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\selectlanguage{german}
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\chapter{Worum geht es in dieser Vorlesung?}
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\sideremark{Vorlesung 1}In der Vorlesung „Algebra und Zahlentheorie“ haben wir
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im Wesentlichen einen Körper $k$ und ein Polynom in einer Variable mit
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Koeffizienten in $k$ betrachtet, $f ∈ k[x]$. Wir interessierten uns zum
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Beispiel für den Zerfällungskörper von $f$ und die zugeordnete Galoisgruppe
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$\Gal(f)$. In dieser Vorlesung machen wir das direkte Gegenteil: Wir betrachten
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wieder einen Körper $k$, aber dieses Mal nehmen wir ganz viele Polynome in ganz
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vielen Variablen, $f_1, …, f_n ∈ k[x_1, …, x_m]$. Wir interessieren uns für die
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Lösungsmenge des zugehörigen polynomialen Gleichungssystems
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\[
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A := \Bigl\{ \vec{x} ∈ k^m \::\: f_1(\vec{x}) = ⋯ = f_n(\vec{x}) = 0
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\Bigr\}.
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\]
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Wenn $k = ℝ$ oder $k = ℂ$ ist, dann induziert die übliche Topologie des
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$ℝ^m$ oder $ℂ^m$ eine metrische Topologie auf $A$. Häufig ist $A$ sogar
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eine Untermannigfaltigkeit. In diesen Fällen induziert die Euklidische oder
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Hermitesche Metrik des $ℝ^m$ oder $ℂ^m$ eine Riemannsche oder Hermitesche
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Metrik auf $A$ und es ist sinnvoll, $A$ mit Mittel der Differenzialgeometrie zu
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untersuchen. Mathematiker der unterschiedlichen Fachrichtungen werden Sie sich
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vielleicht die folgenden Fragen stellen.
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\begin{itemize}
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\item Zahlentheorie: Enthält die Menge $A$ Punkte mit ganzzahligen oder
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rationalen Koordinaten?
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\item Topologie: Kennen wir die
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\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Fundamentalgruppe}{Fundamentalgruppe}
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$π_1(A)$? Verstehen wir die simplizialen
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\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Homologietheorie}{Homologiegruppen}
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$H_i(A, ℤ)$?
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\item Differenzialgeometrie: Können wir etwas über die Krümmung von $A$ sagen?
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Wie sieht die \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Holonomie}{Holonomie} von
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$A$ aus? Ist $A$
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\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Satz_von_Hopf-Rinow#Geod\%C3\%A4tisch_vollst\%C3\%A4ndige_Mannigfaltigkeit}{geodätisch
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vollständig}? Wie sehen die lokalen/globalen Symmetriegruppen aus?
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\item Analysis: Gibt es auf dem Raum $A$ spezielle Metriken? Liefern uns die
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Lösungen geeigneter
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\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Monge-Amp\%C3\%A8resche_Gleichung}{Monge-Ampère-Differentialgleichungen}
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vielleicht sogar eine Ricci-flache
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\href{https://en.wikipedia.org/wiki/Einstein_manifold}{Kähler-Einstein-Metrik}?
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\end{itemize}
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Viele dieser Fragen betreffen Begriffe wie „Krümmung“ oder „Symmetrie“, die
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geometrischer Anschauung zugänglich sind. Die algebraischen Eigenschaften der
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Gleichungen $f_1$, …, $f_m$ sind nicht sehr anschaulich, erlauben aber direkte
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Rechnungen. Die „Algebraische Geometrie“ bringt diese Begriffe zusammen, wobei
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für viele Mathematiker das Zusammenspiel von „geometrischer Anschauung“ und
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„algebraischer Rechnung“ den Reiz des Gebietes ausmacht.
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Das Wort „Zusammenspiel“ klingt dabei vielleicht etwas vage. Tatsächlich gibt
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es aber sogar eine „Äquivalenz von Kategorien“. Konsequenz: jedes Objekt der
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Algebra und jeder Satz der Algebra ist ein Objekt oder Satz der Geometrie, und
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umgekehrt. Natürlich ist es nicht immer so, dass besonders einfache Sätze der
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Algebra auch zu besonders einfachen (oder: besonders anschaulichen) Sätzen der
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Geometrie gehören! Ich möchte mich in dieser Vorlesung nicht mit
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Kategorientheorie und der „Äquivalenz von Kategorien“ aufhalten. Stattdessen
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verfolge ich das bescheidenere Ziel, Stück für Stück ein Wörterbuch „Algebra $⇔$
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Geometrie“ zu entwickeln.
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\begin{bemerkung}
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Die Frage nach Zerfällungskörpern und Galoisgruppen die wir in der Vorlesung
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„Algebra und Zahlentheorie“ sind nur dann interessant, wenn der Körper $k$
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\emph{nicht} algebraisch abgeschlossen ist. Im Gegensatz dazu werden wir uns
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in dieser Vorlesung hauptsächlich für den algebraisch abgeschlossenen Fall
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interessieren. Der
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\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Hilbertscher_Nullstellensatz}{Hilbertsche
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Nullstellensatz}\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/David_Hilbert}{David
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Hilbert} (* 23.~Januar 1862 in Königsberg; † 14.~Februar 1943 in Göttingen)
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war ein deutscher Mathematiker. Er gilt als einer der bedeutendsten
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Mathematiker der Neuzeit. Viele seiner Arbeiten auf dem Gebiet der Mathematik
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und mathematischen Physik begründeten eigenständige Forschungsgebiete. Mit
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seinen Vorschlägen begründete er die bis heute bedeutsame formalistische
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Auffassung von den Grundlagen der Mathematik und veranlasste eine kritische
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Analyse der Begriffsdefinitionen der Mathematik und des mathematischen
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Beweises. Diese Analysen führten zum Gödelschen Unvollständigkeitssatz, der
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unter anderem zeigt, dass das Hilbertprogramm, die von ihm angestrebte
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vollständige Axiomatisierung der Mathematik, nicht gänzlich erfüllt werden
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kann. Hilberts programmatische Rede auf dem internationalen
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Mathematikerkongress in Paris im Jahre 1900, in der er eine Liste von 23
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mathematischen Problemen vorstellte, beeinflusste die mathematische Forschung
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des 20.~Jahrhunderts nachhaltig.} erklärt, warum.
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\end{bemerkung}
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