KommutativeAlgebra/04.tex

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\chapter{Transzendente Körpererweiterungen}
\section{Algebraische Unabhängigkeit}
Erinnern Sie sich: es sei $L/K$ eine Körpererweiterung und es sei $b ∈ L$ ein
Element. Dann heißt $b$ transzendent über $K$, wenn der Substitutionsmorphismus
\[
K[X] \rightarrow L, \quad f(x) ↦ f(b)
\]
injektiv ist. Wenn nicht, dann nenne $b$ algebraisch. Das geht auch mit mehr
als einem Element.
\begin{defn}[Algebraische Unabhängigkeit]
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung, und es seien $b_1, …, b_n ∈ L$. Nenne
die Elemente $b_1,…, b_n$ \emph{algebraisch unabhängige
Elemente}\index{algebraisch!Unabhängigkeit}, falls der
Substitutionsmorphismus
\[
K[X_1, …, X_n] \rightarrow L, \quad f(x_1, …, x_n) ↦ f(b_1, …, b_n)
\]
injektiv ist. Ansonsten nenne die Elemente $b_1,…, b_n$ \emph{algebraisch!
Abhängigkeit}. Die Polynome im Kern des Substitutionsmorphismus werden als
\emph{algebraische Relationen}\index{algebraisch!Relationen} der Elemente
$b_1,…, b_n$ bezeichnet.
\end{defn}
\begin{bemerkung}
Genau wie beim Begriff der ``linearen Unabhängigkeit'' ist die Definition der
algebraischen Unabhängigkeit mindestens unglücklich. Statt zu sagen ``die
Elemente $b_1,…, b_n$ sind algebraisch unabhängig'' wäre es besser und
richtiger, zu sagen: ``die Menge $\{b_1,…, b_n\}$ ist algebraisch
unabhängig''. Aber solche Traditionen lassen sich nur schwer korrigieren~…
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}
In der Literatur nennt man eine (vielleicht unendliche) Familie von Elementen,
$(b_i)_{i ∈ I}$ algebraisch unabhängig, wenn der entsprechende
Substitutionsmorphismus $K[(X_i)_{i ∈ I}] \rightarrow L$ injektiv ist. Ich
habe keine Lust, Polynomringe in unendlich vielen Variablen zu diskutieren und
beschränke mich auf den endlichen Fall.
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}
Gelegentlich wird der Begriff ``algebraisch unabhängig'' statt für
Körpererweiterungen auch allgemeiner für Inklusionen $A ⊆ B$ in
Integritätsringen verwendet. Das kann man machen. Wir beobachten, dass der
Substitutionsmorphismus $A[X_1,…,X_n] \rightarrow B$ genau dann injektiv ist,
wenn die zugehörende Abbildung $Q(A)[X_1,…,X_n] \rightarrow Q(B)$ injektiv
ist, wobei $Q()$ wie immer den Quotientenkörper bezeichnet.
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}
Im Allgemeinen ist es sehr schwer, zu entscheiden, ob gegebene Elemente
algebraisch unabhängig sind. So ist zum Beispiel unbekannt, ob $e, π ∈ $
algebraisch unabhängig über $$ sind.
\end{bemerkung}
\section{Transzendenzbasen}
Algebraische Unabhängigkeit ist ein bisschen wie lineare Unabhängigkeit. Und
genau wie man eine Vektorraumbasis definiert als ``linear unabhängige Menge, die
maximal ist bezüglich der Inklusion'', definieren wir jetzt die
Transzendenzbasis einer Körpererweiterung.
\begin{defn}[Transzendenzbasis]\label{def:4-2-1}
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung. Eine
\emph{Transzendenzbasis}\index{Transzendenzbasis} von $L$ über $K$ ist eine
algebraisch unabhängige Teilmenge von $L$, die maximal bezüglich der Inklusion
ist.
\end{defn}
\begin{bemerkung}
In Definition~\ref{def:4-2-1} bedeutet ``maximal bezüglich der Inklusion'' mit
anderen Worten: Jede größere Menge $L ⊇ M' ⊋ M$ ist
algebraisch abhängig über $K$.
\end{bemerkung}
\begin{bsp}[Rationale Funktionen]
Es sei $K$ ein Körper und es sei $L := K(X_1, …, X_n)$ der Körper der
rationalen Funktionen in $n$ Variablen. Dann bilden die Elemente
$X_1, …, X_n ∈ L$ eine Transzendenzbasis von $L$ über $K$.
\end{bsp}
\begin{lem}[Charakterisierung von Transzendenzbasen]\label{lem:4-2-4}
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung und es sei
$M := \{ b_1, …, b_n\} ⊆ L$ eine Menge, die algebraisch unabhängig
über $K$ ist. Die Menge $M$ ist genau dann eine Transzendenzbasis von $L$
über $K$, wenn die Körpererweiterung $L/K(M)$ algebraisch ist.
