% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Der projektive Raum} \section{Definition und Konstruktion} \sideremark{Vorlesung 19}Die Definition des projektiven Raums ist eigentlich schrecklich einfach: Der projektive Raum $ℙ^n$ ist die Menge der Ursprungsgeraden im $k^{n+1}$. Um eine Ursprungsgerade anzugeben, genügt es natürlich einen Punkt im $k^{n+1}$ anzugeben (wobei dies besser nicht der Nullpunkt sein sollte). Zwei Punkte im $k^{n+1}$ liefern dieselbe Ursprungsgerade, wenn sie sich nur um einen konstanten Faktor unterscheiden (wobei der Faktor besser nicht die Zahl 0 sein sollte). \begin{defn}[Der projektive Raum]\label{defn:15-1-1} Es sei $k$ ein Körper und es sei $n ∈ ℕ$ eine Zahl. Nenne zwei Vektoren $\vec{x}_1$, $\vec{x}_2 ∈ k^{n+1} ∖ \{ \vec{0}\}$ äquivalent, wenn es ein Skalar $λ ∈ k^*$ gibt, sodass $\vec{x_1} = λ·\vec{x_2}$ ist. Dies ist offenbar eine Äquivalenzrelation, der Quotient wird als \emph{projektiver Raum}\index{projektiver Raum} bezeichnet. Die Schreibweise $ℙ^n$ ist üblich. Die Äquivalenzklasse eines Vektors \[ \vec{v} = \begin{pmatrix} x_1 \\ \vdots \\ x_n \end{pmatrix} ∈ k^{n+1} ∖ \{ \vec{0}\} \] wird meist mit $[\vec{v}]$ oder $[x_1 : ⋯ : x_n]$ bezeichnet. \end{defn} \begin{bsp} Im projektiven Raum $ℙ²_{ℂ}$ gilt die Gleichung $[1:2:3] = [2:4:6]$. Die Ausdrücke \[ \bigl\{ [x_1 : x_2 : x_3] ∈ ℙ²_k \::\: x_1+2·x_2-x_3 = 0 \bigr\}, \quad % \bigl\{ [x_1 : x_2 : x_3] ∈ ℙ²_k \::\: x_1·x_2-x²_3 = 0 \bigr\} \] beschreiben eine sinnvoll definierte Teilmenge des $ℙ²_k$. Im Vergleich dazu ist der Ausdruck \[ \bigl\{ [x_1 : x_2 : x_3] ∈ ℙ²_k \::\: x_1 = 1 \bigr\} \] völlig unsinnig. \end{bsp} \subsection{Andere, äquivalente Definitionen} Im Vergleich zur äquivalenten Definition ``der projektive Raum ist die Menge der Ursprungsgeraden im $k^{n+1}$'' ist Definition~\ref{defn:15-1-1} vielleicht etwas technischer, aber dafür in der Praxis bequemer anzuwenden. Als weitere (und ebenfalls äquivalente) Definition könnte man die Gruppenwirkung \[ k^* ⨯ \left( k^{n+1} ∖ \bigl\{ \vec{0} \bigr\} \right), \quad \bigl(λ, \vec{v}\bigr) ↦ λ·\vec{v} \] betrachten und den projektiven Raum als den Bahnenraum dieser Wirkung definieren. Im Fall $k = ℝ$ könnte man auch die Einheitssphäre $S^{n} ⊂ ℝ^{n+1}$ betrachten und sich überlegen, dass jede Ursprungsgerade die Sphäre in genau zwei Antipodenpunkten schneidet. Der projektive Raum $ℙ^n_ℝ$ kann also auch als Quotient der Sphäre definiert werden, \[ ℙ^n_ℝ = \factor{S^n}{\{± 1\}}, \] wobei die Gruppe $\{ ± 1\}$ auf $S^n$ durch Multiplikation wirkt, also jeweils genau die Antipodenpunkte vertauscht. \begin{aufgabe}[Schärfen Sie Ihre Intuition!] Überlegen Sie sich, dass $ℙ¹_ℝ$ topologisch isomorph zum Einheitskreis ist. Wie stellen sie sich im Vergleich dazu die reelle projektive Ebene $ℙ²_ℝ = \factor{S²}{\{± 1\}}$ vor? Warum gibt es zwischen diesen beiden Beispielen so große Unterschiede? Und warum zeige ich Ihnen jetzt \href{https://opc.mfo.de/detail?photo_id=23998}{dieses Foto von Andreas Demleitner}? \end{aufgabe} \begin{aufgabe}[Schärfen Sie Ihre Intuition!] Der projektive Raum $ℙ¹_ℂ$ ist eine reell-zweidimensionale Mannigfaltigkeit. Welche? Wie stellen Sie sich diesen Raum vor? Warum ist $ℙ¹_ℂ$ so viel einfacher als $ℙ²_ℝ$? \end{aufgabe} \section{Der projektive Raum als Vervollständigung des affinen Raums} \label{sec:15-2} Im Abschnitt~\ref{sec:14-1} hatte ich erklärt, dass der projektive Raum eine Vervollständigung des affinen Raums sein sollte. Bislang ist dieser Zusammenhang aber vielleicht nicht sehr klar. Jetzt muss ich also erklären, wieso der affine Raum eine Teilmenge des projektiven Raumes ist und wo die ``unendlich fernen Punkte'' eigentlich sind. \begin{bsp}[Der projektive Raum als Vervollständigung des affinen Raums]\label{bsp:pss} Wir betrachten den Anschauungsraum $ℝ³$. Zeichnen Sie dazu auf ihrer Tischplatte die $x$- und $y$-Achse ein; die $z$-Achse geht nach oben. Jetzt betten Sie die Euklidische Ebene $ℝ²$ in den $ℝ³$ ein. Ich mache dies, indem ich mithilfe der Abbildung \[ ι : ℝ² → ℝ³, \quad (x,y) ↦ (x,y,1) \] die Euklidische Ebene mit der Menge $\{ (x,y,z) ∈ ℝ³ \::\: z = 1 \}$ identifiziere. Nehmen Sie als Euklidische Ebene ein sauberes Blatt Papier, tragen Sie auch dort die $x$- und $y$-Achse ein und halten Sie das Blatt eine handbreit über den Tisch. Jeder Punkt $(x,y) ∈ ℝ²$ liefert mir jetzt einen Punkt auf dem Papier, dessen Koordinaten im Anschauungsraum gleich $ι(x,y) = (x,y,1)$ sind. Die Ursprungsgerade durch diesen Punkt ist die Gerade $[x:y:1]$. Wir erhalten auf diese sehr geometrische Weise eine injektive Abbildung \[ φ_2 : ℝ² → ℙ²_ℝ, \quad (x,y) ↦ [x:y:1], \] die es uns erlaubt, die Ebene $ℝ²$ als Teilmenge des $ℙ³_{ℝ}$ aufzufassen. Die Abbildung $φ_2$ ist natürlich nicht surjektiv. Überlegen Sie sich, dass die Menge der Punkte, die \emph{nicht} im Bild von $φ_2$ liegen, exakt die Menge \[ ℓ := \bigl\{ [x:y:z] ∈ ℙ²_ℝ \::\: z = 0 \bigr\}. \] ist. Man nennt $ℓ$ die Menge der ``unendlich fernen Punkte''. Die Abbildung \[ ℙ¹_ℝ → ℙ²_ℝ, \quad [x:y] ↦ [x:y:0] \] identifiziert die Menge $ℓ$ mit der projektiven Gerade $ℙ¹_ℝ$. \end{bsp} \begin{aufgabe}[Schärfen Sie Ihre Intuition!] Wir bleiben bei Beispiel~\ref{bsp:pss}. Zeichnen Sie auf das Blatt Papier (das immer noch eine handbreit über der Tischplatte schwebt) die Gerade \[ G := \bigl\{ (x,y) ∈ ℝ² \::\: a·x+b·y = 0 \bigr\}. \] Verfolgen Sie die Gerade ins Unendliche und verfolgen Sie die zugehörenden Ursprungsgeraden (= Punkte des $ℙ²_ℝ$). Welche Ursprungsgerade (= welcher Punkt des $ℙ²_ℝ$) ergibt sich als Grenzwert? Zeichnen Sie jetzt eine zu $G$ parallele Gerade und lösen Sie dieselbe Aufgabe. Erkennen Sie, dass die ``unendlich fernen'' Punkte etwas mit ``Asymptotenrichtungen'' zu tun haben. \end{aufgabe} \begin{aufgabe}[Schärfen Sie Ihre Intuition!]\label{exe:15-2-3} Wir bleiben bei Beispiel~\ref{bsp:pss}. Zeichnen Sie auf das Blatt Papier (das immer noch eine handbreit über der Tischplatte schwebt) die Normparabel \[ P := \bigl\{ (x,y) ∈ ℝ² \::\: y = x² \bigr\}. \] Verfolgen Sie die beiden Äste der Parabel ins Unendliche. Welche Ursprungsgeraden (= welche Punkte des $ℙ²_ℝ$) ergeben sich als Grenzwert? Wie wird die Parabel durch die Hinzunahme der unendlich fernen Punkte kompaktifiziert und welcher Raum entsteht dadurch? \end{aufgabe} \begin{aufgabe}[Schärfen Sie Ihre Intuition!]\label{exe:15-2-4} Wir bleiben bei Beispiel~\ref{bsp:pss}. Zeichnen Sie auf das Blatt Papier (das immer noch eine handbreit über der Tischplatte schwebt) die Normhyperbel \[ H := \bigl\{ (x,y) ∈ ℝ² \::\: x·y = 1 \bigr\}. \] Verfolgen Sie die vier Äste der Hyperbel ins Unendliche. Welche Ursprungsgeraden (= welche Punkte des $ℙ²_ℝ$) ergeben sich als Grenzwert? Wie wird die Hyperbel durch die Hinzunahme der unendlich fernen Punkte kompaktifiziert und welcher Raum entsteht dadurch? \end{aufgabe} \begin{aufgabe}[Schärfen Sie Ihre Intuition!] In der Vorlesung ``Lineare Algebra'' hatten Sie den Satz des Appolonius von Perge\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Apollonios_von_Perge}{Apollonios von Perge} (lateinisch Apollonius Pergaeus; * ca.\ 265 v.\ Chr.\ in Perge; † ca.\ 190 v.\ Chr.\ in Alexandria) war ein antiker griechischer Mathematiker, bekannt für sein Buch über Kegelschnitte. In der Astronomie trug er zur Theorie der Mond- und Planetenbewegung bei, die später Ptolemäus in sein Lehrbuch übernahm.} kennengelernt, der die Koniken\footnote{Im Zweidimensionalen gilt: Konik = Kegelschnitt = Lösungsmengen von Gleichung vom Grad zwei} klassifiziert. Vergleichen Sie Ihre Lösungen der Aufgaben~\ref{exe:15-2-3} und \ref{exe:15-2-4} und erkennen Sie, dass der projektive Raum die Klassifikation offenbar erheblich vereinfacht! \end{aufgabe} \begin{notation}[Standardmengen und unendlich ferne Punkte]\label{not:15-2-6} Gegeben einen Körper $k$ und Zahlen $i ≤ n$, dann diskutiert man im Zusammenhang mit projektiven Räumen oft die Mengen \[ U_i := \bigl\{ [x_0 : ⋯ : x_n] ∈ ℙ^n_k \::\: x_i ≠ 0 \bigr\}. \] Die Abbildungen \[ φ_i : 𝔸^n_k → U_i, \quad (x_1, …, x_n) ↦ [x_1, …, x_{i-1}, 1, x_i, …, x_n] \] sind bijektiv. Es ist üblich, sich auf die Abbildung $φ_n$ zu konzentrieren und den affinen Raum $𝔸^n_k$ mithilfe dieser Abbildung als Teilmenge des $ℙ^n_k$ aufzufassen. Das Komplement \[ ℙ^n_k ∖ U_0 = \bigl\{ [x_0 : … : x_n] ∈ ℙ^n_k \::\: x_n ≠ 0 \bigr\} \] wird dabei als Menge der \emph{unendlich fernen Punkte}\index{unendlich ferne Punkte} bezeichnet. Die Abbildung \[ ℙ^{n-1}_k → ℙ^n_k, \quad [x_0 : … : x_{n-1}] ↦ [x_0 : … : x_{n-1} : 1] \] identifiziert die Menge der unendlich fernen Punkte mit einem projektiven Raum kleinerer Dimension. Die Vereinigung der Mengen $U_i$ ist offenbar der ganze projektive Raum. Man nennt die $U_i$ daher oft die \emph{Standardüberdeckung des projektiven Raums}\index{Standardüberdeckung des projektiven Raums}. Die Abbildungen $φ_i$ werden oft als \emph{Standardkarten des projektiven Raums}\index{Standardkarten des projektiven Raums} bezeichnet. \end{notation} \begin{bemerkung}[Der projektive Raum als Mannigfaltigkeit] Es sei $k = ℝ$ oder $k = ℂ$. Wenn Sie Analysis~III, Differenzialgeometrie oder eine ähnliche Vorlesung gehört haben, dann wissen Sie, dass die Abbildungen $φ_i$ aus Notation~\ref{not:15-2-6} Karten sind, die die Menge $ℙ^n_k$ mit der Struktur einer differenzierbaren (bzw.~holomorphen) Mannigfaltigkeit versehen. \end{bemerkung} \subsection{Projektivitäten} Die Diskussion des affinen Raumes führt früher oder später zur Diskussion des Symmetriegruppe des affinen Raumes, nämliche der Gruppe der affinen Transformationen, an die ich in \ref{erinn:14-2-1} ja nocheinmal erinnert hatte. Das projektive Gegenstück zur affinen Transformation ist die projektive Transformation, die in der Literatur oft auch als ``projektivität'' bezeichnet wird. \begin{defn}[Projektivitäten] Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper. Eine Abbildung $φ : ℙ^n → ℙ^n$ heißt \emph{projektive Transformation}\index{projektive Transformation} oder \emph{Projektivität}\index{Projektivität}, wenn es eine invertierbare Matrix $A ∈ \GL_{n+1}(k)$ gibt, sodass für alle $\vec v ∈ k^{n+1}$ die Gleichung \[ φ\left(\left[\vec v\right]\right) = \left[A·\vec{v}\right] \] gilt. \end{defn} Über Projektivitäten lässt sich viel sagen ($→$ Vorlesung ``Elementargeometrie''). Ich beschränke mich hier nur auf folgende Bemerkung. Manche der Projektivitäten werden die Menge $U_2$ wieder auf die Menge $U_2$ abbilden. Gegeben eine solche Projektivität $φ$, so erhält man also Abbildungen $𝔸²_k ≅ U_2 \xrightarrow{φ} U_2 ≅ 𝔸²_k$. Überlegen Sie sich, dass die Abbildungen $𝔸²_k → 𝔸²_k$, die man auf diese Weise erhält, exakt die affinen Transformationen der affinen Ebene $𝔸²_k$ sind. In diesem Sinne verallgemeinern die Projektiven die affinen Transformationen also. %%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "21-KA" %%% End: