0, z_1 \in U$, so betrachten wir Wege, die $z_0$ und $z_1$ verbinden.
Anschaulich ist klar, dass manche dieser Wege ineinander übergeführt werden können und andere nicht.
\begin{center}
\begin{tikzpicture}
\draw (0,0) ellipse (2cm and 1.5cm);
\draw (0.5,0) circle (0.3cm);
\node at (-1.5,0.5) [circle,fill,inner sep=1.5pt,label=left:$z_0$] {};
\node at (1.5,0.5) [circle,fill,inner sep=1.5pt,label=right:$z_1$] {};
\draw[thick] (-1.5,0.5) .. controls (-0.5,1) and (0.5,1) .. (1.5,0.5);
\end{tikzpicture}
\end{center}
\textbf{Def} Es sei $U$ ein topologischer Raum, und $[a, b] \subset \mathbb{R}$ ein kompaktes Intervall. Zwei stetige Wege
\[
\gamma_0: [a, b] \to U, \quad \gamma_1: [a, b] \to U \quad \text{mit } \gamma_0(a) = \gamma_1(a), \quad \gamma_0(b) = \gamma_1(b)
\]
heißen homotop, wenn es stetig, Abb
\[
\Gamma: [a, b] \times [0, 1] \longrightarrow U
\]
gibt sodass
\begin{itemize}
\item $\forall s \in [0, 1]$ $\Gamma(a, s) = \gamma_0(a)$. $\Gamma(b, s) = \gamma_0(b)$
\item $\forall t \in [a, b]$ $\Gamma(t, 0) = \gamma_0(t)$, $\Gamma(t, 1) = \gamma_1(t)$
\end{itemize}
Man kann dann $\Gamma_s(t) := \Gamma(t, s)$ als Familie von Wegen auffassen, die stetig zwischen $\gamma_0$ und $\gamma_1$ interpoliert.
\textbf{Def} Situation wie oben. Ein geschlossener Weg heißt zusammenziehbar, wenn er homotop zu einem konstanten Weg ist. Der Raum $U$ heißt ``wegweise einfach zusammenhängend'', wenn jeder geschlossener Weg zusammenziehbar ist.
\textbf{Beispiel 1} $U =$ Kreisscheibe, $\gamma_0: [a, b] \to U$ ein Weg mit $\gamma_0(a) = \gamma_0(b) = 0$. Dann ist
\[
\Gamma: [a, b] \times [0, 1] \to U, \quad (t, s) \mapsto (1 - t) \cdot \gamma_0(t)
\]
eine Homotopie zwischen $\gamma_0$ und dem konstanten Weg $\gamma_1 \equiv 0$.
Also ist $\gamma_0$ zusammenziehbar.
\textbf{Beispiel 2} $U =$ Kreisscheibe $\gamma_0: [a, b] \to U$ irgendein geschl. Weg mit $\gamma_0(a) = \gamma_0(b) = 2$. Dann ist
\[
\Gamma: [a, b] \times [0, 1] \to U, \quad (t, s) \mapsto (1 - s) \cdot (\gamma_0(t) - 2) + 2
\]
eine Homotopie zwischen $\gamma_0$ und dem konstanten Weg $\gamma_1 \equiv 2$.
Also ist der Kreisscheibe 1-zusammenhängend.
% !TEX root = Funktionentheorie