\end{lem}
\begin{proof}
Gegeben ein Element $b ∈ L$, dann stellen wir erst einmal folgende
Äquivalenzen fest.
\begin{align*}
b \text{ ist algebraisch über } K(M) & \iff ∃ p ∈ K(b_1, …, b_n)[x] : p(b) = 0 \\
& \iff\tilde{p} ∈ K[y_1, …, y_n, x] : \tilde{p}(b_1,…,b_n,b) = 0\\
& \iff \lbrace b_1,…, b_n, b \rbrace \text{ sind algebraisch abhängig über } K.
\end{align*}
Wir erkennen: die Menge algebraisch unabhängige Menge $M$ ist genau dann
maximal bezüglich der Inklusion, wenn jedes Element $b ∈ L$ algebraisch
über $K(M)$ ist.
\end{proof}
\begin{bemerkung}
Die Charakterisierung von Transzendenzbasen aus Lemma~\ref{lem:4-2-4}
funktioniert natürlich ebenso für unendliche Menge $M$. Aber ich bin zu faul.
\end{bemerkung}
In der Vorlesung ``Lineare Algebra I'' beweist man den Basisergänzungssatz. Das
geht auch hier.
\begin{satz}[Basisergänzung]
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung. Wenn $Γ ⊆ L$ ein
Erzeugendensystem ist und wenn $S ⊂ Γ$ algebraisch unabhängig über $K$
ist, dann lässt sich $S$ zu einer Transzendenzbasis $B$ mit $S ⊆ B ⊆ Γ$
ergänzen.
\end{satz}
\begin{proof}
Wir beweisen den Satz nur im Fall, wo $Γ$ endlich ist, also etwa
$Γ = \{γ_1, …, γ_n\}$. In diesem Fall sehen wir auch ohne Verwendung von
Zorn's Lemma, dass wir $S$ zu einer maximal großen algebraisch unabhängigen
Teilmenge $B ⊆ Γ$ vergrößern können. Die Annahme ``maximal groß'' impliziert,
dass jedes $γ_{}$ algebraisch über $K(B)$ ist. Also ist $L = K(γ_1, …, γ_n)$
algebraisch über $K(B)$, und die Charakterisierung von Transzendenzbasen aus
Lemma~\ref{lem:4-2-4} zeigt, dass $B$ eine Transzendenzbasis ist.
\end{proof}
\section{Transzendenzgrad}
\sideremark{Vorlesung 4}Das Analogon zur Dimension eines Vektorraumes ist der
Transzendenzgrad einer Körpererweiterung. Wir beginnen mit dem
Basisaustauschlemma und betrachten wieder nur den endlichen Fall.
\begin{prop}[Basisaustauschlemma]
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung und es sei $Γ = \{γ_1, …, γ_n\}$ eine
endliche Transzendenzbasis von $L$ über $K$. Weiter sei
$\{ c_1, …, c_m \} ⊂ L$ algebraisch unabhängig über $K$. Dann ist $m ≤ n$.
\end{prop}
\begin{proof}
\video{4-1}
\end{proof}
\begin{kor}[Größe von Transzendenzbasen]
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung und es sei $Γ$ eine Transzendenzbasis von
$L$ über $K$.
\begin{itemize}
\item Wenn $Γ$ unendlich viele Elemente hat, dann hat jede andere
Transzendenzbasis von $L$ über $K$ ebenfalls unendlich viele Elemente.
\item Wenn $Γ$ endlich ist, dann hat jede andere Transzendenzbasis von $L$
über $K$ genau so viele Elemente wie $Γ$. \qed
\end{itemize}
\end{kor}
\begin{defn}[Transzendenzgrad]
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung. Dann definiere den
\emph{Transzendenzgrad von $L$ über $K$}\index{Transzendenzgrad} als
\[
\trdeg(L/K) =
\begin{cases}
n &\text{falls $L/K$ eine endlich Transzendenzbasis mit $n$ Elementen besitzt}\\
&\text{sonst.}
\end{cases}
\]
\end{defn}
\begin{bsp}[Algebraische Körpererweiterungen]
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung. Es ist $\trdeg(L/K) = 0$ genau dann,
wenn $L/K$ algebraisch ist.
\end{bsp}
\begin{bsp}[Rationale Funktionen]
Es sei $K$ ein Körper. Dann ist $\trdeg K(X_1,…,X_n)/K = n$.
\end{bsp}
\begin{bsp}[Komplexe und rationale Zahlen]
Es ist $\trdeg(/) =$.
\end{bsp}
\begin{bsp}[Algebraische Unabhängigkeit von $e$ und $π$]
Es ist unbekannt, ob die Zahl $\trdeg((e,π)/)$ gleich 1 oder gleich 2
ist.
\end{bsp}
Hier ist etwas, das wir mit Körpern, aber nicht mit Vektorräumen machen können:
Ketten bilden. Der Transzendenzgrad ist additiv in Ketten von
Körpererweiterungen.
\begin{prop}[Transzendenzgrad in Ketten von Körpererweiterungen]
Es sei $K ⊆ L ⊆ M$ eine Kette von Körpererweiterungen. Dann ist
$\trdeg(M/K) = \trdeg(L/K) + \trdeg(M/L)$.
\end{prop}
\begin{proof}
\video{4-2}
\end{proof}
\section{Rein transzendente Erweiterungen}
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung stellte Thomas Jefferson
bekanntermaßen fest: ``all men are created equal''. Das kann man für
transzendente Körpererweiterungen wirklich nicht so sagen. Wie das folgende
Beispiel zeigt, gibt es ``rein transzendente'' Erweiterungen und es gibt
solche, bei denen man noch einen algebraischen Anteil abspalten kann.
\begin{itemize}
\item Die Körpererweiterung $(x)/$ hat Transzendenzgrad 1. Die Menge
$\{x\}$ bildet eine Transzendenzbasis. Jedes Element von $(x)$ ist
tranzendent über $$, wenn es nicht schon zufällig selbst in $$ liegt.
\item Die Körpererweiterung $(\sqrt{2}, π)/$ hat ebenfalls Tranzendenzgrad
1. Die Menge $\{π\}$ bildet eine Transzendenzbasis. Dennoch gibt es in
$(\sqrt{2})$ auch algebraische Elemente, nämlich zum Beispiel $\sqrt{2}$.
Interessanterweise zerlegt sich die Erweiterung
\[
(\sqrt{2}, π)(π).
\]
Wir wissen schon, dass es einen $$-Isomorphismus zwischen den Körpern
$(π)$ und $(x)$ gibt; insbesondere ist jedes Element von $(x)$
transzendent über $$, wenn es nicht schon zufällig selbst in $$ liegt.
Im Gegensatz dazu ist die Erweiterung $(\sqrt{2}, π)/(π)$ algebraisch.
\end{itemize}
\begin{defn}[Rein transzendente Erweiterung]
Eine Körpererweiterung $L/K$ heißt \emph{rein transzendent}\index{rein
transzendente Erweiterung}, wenn es eine Transzendenzbasis $B$ von $L$ über
$K$ gibt, sodass $L = K(B)$ ist.
\end{defn}
\begin{bemerkung}[Rein transzendente Erweiterungen]
Wenn $L/K$ rein transzendent ist mit endlicher Transzendenzbasis
$B = \{b_1, …, b_n\}$, dann gibt es einen $K$-Isomorphismus
$L ≅ K(x_1, …, x_n)$. Insbesondere ist jedes Element von $L$ tranzendent
über $K$, wenn es nicht schon zufällig selbst in $K$ liegt.
\end{bemerkung}
\begin{bemerkung}[Zerlegung in rein transzendent und algebraisch]\label{bem:4-4-3}
Wenn $L/K$ transzendent, aber nicht rein transzendent ist, dann kann ich mir
eine Transzendenzbasis $B$ nehmen und die folgende Kette von
Körpererweiterungen betrachten,
\[
L ⊋ K(B) ⊊ K.
\]
Dann ist $K(B)/K$ rein transzendent und $L/K(B)$ ist algebraisch.
\end{bemerkung}
\begin{warnung}
Die Zerlegung aus Bemerkung~\ref{bem:4-4-3} ist \emph{nicht
kanonisch}\footnote{Wenn Sie am Horizont eine Art ``Galois-Theorie für
transzendente Erweiterungen'' sehen, dann haben Sie in der Vorlesung
``Algebra'' gut aufgepasst. Sie liegen richtig.}, sondern hängt von der
Wahl der Transzendenzbasis ab! Vergleichen Sie dies mit der Zerlegung
$K ⊆ K_{sep} ⊆ L$, die wir für algebraische Körpererweiterungen in der
Vorlesung ``Algebra'' kennengelernt haben. Diese ist eindeutig.
\end{warnung}
Im Allgemeinen ist es schwer zu entscheiden, ob eine gegebene Körpererweiterung
rein transzendent ist. Der berühmte
\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Satz_von_L\%C3\%BCroth}{Satz von
Lüroth}\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Jacob_L\%C3\%BCroth}{Jacob
Lüroth} (* 18. Februar 1844 in Mannheim; † 14. September 1910 in München)
war ein deutscher Mathematiker, der sich mit Geometrie beschäftigte.}, den ich
ohne Beweis zitiere, hängt eng mit der Frage nach der rationalen
Parametrisierbarkeit gewisser Hyperebenen zusammen, allerdings werden wir den
Zusammenhang (wenn überhaupt) erst sehr viel später verstehen.
\begin{satz}[Satz von Lüroth]
Betrachte eine Kette von Körpererweiterungen,
\[
⊆ L ⊆ (X_1,…,X_n).
\]
Falls $\trdeg(L/)\{1,2\}$ ist, dann ist $L/$ rein transzendent.
\qed
\end{satz}
Für $n ≥ 3$ wissen wir praktisch nichts.
%%% Local Variables:
%%% mode: latex
%%% TeX-master: "21-KA"
%%% End: