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\chapter{Direkte Summe und direktes Produkt}
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\section{Definitionen}
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Ganz am Anfang der Vorlesung LA1 haben wir unter der Überschrift ``Beispiele für
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Vektorräume'' eine Methode kennen gelernt, wie man aus einem $k$-Vektorraum $V$
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neue $k$-Vektorräume macht: der Vektorraum $V ⨯ V$ ist die Menge der
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geordneten Paare von Vektoren; die Vektoraddition und skalare Multiplikation
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erfolgt komponentenweise. Alternativ könnte ich $V ⨯ V$ auch so
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definieren: der Vektorraum $V ⨯ V$ ist die Menge der Abbildungen
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\[
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\{1, 2 \} → V
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\]
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und daran erinnern, dass wir in LA1 gesehen haben, dass die Menge dieser
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Abbildungen in natürlicher Weise die Struktur eines Vektorraumes trägt. Der
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Raum $V ⨯ V$ enthält zwei offensichtliche Untervektorräume
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$V ⨯ \{\vec{0}\}$ und $\{\vec{0}\} ⨯ V$, die beide ganz offensichtlich
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isomorph zu $V$ sind. Zusätzlich gibt es eine Zerlegung von $V ⨯ V$ als
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direkte Summe,
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\[
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V ⨯ V = \bigl(V ⨯ \{\vec{0}\}\bigr) ⊕ \bigl(\{\vec{0}\} ⨯ V\bigr),
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\]
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Dieselbe Konstruktion funktioniert natürlich genau so für Paare aus drei oder
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mehr Komponenten. Ich erhalte so Vektorräume
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\[
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V ⨯ V ⨯ V \quad\text{oder}\quad \underbrace{V ⨯ ⋯ ⨯ V}_{n ⨯}
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\]
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Das Ziel in diesem Abschnitt ist, diese Konstruktion in zwei Richtungen zu
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verallgemeinern.
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\begin{itemize}
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\item Zum einen geht es darum, Paaren von unterschiedlichen Vektorräumen
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zuzulassen, also etwas wie ``$V_1 ⨯ V_2$'' zu definieren
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\item Zum anderen möchte ich die Konstruktion statt auch für unendlich viele
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Komponenten durchzuführen.
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\end{itemize}
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Der Witz ist, dass es im unendlichen Fall zwei unterschiedliche Konstruktionen
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gibt, die auch unterschiedliche Ergebnisse liefern.
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\begin{defn}[Direkte Summe und direktes Produkt]\label{def:14-1-1}
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Es sei $k$ ein Körper, es sei $I$ eine nicht-leere Menge und es sei für jedes
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Element $i ∈ I$ ein $k$-Vektorraum $V_i$ gegeben. Dann betrachte
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\begin{align*}
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\prod_{i ∈ I} V_i & = \left\{ (\vec{v}_i)_{i ∈ I} \:\big|\: \vec{v}_i ∈ V_i \text{ für alle } i \right\} \\
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\bigoplus_{i ∈ I} V_i & = \left\{ (\vec{v}_i)_{i ∈ I} \:\big|\: \vec{v}_i ∈ V_i \text{ für alle } i \text{ und nur endlich viele } \vec{v}_i ≠ \vec{0} \right\}.
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\end{align*}
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Beachte, dass diese Mengen mit komponentenweiser Addition und skalarer
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Multiplikation jeweils Vektorräume bilden. Man nennt $\prod_{i ∈ I} V_i$ das
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\emph{direkte Produkt}\index{direktes Produkt} und $\bigoplus_{i ∈ I} V_i$ die
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\emph{direkte Summe}\index{direkte Summe} der Vektorräume $(V_i)_{i ∈ I}$.
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\end{defn}
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\begin{bemerkung}
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Wir können die Elemente von $\prod V_i$ auch als Familie
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$(φ_i: I → V_i)_{i ∈ I}$ von Abbildungen auffassen.
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\end{bemerkung}
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\begin{bemerkung}
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Die direkte Summe ist ein Untervektorraum des direkten Produkts. Falls die
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Menge $I$ endlich ist, sind direkte Summe und direktes Produkt identisch.
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\end{bemerkung}
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\begin{notation}
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Wenn in der Situation von Definition~\ref{def:14-1-1} alle $k$- Vektorräume
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$V_i$ gleich sind, wenn es also einen $k$-Vektorraum $V$ gibt, so dass für
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alle $i ∈ I$ die Gleichheit $V = V_i$ gilt, dann schreibt man auch
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\[
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V^I := \prod_{i ∈ I} V \quad\text{und}\quad V^{(I)} := \bigoplus_{i ∈ I} V.
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\]
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Für den Fall, dass $I = ∅$ die leere Menge ist, ist in der Literatur oft
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$V^∅ = V^{(∅)} = \{ \vec{0}_V \}$ definiert.
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\end{notation}
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\begin{notation}[Frei erzeugte Vektorräume, Einheitsvektoren]\label{not:14-1-5}
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Es sei $k$ ein Körper und es sei $I$ eine Menge. Im Spezialfall, wo $V = k$
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ist, nennt man $k^I$ auch den \emph{von der Menge $I$ frei erzeugten
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Vektorraum}\index{frei erzeugter Vektorraum}. Gegeben ein Element $j ∈ I$,
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betrachte den Vektor
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\[
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\vec{e}_j := (δ_{ij})_{i ∈ I} ∈ k^{(I)} ⊆ k^I
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\]
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Die so definierten Vektoren $\vec{e}_i$ heißen
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\emph{Einheitsvektoren}\index{Einheitsvektoren}.
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\end{notation}
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\begin{aufgabe}\label{auf:14-1-6}
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In der Situation von Notation~\ref{not:14-1-5}: beweisen Sie im Detail, dass
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die Menge der Einheitsvektoren eine Basis des Vektorraums $k^{(I)}$ ist.
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Finden Sie ein Beispiel, für das die die Menge der Einheitsvektoren keine
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Basis des Vektorraums $k^I$ ist. Bemerken Sie, dass der Raum $k^I$
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phantastisch viel größer ist als der Raum $k^{(I)}$.
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\end{aufgabe}
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\section{Die universellen Eigenschaften}
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Sie wissen, wie sehr ich über jede universelle Eigenschaft freue; tatsächlich
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sind die direkte Summe und das direkte Produkt durch universelle Eigenschaften
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eindeutig festgelegt.
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\begin{defn}[Kanonische Injektion eines Vektorraums in die direktes Summe]
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In der Situation von Definition~\ref{def:14-1-1} sei ein Index $i ∈ I$
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gegeben. Für jeden Vektor $\vec{v} ∈ V_i$ betrachte dann das Element
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$(\vec{v}_j)_{j ∈ I} ∈ \bigoplus_{j ∈ I} V_j$, gegeben durch
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\[
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\vec{v}_j :=
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\left\{
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\begin{matrix}
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\vec{0}_{V_j} & \text{falls } j \ne i \\
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\vec{v} & \text{falls } j = i \\
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\end{matrix}
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\right.
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\]
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Wir erhalten so eine Abbildung
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\[
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ι_i : V_i → ⊕_{j ∈ I} V_j, \quad \vec{v} ↦ (\vec{v}_j)_{j ∈ I},
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\]
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genannt \emph{kanonische Injektion}\index{kanonische Injektion} des
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Vektorraums in die direkte Summe.
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\end{defn}
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\begin{satz}[Universelle Eigenschaften der direkten Summe]
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In der Situation von Definition~\ref{def:14-1-1} sei $W$ ein
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$k$-Vektorraum. Weiter sei für jeden Index $i ∈ I$ eine lineare Abbildung
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$\varphi_i: V_i → W$ gegeben. Dann existiert genau eine lineare Abbildung
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$\varphi: \bigoplus_{j ∈ I} V_j → W$, so dass für alle $i ∈ I$ das folgende
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Diagramm kommutiert:
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\[
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\begin{tikzcd}[column sep=3cm]
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V_i \ar[d, equals] \ar[r, "ι_i\text{, kanon. Injektion}"] & \bigoplus_{j ∈ I} V_j \ar[d, "∃! \varphi"]\\
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V_i \ar[r, "\varphi_i"'] & W .
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\end{tikzcd}
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\]
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\end{satz}
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\begin{proof}
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Wie immer müssen wir Existenz und Eindeutigkeit der linearen Abbildung
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$\varphi$ beweisen. Wie immer beweisen wir die Eindeutigkeit zuerst. Seien
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also zwei lineare Abbildungen $\varphi_1$ und $\varphi_2$ mit den
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Eigenschaften des Satzes gegeben. Gegeben einen Index $i$ und einen Vektor
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$\vec{v} ∈ V_i$, ist klar, was die Abbildungen $\varphi_{•}$ mit den
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Bildvektoren $ι_i(\vec{v})$ machen müssen, denn aus der Kommutativität des
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Diagramm folgt:
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\[
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\varphi_{•} \bigl(ι_i(\vec{v}) \bigr) = \varphi_i(\vec{v}).
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\]
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Also ist schon einmal
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$\varphi_1 \bigl(ι_i(\vec{v}) \bigr) = \varphi_2 \bigl(ι_i(\vec{v}) \bigr)$.
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Da jetzt aber jedes Element $\vec{η} ∈ ⊕ V_j$ als endliche Summe von
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Elementen der Form $ι_i(\vec{v})$ geschrieben werden kann, ist klar, dass die
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Gleichung
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$\varphi_1 \bigl(\vec{η} \bigr) = \varphi_2 \bigl(\vec{η} \bigr)$ für
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alle Vektoren $\vec{η} ∈ ⊕ V_j$ gilt. Also ist
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$\varphi_1 = \varphi_2$ und Eindeutigkeit ist gezeigt.
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Wie immer sagt und der Eindeutigkeitsbeweis sofort auch, warum $\varphi$
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existiert: wir können es angeben! Setzen Sie dazu
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\[
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\varphi: \bigoplus_{j ∈ I} V_j → W, \quad (\vec{v}_i)_{i ∈ I} ↦
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\sum_{i ∈ I} φ_i(\vec{v}_i)
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\]
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und rechen Sie als Hausaufgabe nach, dass dies eine wohldefinierte Abbildung
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ohne unendliche Summe ist, die linear ist und die die Diagramm kommutativ
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macht.
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\end{proof}
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\begin{defn}[Kanonische Projektion]
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In der Situation von Definition~\ref{def:14-1-1} sei ein Index $i ∈ I$
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gegeben. Dann betrachte die \emph{kanonische Projektion}\index{kanonische
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Projektion}
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\[
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p_i : \prod_{j ∈ I} V_j → V_i, \quad (\vec{v}_j)_{j∈ I} ↦ \vec{v}_i.
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\]
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\end{defn}
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\begin{satz}[Universelle Eigenschaften des direkten Produkts]
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In der Situation von Definition~\ref{def:14-1-1} sei $W$ ein
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$k$-Vektorraum. Weiter sei für jeden Index $i ∈ I$ eine lineare Abbildung
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$\varphi_i: W → V_i$ gegeben. Dann existiert genau eine Abbildung
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$\varphi: W → \prod_{j ∈ I} V_j$, so dass für alle $i ∈ I$ das folgende
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Diagramm kommutiert:
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\[
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\begin{tikzcd}
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W \ar[d, equals] \ar[r, "∃! \varphi"] & \prod_j V_j \ar[d, "p_i\text{, kanon.\ Projektion}"]\\
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W \ar[r, "\varphi_i"'] & V_i .
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\end{tikzcd}
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\]
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\end{satz}
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\begin{proof}
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Wieder schauen wir uns die Eindeutigkeit zuerst an und stellen fest, dass es
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für einen gegebenen Vektor $\vec{w} ∈ W$ nur eine Möglichkeit gibt, was
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$\varphi(\vec{w})$ wohl sein könnte: damit die Diagramme kommutieren, muss
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nämlich $\varphi(\vec{w}) = \left( \varphi_j(\vec{w}) \right)_{j ∈ I}$ sein.
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Damit ist die Eindeutigkeit schon gezeigt.
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Wie immer sagt und der
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Eindeutigkeitsbeweis sofort auch, warum $\varphi$ existiert: wir können es
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angeben! Setzen Sie dazu
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\[
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\varphi : W → \prod_j V_j, \quad \vec{w} ↦ \left( \varphi_j(\vec{w}) \right)_{j ∈ I}
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\]
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und rechen Sie als Hausaufgabe nach, dass dies eine lineare Abbildung ist, die
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die Diagramm kommutativ macht.
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\end{proof}
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\section{Dualität}
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In der Vorlesung LA1 hatten wir schon gesehen, dass jeder endlich-dimensionale
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Vektorraum $V$ isomorph zu seinem Dualraum $V^*$ ist. Diese Fakt hatte den
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Schönheitsfehler, dass es keinen kanonischen Isomorphismus gab (jedenfalls
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solange nicht noch ein Skalarprodukt gewählt war). Ich hatte schon in LA1
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darauf hingewiesen, dass dies nicht das einzige Problem ist.
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\begin{satz}[Kanonischer Isomorphismus zwischen Dualraum der direkten Summe und direktem Produkt der Dualräume]\label{satz:14-3-1}
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Es sei $k$ ein Körper, es sei $I$ eine Menge und es sei $(V_i)_{i ∈ I}$ eine
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Familie von $k$-Vektorräumen. Dann gibt es einen kanonischen Isomorphismus
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\[
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\Big( \bigoplus_{i ∈ I} V_i \Big)^* → \prod_{i ∈ I} (V_i^*).
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\]
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\end{satz}
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\begin{bemerkung}
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Schauen Sie sich noch einmal Aufgabe~\ref{auf:14-1-6} an. Erkennen Sie, dass
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Satz~\ref{satz:14-3-1} ihnen ein Beispiel für einen Vektorraum $V$ liefert,
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dessen Dualraum phantastisch viel größer ist als der Raum selbst.
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\end{bemerkung}
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\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:14-3-1}]
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\video{20-1}
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\end{proof}
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% !TEX root = LineareAlgebra2
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