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\selectlanguage{german}
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\chapter{Irreduzible Mengen und Durchschnitte von Primidealen}
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Für algebraisch abgeschlossene Körper hatten wir im letzten Abschnitt mithilfe
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der Abbildungen $V$ und $I$ eine Bijektion
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\[
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\lbrace \text{algebraische Mengen} \rbrace \leftrightarrow \lbrace
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\text{Radikalideale} \rbrace
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\]
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konstruiert. Ich hatte schon erwähnt, dass es sich hier um mehr als eine
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Bijektion handelt, sondern um eine Äquivalenz von Kategorien. Es gibt also eine
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vollständige Entsprechung zwischen den Objekten der geometrisch-anschaulichen
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und den Objekten der algebraisch-abstrakten Seite dieser Äquivalenz. Ebenso hat
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jeder Satz der kommutativen Algebra eine entsprechende Formulierung als Satz der
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Geometrie. Ich möchte in dieser Vorlesung aber nicht die theoretische Seite
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dieser Äquivalenz betonen, sondern Zug um Zug ein ganz konkretes „Wörterbuch
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Algebra $\leftrightarrow$ Geometrie“ entwickeln.
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\begin{bsp}
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Korollar~\ref{cor:5-2-6} liefert den ersten Eintrag. Das Korollar zeigt
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nämlich, dass die Punkte des affinen Raumes $𝔸^•_k$ unter den Korrespondenzen
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$V$ und $I$ genau den maximalen Idealen des Polynomringes $k[x_1, …, x_•]$
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entsprechen. Wir halten fest:
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\[
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\{ \text{Punkte} \} \leftrightarrow \{ \text{maximale Ideale} \}
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\]
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\end{bsp}
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\section{Reduzible und irreduzible Mengen}
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Den zweiten Eintrag in unserem Wörterbuch hatte ich in Beispiel~\ref{bsp:2-1-8}
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vorbereitet. Das Achsenkreuz im $𝔸²_k$ besteht aus mehr als einer „Komponente“
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(nämlich der $x$-Achse und der $y$-Achse) weil das zugehörende Ideal $(x·y) ⊊
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k[x,y]$ kein Primideal ist. Das mathematisch korrekte Wort für „besteht aus
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mehr als einer Komponente“ heißt „reduzibel“.
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\begin{defn}[Reduzible und irreduzible Mengen]
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Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper, es sei $n ∈ ℕ$ eine Zahl
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und es sei $A ⊂ 𝔸^n_k$ eine algebraische Menge. Wenn es eine Darstellung $A
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= A_1 ∪ A_2$ von $A$ als Vereinigung von zwei echten\footnote{Erinnerung: Eine
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Teilmenge $B ⊆ A$ heißt „echt“, wenn $B ≠ ∅$ und $B ≠ A$ ist.} algebraischen
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Teilmengen gibt, dann nenne $A$ \emph{reduzibel}\index{reduzibel}. Ansonsten
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nenne $A$ \emph{irreduzibel}\index{irreduzibel}.
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\end{defn}
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\begin{bsp}
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Das Achsenkreuz im $𝔸²_k$ ist reduzibel, weil es die echte Vereinigung der
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algebraischen Teilmengen „$x$-Achse“ und „$y$-Achse“ ist.
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\end{bsp}
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Ich hoffe, Sie stimmen mir zu, dass der Begriff „reduzibel“ sehr anschaulich
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ist. Ich hatte oben schon angedeutet: Die algebraische Entsprechung von
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„irreduzibler algebraischer Menge“ ist „Primideal“.
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\begin{satz}[Irreduzible Mengen und Primideale]\label{satz:6-1-3}
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Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper, es sei $n ∈ ℕ$ eine Zahl
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und es sei $A ⊂ 𝔸^n_k$ eine algebraische Menge. Dann gilt: Die algebraische
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Menge $A$ ist genau dann irreduzibel, wenn $I(A) ⊂ k[x_1, …, x_n]$ ein
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Primideal ist.
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\end{satz}
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\begin{proof}[Beweis der Implikation „irreduzibel $⇒$ Primideal“]
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\video{6-3}
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\end{proof}
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\begin{proof}[Beweis der Implikation „Primideal $⇒$ irreduzibel“]
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\video{6-4}.
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\end{proof}
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Satz~\ref{satz:6-1-3} fügt unserem Wörterbuch einen zweiten Eintrag hinzu:
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\[
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\{ \text{irreduzible Mengen}\} \leftrightarrow \{\text{Primideale}\}.
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\]
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Der Satz kann uns auch dabei helfen, die Irreduzibilität einer algebraischen
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Menge zu beweisen.
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\begin{bsp}[Die Normalparabel ist irreduzibel]
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Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper; wir betrachten das Polynom
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$y-x² ∈ k[x,y]$. Das Ideal $(y-x²)$ ist prim, weil der Quotientenring
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$k[X,Y]/(y-x²)$ isomorph zu $k[x]$ ist\footnote{Betrachten Sie die Abbildung
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$k[x] → k[x,y] → k[x,y]/(y-x²)$} und deshalb insbesondere nullteilerfrei.
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Aus Satz~\ref{satz:6-1-3} folgt dann, dass die Normalparabel
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\[
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\bigl\{ (x,y) ∈ 𝔸²_k \::\: x²=y \bigr\}
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\]
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eine irreduzible algebraische Menge ist.
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\end{bsp}
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\begin{bemerkung}
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Wenn ich eine Menge zeichnen (oder mir zumindest vorstellen) kann, dann kann
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ich die Frage nach der Irreduzibilität meist sofort „durch Draufschauen“
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beantworten. Bei Mengen, die nicht so leicht vorzustellen sind (zum Beispiel
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Mengen von hoher Dimension) schaut man dumm. Tatsächlich ist es auch für den
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Algebraiker sehr schwer, zu entscheiden, ob ein gegebenes Ideal jetzt prim ist
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oder nicht.
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\end{bemerkung}
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\section{Zerlegung in irreduzible Komponenten}
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Anschaulich ist völlig klar, dass sich jede algebraische Menge auf eindeutige
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Weise als echte Vereinigung von irreduziblen Mengen schreiben lässt: Das
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Achsenkreuz besteht aus der $x$-Achse und der $y$-Achse. Wir werden dies im
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Folgenden kurz beweisen.
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\subsection{Algebraische Bedeutung der Zerlegung}
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Wenn ich kurz einmal glaube, dass jede algebraische Menge auf eindeutige Weise
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als echte Vereinigung von irreduziblen Mengen schreiben lässt, dann muss dem auf
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der algebraischen Seite eine Aussage gegenüberstehen, die sagt, dass jedes
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Radikalideal eindeutig durch Primideale dargestellt werden kann --wobei wir uns
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jetzt erst noch überlegen müssen, was „darstellen“ in diesem Kontext eigentlich
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bedeuten soll.
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\begin{beobachtung}\label{beo:6-2-1}
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Gegeben eine algebraische Menge $X$, die ich als Vereinigung von endliche
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vielen irreduziblen algebraischen Mengen schreiben kann, $X = X_1 ∪ ⋯ ∪ X_a$.
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Wir betrachten das Radikalideal $I := I(X)$ und die Primideale
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$I_• := I(X_•)$. Satz~\vref{satz:5-3-2} gibt uns in dieser Situation die
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Gleichungen
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\begin{equation}\label{eq:6-2-1-1}
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V(I) = V( I_1 ∩ ⋯ ∩ I_a ).
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\end{equation}
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Ich beobachte, dass der Durchschnitt $I_1 ∩ ⋯ ∩ I_a$ selbst ein Radikalideal
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ist. Das ist cool, denn ich erinnere mich daran, dass die Abbildung
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\[
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V : \{ \text{Radikalideale} \} → \{ \text{algebraische Mengen} \}
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\]
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bijektiv, also insbesondere injektiv ist. Wir erhalten also eine Gleichheit
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von Idealen,
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\[
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I = I_1 ∩ ⋯ ∩ I_a.
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\]
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\end{beobachtung}
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Ich fasse den Inhalt von Beobachtung~\ref{beo:6-2-1} noch einmal informell
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zusammen: Die geometrische Aussage „$X$ kann als Vereinigung von irreduziblen
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Mengen geschrieben werden“ ist also gleichbedeutend mit der algebraischen
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Aussage „$I$ ist Durchschnitt von Primidealen“. Die folgende Proposition
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formuliert den Sachverhalt noch einmal präzise und fügt unserem Wörterbuch eine
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besonders interessante Zeile hinzu.
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\begin{prop}[Algebraische Bedeutung der Zerlegung in irreduzible Komponenten]\label{prop:ziic}
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Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper und es sei $n ∈ ℕ$ eine
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Zahl. Dann sind die folgenden Aussagen gleichbedeutend.
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\begin{itemize}
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\item Jede algebraische Teilmenge des $𝔸^n_k$ kann auf eindeutige Weise als
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echte Vereinigung von irreduziblen algebraischen Mengen geschrieben werden.
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\item Jedes Radikalideal im Ring $k[x_1, …, x_n]$ kann auf eindeutige Weise
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als echter Durchschnitt von Primidealen geschrieben werden. \qed
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\end{itemize}
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\end{prop}
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Wenn Sie sich bei Proposition~\ref{prop:ziic} an die Aussage erinnert fühlen,
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dass jede Zahl auf eindeutige Weise als Produkt von Primzahlen geschrieben
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werden kann, liegen Sie natürlich völlig richtig.
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\subsection{Existenz und Eindeutigkeit von Zerlegungen}
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\sideremark{Vorlesung 7}Um den Abschnitt abzuschließen, muss ich noch zeigen,
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dass eine Zerlegung tatsächlich existiert.
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\begin{satz}[Existenz und Eindeutigkeit von Zerlegung in irreduzible Komponenten]\label{satz:6-2-3}
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Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper und es $X ⊆ 𝔸_k^n$ eine
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algebraische Teilmenge. Dann existiert eine Darstellung von $X$ als
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Vereinigung von irreduziblen algebraischen Teilmengen,
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\[
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X = X_1 ∪ ⋯ ∪ X_r
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\]
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wobei zusätzlich für alle Indizes $i ≠ j$ die Bedingung $X_i ⊄ X_j$ gilt. Die
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Darstellung ist eindeutig bis auf die Reihenfolge.
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\end{satz}
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\begin{notation}[Irreduzible Komponenten einer algebraischen Menge]
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In der Situation von Satz~\ref{satz:6-2-3} werden die $X_•$ als die
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\emph{irreduziblen Komponenten von $X$}\index{irreduzible Komponente einer
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algebraischen Menge} bezeichnet.
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\end{notation}
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Der Beweis von Satz~\ref{satz:6-2-3} kommt gleich. Zuerst benötige ich noch
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einige Vorüberlegungen.
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\begin{lem}[Existenz minimaler Mengen]
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In der Situation von Satz~\ref{satz:6-2-3} sei
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\[
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M ⊆ \mathcal{P}(𝔸^n_k)
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\]
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eine nicht-leere Menge von algebraischen Mengen des $𝔸^n_k$. Dann besitzt $X$
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ein Element, das minimales bezüglich Inklusion minimal ist.
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\end{lem}
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\begin{proof}
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Nach dem \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Lemma_von_Zorn}{Lemma von
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Zorn}\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Max_August_Zorn}{Max
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August Zorn} (* 6.~Juni 1906 in Krefeld; † 9.~März 1993 in Bloomington,
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Indiana, USA) war ein US-amerikanischer Professor der Mathematik deutscher
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Abstammung.} genügt es zu zeigen, dass jede absteigende Kette
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\[
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M_1 ⊇ M_2 ⊇ ⋯
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\]
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von algebraischen Mengen $M_i \in M$ stationär wird. Mit anderen Worten:
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\[
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∃ m ∈ ℕ: M_m = M_{m+1} = M_{m+2} = ⋯
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\]
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gilt. Wir betrachten die zugehörige Kette von Idealen $I(M_1) ⊆ I(M_2) ⊆ ⋯$.
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Weil der Ring $k[x_1, …, x_n]$ Noethersch ist, wird diese Kette stationär. Mit
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anderen Worten:
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\[
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∃ m ∈ ℕ: I(M_m) = I(M_{m+1}) = I(M_{m+2}) = ⋯.
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\]
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Weil die Abbildungen $I$ und $V$ bijektiv sind, folgt die Behauptung.
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\end{proof}
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\begin{lem}
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In der Situation von Satz~\ref{satz:6-2-3} sei $X=X_1 ∪ ⋯ ∪ X_r$ irgendeine
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Darstellung von $X$ als Vereinigung von endlich vielen irreduziblen
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algebraischen Mengen. Sei $p ⊇ I(X)$ irgendein Primideal. Dann gibt es einen
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Index $i$, sodass $p ⊇ I(X_i)$ ist.
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\end{lem}
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\begin{proof}
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Wir führen einen Widerspruchsbeweis und nehmen an, dass es für jeden Index $i$
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ein Element $f_i ∈ I(X_i)∖p$ gibt. Dann gilt für das Produkt dieser Elemente
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die Inklusion
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\[
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f_1 ⋯ f_r ∈ \bigcap_{i = 1}^r I(X_i) = I(X) ⊆ p.
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\]
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Kurz: das Produkt der Elemente $f_•$ (die alle nicht in $p$ liegen), liegt in
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$p$. Dies ist ein Widerspruch zur Annahme, dass $p$ ein Primideal ist.
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\end{proof}
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\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:6-2-3}, Existenz von Zerlegungen]
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\video{7-1}
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\end{proof}
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\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:6-2-3}, Eindeutigkeit von Zerlegungen]
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\video{7-2}
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\end{proof}
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Wenn Sie sich den Beweis für die Existenz von Zerlegungen anschauen, werden Sie
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sehen: der tiefere Grund für die Existenz ist der
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\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Hilbertscher_Basissatz}{Hilbertsche
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Basissatz}, nach dem der Polynomring $k[x_1, …, x_n]$ Noethersch ist. Diese
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Interpretation der Noether-Eigenschaft ist vielleicht wieder einen Eintrag in
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unser Wörterbuch wert. Tabelle~\ref{tab:6-1} fasst die Ergebnisse dieses
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Kapitels zusammen.
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\begin{table}
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\centering
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\begin{tabular}{p{7cm}p{7cm}}
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\rowcolor{lightgray} \textbf{Algebra} & \textbf{Geometrie} \\
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Radikalideale & algebraische Mengen \\
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maximale Ideale & Punkte \\
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Primideale & irreduzible Mengen \\
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Radikalideale sind Durchschnitte von Primidealen & Zerlegung von algebraischen Mengen in irreduzible Komponenten \\
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Noether-Eigenschaft des Polynomrings & Existenz von Zerlegungen
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\end{tabular}
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\caption{Wörterbuch: algebraische Teilmengen des affinen Raums}
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\label{tab:6-1}
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\end{table}
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%%% Local Variables:
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%%% mode: latex
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%%% TeX-master: "21-KA"
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%%% End:
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