% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Schnittzahlen von Kurven} \section{Worum geht es} \label{sec:14-1} \sideremark{Vorlesung 18}Der Körper $ℂ$ ist einfacher als der Körper $ℝ$, weil jedes Polynom $p ∈ ℂ[x]$ genau $d = \deg p$ viele Nullstellen hat, wobei die Nullstellen natürlich mit der richtigen Multiplizität gezählt werden müssen. Über dem Körper $ℝ$ wissen wir lediglich, dass ein Polynom $p ∈ ℝ[x]$ höchstens $d = \deg p$ viele Nullstellen hat; bereits die Diskussion von Polynomen kleinen Grades führt zu sehr unangenehmen Fallunterscheidungen. Der Geometer würden den Sachverhalt vielleicht anders ausdrücken. Gegeben ein Polynom $p ∈ ℂ[x]$, dann betrachte die folgenden die Kurven im $𝔸²_ℂ$. \begin{itemize} \item Der Funktiongraf von $p$, also die Kurve $V\bigl(y-p(x)\bigr)$. Dies ist eine Kurve von Grad $\deg p$. \item Die $x$-Achse, also die Kurve $V(y)$. Dies ist eine Kurve von Grad 1. \end{itemize} Der Geometer stellt fest, dass sich diese beiden Kurven in genau $\deg p$ vielen Punkten schneiden, wobei die Punkte natürlich mit der richtigen Multiplizität gezählt werden müssen. Man könnte hoffen, dass dies allgemeiner gilt. \begin{wunsch} Gegeben zwei ebene algebraische Kurven $C_1$ und $C_2$ in $𝔸²_ℂ$, gegeben durch Polynome vom Grad $d_1$ und $d_2$. Dann schneiden sich die Kurven $C_1$ und $C_2$ in genau $d_1·d_2$ vielen Punkten, wobei die Schnittpunkte natürlich mit der richtigen Multiplizität gezählt werden müssen. \end{wunsch} Leider ist das mit dem Wünschen so eine Sache. Wenn man sich viele Beispiele anschaut, dann stellt man fest: Selbst wenn man alle Punkte mit der richtigen Multiplizität zählt, schneiden sich Kurven in höchstens $d_1·d_2$ vielen Punkten. Bereits die Diskussion von Kurven kleinen Grades führt zu sehr unangenehmen Fallunterscheidungen. Das haben wir eigentlich schon in der Schule gelernt. \begin{quote} Es seien $ℓ_1$ und $ℓ_2$ zwei unterschiedliche Geraden im $𝔸²_ℂ$. Dann schneiden sich $ℓ_1$ und $ℓ_2$ stets in genau einem Punkt, es sei denn, $ℓ_1$ und $ℓ_2$ sind parallel. \end{quote} \begin{aufgabe} Wann schneiden sich eine Gerade und eine Konik (=Kurve von Grad zwei) in keinem, einen oder zwei Punkten? \end{aufgabe} Die Lösung für die Schwierigkeit mit den parallelen und nicht-parallelen Geraden kannte schon mein Physik-Lehrer: „Zwei parallele Geraden schneiden sich im unendlichen“. Das Ziel in letzten Teil dieser Vorlesung ist, den affinen Raum $𝔸^n_k$ durch „unendlich ferne Punkte“ zum „projektiven“ Raum $ℙ^n_k$ zu ergänzen. Diese soll die Eigenschaft haben, dass sich zwei Geraden stets in einem Punkt schneiden. Allgemeiner soll also gelten: zwei Kurven $C_1$ und $C_2$ vom Grad $d_1$ und $d_2$ schneiden sich in $ℙ²_k$ stets in $d_1·d_2$ vielen Punkten, wobei die Schnittpunkte natürlich mit der richtigen Multiplizität gezählt werden müssen. \begin{figure} \centering \includegraphics[width=12cm]{figures/14-unsplash.jpg} \caption{Der projektive Raum} Foto von \href{https://unsplash.com/@smileprem?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText}{Premkumar Masilamani} auf \href{https://unsplash.com/s/photos/infinity?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText}{Unsplash} \label{fig:p1} \end{figure} \section{Schnittzahlen von ebenen algebraischen Kurven} Bevor wir den projektiven Raum tatsächlich konstruieren, muss ich vielleicht erst einmal klären, was es überhaupt heißen soll „Schnittpunkte mit der richtigen Multiplizität zu zählen“. Das erste Zwischenziel ist also, für ebene algebraische Kurven $F$ und $G$ und Punkte $p ∈ 𝔸²$ zu definieren, was die „Schnittmultiplizität von $F$ und $G$ im Punkt $p$“ genau sein soll. Dieses Kapitel ist aus \cite[Sect.~3.3]{MR1042981} abgeschrieben, wo Sie die Sachen ebenfalls sehr gut erklärt finden. \subsection{Das große Wunschkonzert} Weihnachten ist weit weg. Dennoch fasse ich mal alle Punkte zusammen, die eine sinnvolle Definition von Schnittmultiplizität meiner Meinung nach erfüllen sollte. \begin{erinnerung}[Affine Transformationen]\label{erinn:14-2-1}% Es sei $k$ ein Körper. Eine Abbildung $φ : k^n → k^n$ heißt \emph{affine Transformation}\index{affine Transformation}, wenn es eine Matrix $A ∈ \operatorname{Mat}(n⨯n, k)$ und einen Vektor $b ∈ k^n$ gibt, sodass für alle $v ∈ k^n$ die Gleichung $φ(v) = A·v + b$ gilt. Wir verwenden den Begriff „affine Transformation“ auch dann, wenn wir statt $k^n$ den topologischen Raum $𝔸^n_k$ betrachten (der als Menge ja genau $k^n$ ist). \end{erinnerung} \begin{wunsch}[Wir erträumen uns eine Schnittzahl]\label{wunsch:sz}% Gegeben sei ein algebraisch abgeschlossenen Körper $k$. Die Schnittmultiplizität sollte eine idealerweise eine Funktion \[ \Int : \{ \text{ebene alg.~Kurven in } 𝔸²_k \} ⨯ \{ \text{ebene alg.~Kurven in } 𝔸²_k \} ⨯ 𝔸²_k → ℕ ∪ \{ ∞ \} \] sein, sodass für alle ebenen algebraischen Kurven $F$, $G$ und alle Punkte $p ∈ 𝔸²$ folgende Eigenschaften gelten. \begin{enumerate} \item\label{il:14-2-1-1} Es gilt genau dann $\Int_p(F, G) = ∞$, wenn $F$ und $G$ eine gemeinsame Komponente durch $p$ enthalten. \item\label{il:14-2-1-2} Es gilt genau dann $\Int_p(F, G) = 0$, wenn sich die Kurven $F$ und $G$ bei $p$ gar nicht schneiden. Allgemeiner: die Schnittzahl $\Int_p(F,G)$ hängt nur von denjenigen Komponenten von $F$ und $G$ ab, die den Punkt $p$ auch enthalten. \item\label{il:14-2-1-3} Schnittzahlen sind invariant unter affinen Transformationen. Genauer: für jede affine Transformation $T: 𝔸² → 𝔸²$ gilt die Gleichung \[ \Int_p(F, G) = \Int_{T^{-1}(p)}(F◦T, G◦T). \] \item\label{il:14-2-1-4} Schnittzahlen sind invariant unter Vertauschung der Kurven. Genauer gesagt: Es ist $\Int_p(F,G) = \Int_p(G,F)$. \item\label{il:14-2-1-5} Es gilt stets $\Int_p(F,G) ≥ \mult_p(F) · \mult_p(G)$, wobei Gleichheit genau dann gilt, wenn die Kurven $F$ und $G$ im Punkt $p$ keine gemeinsamen Tangentialgerade haben. \item\label{il:14-2-1-6} Schnittzahlen sind additiv in Komponenten. Genauer: falls $F = \prod F_i$ ist, dann ist \[ \Int_p(F,G) = \sum_i \Int_p(F_i, G). \] \item\label{il:14-2-1-7} Die Schnittzahl hängt nur von der Klasse von $G$ im Quotientenring $k[x,y]/(F)$ ab. Genauer: für alle $H ∈ k[x,y]$ ist \[ \Int_p(F,G) = \Int_p(F, G + H· F). \] \end{enumerate} \end{wunsch} \begin{bemerkung} Beachten Sie zu \ref{il:14-2-1-3}, dass der Punkt $T^{-1}(p)$ genau dann auf der Kurve $F◦T$ liegt, wenn $p$ auf der Kurve $T$ liegt, ebenso natürlich für die Kurve $G$. Oder habe ich mich mit den Vorzeichen geirrt? \end{bemerkung} \begin{aufgabe} Machen Sie sich klar, was die Bedingungen aus Wunsch~\ref{wunsch:sz} bedeuten. Schauen Sie sich einfache Beispiele an, besonders Beispiele, wo $F(x,y) = y-f(x)$, $G(x,y) = y$, wo $x_0$ eine Nullstelle der Funktion $f$ und wo $p = (x_0, 0)$ ist. \end{aufgabe} \subsection{Träume werden wahr} Sie werden es sich schon denken. Es gibt genau eine Definition von „Schnittzahl“, die alle Bedingungen aus Wunsch~\ref{wunsch:sz} erfüllt. Bevor ich Eindeutigkeit und Existenz beweise, erinnere erst ich noch an einige Tatsachen, die wir später benötigen. \begin{erinnerung}\label{erin:14-2-5}% Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper und es sei $I ⊂ k[x,y]$ ein Ideal, sodass $V(I) = \{ p \}$ ist ein einzelner Punkt ist. Bezeichne das maximale Ideal des Punktes $p$ mit $m ⊊ k[x,y]$ und betrachte die folgende kurze exakte Sequenz von $k[x,y]$-Moduln, \[ 0 → I → k[x,y] → \underbrace{\factor{k[x,y]}{I}}_{=: R} → 0. \] Weil lokalisieren ein exakter Funktor ist, gilt \[ R ≅ \factor{𝒪_p(𝔸²_k)}{I·𝒪_p(𝔸²_k)}. \] Auf der anderen Seite haben wir in Lemma~\vref{lem:11-1-4} gesehen, dass die Lokalisierungsabbildung $R → R_m$ in diesem speziellen Fall ein Isomorphismus ist. Insbesondere ist $R$ selbst bereits ein lokaler Ring. Ich behaupte noch, dass die Dimension von $R$ als $k$-Vektorraum endlich ist. Das beweise ich aber nur im Fall, wo $p$ der Nullpunkt ist. Dann ist nämlich $\sqrt{I} = (x,y)$, und deshalb existiert eine Zahl $n$, sodass $x^n ∈ I$ und $y^n ∈ I$ sind. Die Monome $\{xⁱ·y^j \::\: 0≤ i,j < n\}$ bilden dann ein Erzeugendensystem von $R$ als $k$-Vektorraum. \end{erinnerung} \begin{eerinnerung}\label{erin:14-2-6}% Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper und es sei $I ⊂ k[x,y]$ ein Ideal, sodass $V(I) = \{ p_1, …, p_n \}$ ist eine endliche Menge von Punkten ist. Dann ist $R$ isomorph zum kartesischen Produkt von lokalen Ringen, \[ R ≅ \left( \factor{𝒪_{p_1}(𝔸²_k)}{I·𝒪_{p_1}(𝔸²_k)} \right) ⨯ ⋯ ⨯ \left( \factor{𝒪_{p_n}(𝔸²_k)}{I·𝒪_{p_n}(𝔸²_k)} \right), \] und $\dim_k R < ∞$. \end{eerinnerung} \begin{satz}[Existenz und Eindeutigkeit von Schnittzahlen]\label{satz:EES}% Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper. Dann gibt es genau eine Definition von \emph{Schnittzahl}\index{Schnittzahl!von ebenen algebraischen Kurven}, sodass die Eigenschaften~\ref{il:14-2-1-1}--\ref{il:14-2-1-7} gelten. \end{satz} \begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:EES} --- Eindeutigkeit] \video{18-1} \end{proof} \begin{bemerkung}\label{bem:14-2-8}% Beachten Sie, dass der Eindeutigkeitsbeweis völlig konstruktiv ist und sogar einen Algorithmus liefert, mit dessen Hilfe man Schnittzahlen konkret ausrechnen kann, falls eine gültige Definition von Schnittzahlen überhaupt existiert. Beachten Sie auch, dass wir im Beweis gar nicht alle Eigenschaften \ref{il:14-2-1-1}--\ref{il:14-2-1-7} vollständig verwendet haben\footnote{Welche Eigenschaften wurden \emph{nicht} verwendet?}. Das zeigt, dass es in der Liste der Eigenschaften offenbar viel Redundanz gibt, und dass Schnittzahlen schon durch eine kleinere Liste vollständig beschrieben wären. \end{bemerkung} \begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:EES} --- Eindeutigkeit] Ich beweise die Existenz nicht abstrakt, sondern werde zeigen, dass die Abbildung \[ \begin{matrix} \Int : & \{ \text{Kurven in } 𝔸²_k \} ⨯ \{ \text{Kurven in } 𝔸²_k \} ⨯ 𝔸²_k & → & ℕ ∪ \{ ∞ \} \\ & (F, G, p) & ↦ & \dim_k \factor{𝒪_p(𝔸²)}{(F,G)·𝒪_p(𝔸²)} \end{matrix} \] alle gewünschten Eigenschaften hat. Einige dieser Eigenschaften lassen sich schnell zeigen. Zunächst beobachte ich, dass diese Definition nicht direkt von den Kurven $F$ und $G$ abhängt, sondern lediglich von dem Ideal $(F,G)$. Damit ergeben sich die Eigenschaften \ref{il:14-2-1-4} und \ref{il:14-2-1-7} direkt. Als Nächstes erinnere ich daran, dass affine Transformationen stets Isomorphismen der affinen Ebene $𝔸²_k$ sind und deshalb auch Isomorphismen der betreffenden lokalen Ringen liefern. Damit ergibt sich Eigenschaft \ref{il:14-2-1-3}. Es gibt noch einen Punkt, den ich schnell beweisen kann. Wenn nämlich $H$ eine Kurve ist, die den Punkt $p$ nicht enthält, dann ist das Element $H$ (genauer: $\frac{H}{1}$) im lokalen Ring $𝒪_p(𝔸²)$ eine Einheit. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen. \begin{itemize} \item Es ist $(F,H)·𝒪_p(𝔸²) = 𝒪_p(𝔸²)$. Also ist $\Int_p(F,H)=0$. \item Es ist $(F,G)·𝒪_p(𝔸²) = (F·H,G)·𝒪_p(𝔸²)$. Also sehen wir, dass die Zahl $\Int_p(F,H)$ tatsächlich nur den denjenigen Komponenten abhängt, die den Punkt $p$ tatsächlich enthalten. \end{itemize} Insgesamt ergibt sich aus diesen beiden Konsequenzen die Eigenschaft~\ref{il:14-2-1-2}. Die verbleibenden Eigenschaften sind etwas aufwändiger zu zeigen. \begin{itemize} \item Eigenschaft~\ref{il:14-2-1-1} wird im \video{18-2} gezeigt. \item Eigenschaft~\ref{il:14-2-1-5} wird überhaupt nicht gezeigt. Ich verweise stattdessen auf das Buch \cite{MR1042981}. Vielleicht machen wir auch eine ausführliche, angeleitete Übungsaufgabe. \item Eigenschaft~\ref{il:14-2-1-6} wird im \video{18-3} gezeigt. \qedhere \end{itemize} \end{proof} %%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "21-KA" %%% End: