% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Ebene Kurven und ihre singulären Punkte} \label{chap:9} \sideremark{Vorlesung 11}Nach dem etwas rechenaufwändigen Kapitel über Gröbnerbasen möchte ich zurück zur Geometrie. Zu den einfachsten Varietäten gehören die ebene, algebraischen Kurven. Dies sind algebraische Menge im $𝔸²$, die sich als Nullstellenmenge eines einzigen Polynoms schreiben lassen. Dieses Kapitel orientiert sich an dem Lehrbuch \cite{MR1042981}, wo Sie den Stoff ebenfalls sehr gut erklärt finden. \section{Ebene Kurven} Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper. Gegeben ein Polynom $f ∈ k[x,y] ∖ \{0 \}$ und ein Skalar $λ ∈ k^*$, dann haben $f$ und $λ·f$ natürlich dieselbe Nullstellenmenge. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, ebene algebraische Kurven als \emph{Äquivalenzklassen} von Polynomen zu definieren. \begin{defn}[Ebene algebraische Kurve]\label{def:eak} Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper. Eine \emph{ebene algebraische Kurve über $k$}\index{ebene algebraische Kurve} ist eine Äquivalenzklasse von Polynomen in $k[x,y] ∖ \{ 0 \}$, wobei zwei Polynome $f$ und $g$ äquivalent sind, wenn ein $λ ∈ k^*$ existiert, sodass $f = λ·g$ ist. \end{defn} \begin{notation} Damit die Notation nicht allzu kompliziert wird, sagen wir häufig etwas unkorrekt Sätze von der folgenden Art. \begin{quote} Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper, es sei $f ∈ k[x,y]$ eine ebene algebraische Kurve und es sei $p ∈ 𝔸²_k$ sei ein Punkt von $V(f)$. \end{quote} Ich hoffe, Sie kommen damit klar. Wenn nicht --- dumm gelaufen. \end{notation} In der Vorlesung ``Analysis'' haben Sie Nullstellenmengen von Funktionen in mehreren Veränderlichen ausführlich diskutiert. Gegeben eine Funktion $f(x,y)$ auf dem $ℝ²$ und einen Punkt $p$ der Nullstellenmenge, so haben sie im Kapitel ``Der Satz über die implizit definierten Funktionen'' gelernt, dass es einen riesigen Unterschied macht, ob die partiellen Ableitungen \[ \frac{∂f}{∂x}(p) \quad\text{und}\quad \frac{∂f}{∂y}(p) \] beide verschwinden oder nicht. Falls eine der partiellen Ableitungen \emph{nicht} verschwindet, dann ist die Nullstellenmenge zumindest in der Nähe von $p$ eine Untermannigfaltigkeit und kann lokal durch die $x$- oder $y$-Werte parametrisiert werden. Überlegen Sie sich anhand der Einheitsparabel, dass der Satz über die implizit definierten Funktionen in der algebraischen Geometrie nicht gelten kann (… denn sonst müsste die Wurzelfunktion algebraisch sein). Die Unterscheidung nach ``gute Punkte, in denen mindestens eine partielle Ableitung ungleich null ist'' und ``schlechte Punkte, in denen alle partielle Ableitungen gleich null sind'' funktioniert aber ohne weiteres. \begin{defn}[Einfache Punkte]\label{defn:ep} Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper, es sei $f ∈ k[x,y]$ eine ebene algebraische Kurve und es sei $p ∈ 𝔸²_k$ sei ein Punkt von $V(f)$. Man nennt $p$ einen \emph{einfachen Punkt}\index{einfacher Punkt} der Kurve $f$, wenn \[ \frac{∂f}{∂x}(p) ≠ 0 \quad\text{oder}\quad \frac{∂f}{∂y}(p) ≠ 0 \] gilt. Nicht-einfache Punkte heißen \emph{singulär}\index{singulärer Punkt}. Im Fall, wo $k = ℂ$ ist, nennt man einfache Punkte auch \emph{glatt}\index{glatte Punkte}. \end{defn} \begin{figure} \centering \includegraphics[width=10cm]{figures/09-smooth-and-sing.png} \caption{Glatte und singuläre Punkte der Neil'schen Parabel $\{ x³-y² \} $} \label{fig:gsp} \end{figure} \begin{bsp} In Abbildung~\ref{fig:gsp} sehen Sie einen glatten und den singulären Punkt der Neil'schen Parabel. \end{bsp} \begin{bemerkung} Die Ableitungen aus Definition~\ref{defn:ep} sind wie in der Vorlesung ``Algebra'' die formalen Ableitungen, die einfach nach den bekannten Rechenregeln für das Ableiten von Polynomen definiert sind und nichts mit den Grenzwerten aus der Analysis zu tun haben. Wir erinnern uns an die schlaflosen Nächte des letzten Semesters: falls $k$ ein Körper der positiven Charakteristik $q$ ist, dann ist \[ \frac{∂x^q}{∂x} = q·x^{q-1} = 0. \] \end{bemerkung} \begin{defn}[Tangentialraum einer Kurve an einfachem Punkt] Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper, es sei $f ∈ k[x,y]$ eine ebene algebraische Kurve und es sei $p = (a,b) ∈ 𝔸²_k$ sei ein einfacher Punkt der Kurve $f$. Dann bezeichne die Gerade \[ V \left( (y-b)·\frac{∂ f}{∂ y}(P) + (x-a)·\frac{∂ f}{∂ x}(P) \right) \] als den \emph{affinen Tangentialraum der Kurve $f$ im Punkt $p$}\index{affiner Tangentialraum}. \end{defn} \section{Singuläre Punkte} Einfache Punkte sind einfach … aber natürlich auch ein wenig langweilig. Die erste Frage, die man bei nicht-einfachen Punkten stellen kann ist die, ob wir ein quantitatives Maß für die nicht-Einfachheit haben. Die ``Multiplizität'' ist der erste Begriff in dieser Richtung. Der Bequemlichkeit halber definieren wir diesen Begriff erst einmal nur für den Nullpunkt. \begin{defn}[Multiplizität einer Kurve im Nullpunkt]\label{def:9-1-6} Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper und es sei $f ∈ k[x,y]$ eine ebene algebraische Kurve. Dann schreibe $f$ als Summe von homogenen Polynomen, \[ f = f_0 + f_1 + f_2 + … + f_n, \] wobei die $f_i$ entweder gleich null oder homogen von Grad $i$ sind. Die Zahl \[ m := \min \{ i ∈ ℕ \::\: f_i ≠ 0 \} \] wird als \emph{Multiplizität der Kurve $f$ im Nullpunkt}\index{Multiplizität einer Kurve im Nullpunkt} bezeichnet. Die Schreibweise $\mult_0 f$ ist üblich. \end{defn} \begin{beobachtung} In der Situation von Definition~\ref{def:9-1-6} gilt Folgendes. \begin{itemize} \item $m = 0 \iff \vec{0} \text{ ist kein Punkt der Kurve }$ \item $m = 1 \iff \vec{0} \text{ ist ein glatter Punkt der Kurve }$ \item $m ≥ 2 \iff \vec{0} \text{ ist ein singulärer Punkt der Kurve }$ \end{itemize} \end{beobachtung} \begin{defn}[Multiplizität einer Kurve im Nullpunkt]\label{def:9-1-8} In der Situation von Definition~\ref{def:9-1-6} sei $m > 0$. Dann nenne die Kurve $f_m$ den \emph{Tangentialkegel der Kurve $f$ im Nullpunkt}\index{Tangentialkegel einer Kurve im Nullpunkt}. \end{defn} Wie stellen wir uns den Tangentialkegel einer Kurve vor? Das ist gar nicht so schwer. Das Polynom $f_m$ ist nämlich homogen und deshalb sehr einfach zu beschreiben: \begin{figure} \centering \includegraphics[width=10cm]{figures/09-tang-cone.png} \caption{Tangentialkegel der Knotenkurve $\{ x³ + x² - y² \}$} \label{fig:tc} \end{figure} \begin{beobachtung}[Beschreibung des Tangentialkegels] In der Situation von Definition~\ref{def:9-1-8} sei $(α, β) ∈ V(f_m) ∖ \{ 0 \}$. Dann teilt die Geradengleichung $β x - α y$ das Polynom $f_m$, und der Quotient ist wieder homogen. Nach endlich vielen Divisionen kann ich $f_m$, die Gleichung des affinen Tangentialkegels, also auf eindeutige Weise in der Form \[ f_m = p_1^{k_1} ⋯ p_l^{k_l} \] schreiben, wobei $p_i$ paarweise verschiedene lineare Polynome sind. Der affine Tangentialkegel ist also die Vereinigung der Geraden $V(p_•)$. \end{beobachtung} \begin{defn}[Vielfachheiten im Tangentialkegel, gewöhnliche Singularitäten] In der Situation von Definition~\ref{def:9-1-8} werden die Zahlen $k_•$ auch als \emph{Vielfachheit der Geraden $p_•$ im Tangentialkegel}\index{Vielfachheit einer Geraden im Tangentialkegel} bezeichnet. Falls alle Vielfachheiten gleich 1 sind, so sagt man, dass $\vec{0}$ ein \emph{gewöhnlicher Punkt der Kurve $f$}\index{gewöhnliche Punkte einer ebenen algebraischen Kurve} ist. \end{defn} \begin{bsp} Abbildung~\ref{fig:tc} zeigt die Knotenkurve. Der Nullpunkt ist ein gewöhnlicher, singulärer Punkt mit affinem Tangentialkegel $x²-y² = (x+y)·(x-y)$. Im Gegensatz dazu ist der Nullpunkt kein gewöhnlicher singulärer Punkt der Neil'sche Parabel aus Abbildung~\ref{fig:gsp}, denn der affine Tangentialkegel ist gegeben durch die Gleichung $y²$, die eine Gerade hat also Multiplizität zwei. \end{bsp} \subsection{Singularitäten, die nicht der Nullpunkt sind} Es sei $k$ ein algebraisch abgeschlossener Körper, es sei $f ∈ k[x,y]$ eine ebene algebraische Kurve und $p = (a,b)$ sei ein Punkt der Kurve, der aber vielleicht nicht der Nullpunkt ist. Wie definieren wir dann die Multiplizität der Kurve $f$ im Punkt $p$ und wie definieren wir den Tangentialkegel? Ganz einfach: wir machen das, was jedes Kind machen würde: wir verschieben die Kurve $f$ so, dass der Punkt $p$ unter der Verschiebung zum Nullpunkt wird. Die verschobene Kurve hat die Gleichung \begin{equation}\label{eq:9-2-6-1} g(x,y) := f(x-a, y-b). \end{equation} Dann definiere die ``Multiplizität $\mult_p f$ von $f$ im Punkt $p$'' einfach als die Multiplizität $\mult_0 g$ von $g$ im Nullpunkt, und das kennen wir ja schon. Dito mit der Frage, ob $p$ eine gewöhnliche Singularität der Kurve $f$ ist. Wenn $g_m$ die Gleichung des affinen Tangentialkegels der Kurve $g$ im Nullpunkt ist, dann verschieben wir zurück und definieren \[ f_m(x,y) := g_m(x+a, y+b) \] als den affinen Tangentialkegel der Kurve $f$ im Punkt $p$. \begin{frage} Habe ich bei den Verschiebungen wirklich die richtigen Vorzeichen gewählt? Muss in Definition~\eqref{eq:9-2-6-1} tatsächlich ``$x-a$'' stehen und nicht etwa ``$x+a$''? Wie kann ich diese Frage ein für allemal beantworten? \end{frage} %%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "21-KA" %%% End: