% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Ganze Ringerweiterungen} Eigentlich möchte ich jetzt sofort mit dem Beweis des Nullstellensatzes anfangen. Das geht aber nicht, weil ich erst ein paar langweilige Definitionen diskutieren muss. Alle Begriffe, die ich in diesem Kapitel einführe, sind Varianten von Dingen, die sie aus der Algebra-Vorlesung schon kennen (sollten). \section{Ringe} In der algebraischen Geometrie interessiert man sich eigentlich nur für Polynomringe und für daraus konstruierte Ringe, zum Beispiel Quotientenringe. All diese Ringe sind kommutativ und haben ein neutrales Element der Multiplikation. \begin{notation} In dieser Vorlesung ist mit dem Wort ``Ring'' immer ein kommutativer Ring mit 1 gemeint. Ein Ringmorphiums $\varphi: A \rightarrow B$ erfüllt per Annahme die Bedingung $\varphi(1_A) = 1_B$. Sind $A$ und $B$ Ringe und $A ⊆ B$, so nennen wir das eine \emph{Ringerweiterung}\index{Ringerweiterung}. \end{notation} \section{Elementare Definitionen} Der erste Begriff beim Studium von Körpererweiterungen war „algebraisch“: gegeben eine Körpererweiterung $L/K$ und ein Element $z ∈ L$, dann nennen wir $z$ algebraisch über $K$, wenn es ein Polynom $f ∈ K[x]$ gibt, welches $z$ als Nullstelle hat. Das Polynom $f$ kann man dann minimal wählen und normieren und erhält somit den Begriff des „Minimalpolynoms von $z$“. Das wollen wir auch für Ringe machen. Bei Ringerweiterungen muss man aber aufpassen, denn man kann ein Polynom nicht immer normieren, indem man durch den Leitkoeffizienten teilt; der Leitkoeffizient muss nicht unbedingt eine Einheit sein. Die folgende Definition fordert daher die Existenz eines normierten Polynoms. \begin{defn}[Ganze Ringerweiterungen] Es sei $A ⊆ B$ eine Ringerweiterung. \begin{enumerate} \item Ein Element $b ∈ B$ heißt \emph{ganz über $A$}\index{ganz!Element}, falls es ein normiertes Polynom $f ∈ A[x]$ gibt, sodass in $B$ die Gleichung $f(b) = 0$ gilt. \item Die Ringerweiterung heißt \emph{ganz}\index{ganz!Ringerweiterung}, wenn alle $b ∈ B$ ganz über A sind. \end{enumerate} \end{defn} \begin{defn}[Ringadjunktion]\label{def:rad}% Es sei $A ⊆ B$ eine Ringerweiterung. Weiter sei eine Teilmenge $M ⊂ B$ gegeben. Definiere dann den Unterring \[ A[M] := \bigcap_{R ∈ א} R, \] wobei $א$ die Menge aller Unterringe von $B$ ist, die sowohl $A$ als auch $M$ enthalten. Falls die Menge $M$ endlich ist, also etwa $M = \{b_1, …, b_n\}$, so schreibt man statt $A[M]$ auch $A[b_1, …, b_n]$. Man spricht von $A[M]$ als \emph{$A$ adjungiert $M$}.\index{Ringadjunktion} \end{defn} \begin{bemerkung} Genau wie in der Vorlesung „Algebra“ beweist man, dass $A[M]$ wieder ein Ring ist (= kommutativer Ring mit 1). Genau wie in der Vorlesung „Algebra“ zeigt man, dass $A[M]$ der kleinste Unterring von $B$ ist, der $A$ und $M$ enthält. \end{bemerkung} \begin{bemerkung} Wenn die Menge $M$ aus Definition~\ref{def:rad} endlich ist, $M = \{ b_1, …, b_n\}$, dann kann man $A[M]$ auch anders beschreiben. Man betrachte nämlich den Einsetzungsmorphismus \[ φ : A[x_1, …, x_n] → B, \quad f(x_1, …, x_n) ↦ f(b_1, …, b_n). \] Überlegen Sie sich, dass dies ein Ringmorphismus ist, und dass $A[M] = \Image φ$ ist. Die Elemente $f ∈ \ker φ$ heißen \emph{Relationen der $b_1, …, b_n$}\index{Relationen!@see Syzygien} oder \emph{Syzygien}\index{Syzygien}. Manchmal nennt man $\ker φ$ auch den \emph{Syzygienmodul}\index{Syzygienmodul}. \end{bemerkung} \begin{bemerkung}[Syzygien] Etwas vereinfachend bezeichnet das Wort „Syzygie“ in der Astronomie eine Konstellation von Himmelskörpern, bei der mehrere Körper in einer Reihe stehen ($→$ \href{https://static.rogerebert.com/uploads/blog_post/primary_image/roger-ebert/2001-the-monolith-and-the-message/EB19680421COMMENTARY40312115AR.jpg}{2001: A Space Odyssey}). Die einfachsten Syzygien sind Sonnen- und Mondfinsternisse; eine genauere Erklärung finden Sie \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Syzygie_(Astronomie)}{hier}. Vielleicht kommt die Verwendung des Wortes in der Mathematik daher, dass die Terme in einer Relation, die sich ja gegenseitig wegheben, in irgendeinem Sinne „in einer Reihe stehen“. \end{bemerkung} \begin{bemerkung}[Syzygien] Unter allen englischen Worten ist „\foreignlanguage{english}{syzygy}“ das Wort mit dem größten Anteil von Ypsilons. \end{bemerkung} \begin{defn}[Endlich und endlicher Typ] Es sei $A ⊆ B$ eine Ringerweiterung. \begin{itemize} \item Nenne $B$ \emph{von endlichem Typ über $A$}\index{endlich!Typ}, wenn eine endliche Teilmenge $\{b_1, …, b_n\} ⊆ B$ existiert, sodass \[ B=A[b_1, …, b_n] \] ist. Man sagt in diesem Fall auch: $B$ ist eine \emph{endlich erzeugte $A$-Algebra}\index{endlich!erzeugte Algebra}. \item Nenne $B$ \emph{endlich über $A$}\index{endlich!Ringerweiterung}, wenn eine endliche Teilmenge $\{b_1, …, b_n\} ⊆ B$ existiert, sodass jedes Element von $B$ als $A$-Linearkombination der $b_•$ geschrieben werden kann, \[ B = \left\{ \sum_{i=1}^n a_i b_i \::\: a_1, …, a_n ∈ A \right\}. \] Man sagt in diesem Fall auch: $B$ ist ein \emph{endlich erzeugter $A$-Modul}\index{endlich!erzeugter Modul}. \end{itemize} \end{defn} Endliche Erweiterungen sind vom endlichen Typ. Das folgende Beispiel zeigt, dass die Umkehrung nicht unbedingt gilt. \begin{bsp}[Endlicher Typ, nicht endlich] Es sei $k$ Körper. Setze $A := k$ und $B := k[x]$. Dann ist als $A$-Algebra durch das Element $x$ erzeugt. Aber $B$ ist kein endlich erzeugtes $A$-Modul, denn ein $A$-Modul ist dasselbe wie ein $k$-Vektorraum und es ist aber $\dim_k B = ∞$. \end{bsp} \begin{bsp}[Endlich und vom endlichen Typ] Es sei $k$ Körper. Setze $A := k$ und $B := k[x]/(x³)$. Dann ist $B$ als $A$-Algebra durch das Element $x$ erzeugt. Weiter ist $B$ als $A$-Modul durch die Elemente $1$, $x$ und $x²$ erzeugt. \end{bsp} \section{Charakterisierung von Ganzheit} In der Vorlesung „Algebra“ hatten wir algebraische Elemente von Körpererweiterungen durch Endlichkeitseigenschaften charakterisiert. Das geht mit ganzen Elementen in Ringerweiterungen auch. \begin{satz}[Charakterisierung von Ganzheit]\label{satz:3-2-9}% Es sei $A ⊆ B$ eine Ringerweiterung. Weiter sei ein Element $b ∈ B$ gegeben. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item\label{il:3-2-9-1} Das Element $b$ ist ganz über $A$. \item\label{il:3-2-9-2} Der Ring $A[b]$ ist als $A$-Modul endlich erzeugt. \item\label{il:3-2-9-3} Es gibt einen Zwischenring $A[b] ⊆ M ⊆ B$, der als $A$-Modul endlich erzeugt ist und die zusätzliche Eigenschaft hat, dass $\{ b·m \::\: m ∈ M \} = M$ ist. \end{enumerate} \end{satz} Der Beweis von Satz~\ref{satz:3-2-9} verwendet die \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Cramersche_Regel}{Cramersche Regel}\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Gabriel_Cramer}{Gabriel Cramer} (* 31.~Juli 1704 in Genf; † 4.~Januar 1752 in Bagnols-sur-Cèze, Frankreich) war ein Genfer Mathematiker.}, die sie aus der Vorlesung „Lineare Algebra“ kennen (sollten). Dort wurde der folgende Satz vermutlich nur für Matrizen mit Einträgen in einem Körper bewiesen. Man prüfe, dass der Beweis auch für Matrizen über Ringen gilt. \begin{satz}[Cramersche Regel]\label{satz:creg}% Es sei $R$ ein Ring und es sei $Δ ∈ \operatorname{Mat}(n⨯n; R)$ eine $(n⨯n)$-Matrix mit Einträgen in $R$. Dann gibt es eine Matrix $Δ^* ∈ \operatorname{Mat}(n⨯n; R)$, sodass die Gleichung \[ Δ^*·Δ = \det(Δ)· E \] gilt, wobei $E$ die $(n⨯n)$-Einheitsmatrix ist. \qed \end{satz} \begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:3-2-9}] \video{2-1}. Hinweis: im Erklärvideo schreibe ich versehentlich $\{ b·m \::\: m ∈ M \} ⊆ M$ statt $\{ b·m \::\: m ∈ M \} = M$. Ich bitte, diese Panne zu entschuldigen. \end{proof} \sideremark{Vorlesung 3}Die Charakterisierung von Ganzheit aus Satz~\ref{satz:3-2-9} hat einige Korollare, die sie in ähnlicher Form aus der Vorlesung „Algebra“ schon kennen (sollten). \begin{kor}[Ganzheit und Endlichkeit]\label{kor:3-3-3}% Es sei $A ⊆ B$ eine Ringerweiterung. Wenn $B$ als $A$-Modul endlich erzeugt ist, dann ist die Erweiterung sie ganz. \end{kor} \begin{proof} Es sei ein Element $b ∈ B$ gegeben. Wähle $M := B$ und wende die Implikation \ref{il:3-2-9-3} $⇒$ \ref{il:3-2-9-1} aus Satz~\ref{satz:3-2-9} an. \end{proof} \begin{kor}[Adjunktion ganzer Elemente]\label{kor:3-3-4}% Es sei $A ⊆ B$ eine Ringerweiterung und es $b_1, …, b_n$ Elemente von $B$, die ganz über $A$ sind. Dann ist $A[b_1, …, b_n]$ endlich über $A$, also nach Korollar~\ref{kor:3-3-3} insbesondere ganz. \end{kor} \begin{proof} Jedes der Elemente $b_i$ erfüllt eine Ganzheitsgleichung \[ b_i^{d_i} +a_{i,d_i-1}·b_i^{d_i - 1} + ⋯ + a_{i,1}·b + a_{i, 0} = 0 \] Aber dann ist $A[b_1, …, b_n]$ als $A$-Modul bereits durch die endliche Menge \[ \bigl\{ b_1^{α_1}⋯ b_n^{α_n} \::\: 0 ≤ α_i ≤ d_i \bigr\} \] erzeugt. \end{proof} Auch das folgende Korollar (sollten) sie schon aus der Vorlesung „Algebra“ kennen. Der Beweis ist mit dem bekannten Beweis identisch und deshalb hier nur knapp wiedergegeben. \begin{kor}[Transitivität der Ganzheit]\label{kor:3-3-5}% Es seien $A ⊆ B$ und $B ⊆ C$ ganze Ringerweiterungen. Dann ist auch die Ringerweiterung $A ⊆ C$ ganz. \end{kor} \begin{proof} Sei ein Element $c ∈ C$ gegeben. Nach Annahme erfüllt $c$ eine Ganzheitsgleichung über $B$, \[ c^n + b_{n-1}·c^{n-1} + ⋯ + b_1c + b_0 = 0. \] Die Koeffizienten $b_1, …, b_n ∈ B$ sind nach Annahme ganz über $A$. Also ist $A[b_1, …, b_n]$ nach Korollar~\ref{kor:3-3-4} ein endlich erzeugter $A$-Modul. Wir wählen ein endliches Erzeugendensystem \[ א_1 ⊂ A[b_1, …, b_n]. \] Weiter ist $c$ ganz über $A[b_1, …, b_n]$. Also ist $A[b_1, …, b_n, c]$ nach Korollar~\ref{kor:3-3-4} ein endlich erzeugter $A[b_1, …, b_n]$-Modul. Wir wählen ein endliches Erzeugendensystem \[ א_2 ⊂ A[b_1, …, b_n, c]. \] Dann ist aber \[ א_1·א_2 := \{ a_1·a_2 \::\: a_1 ∈ א_1, a_2 ∈ א_2 \} ⊂ A[b_1, …, b_n, c] \] ein endliches Erzeugendensystem von $A[b_1, …, b_n, c]$ als $A$-Modul. Nach Korollar~\ref{kor:3-3-3} bedeutet das: $c$ ist ganz über $A$. \end{proof} \section{Der ganze Abschluss} Ganz analog zum „algebraischen Abschluss eines Unterkörpers“, den Sie aus der Vorlesung „Algebra“ kennen (sollten), definieren wir den „ganzen Abschluss eines Unterringes“. \begin{defn}[Ganzer Abschluss]\label{def:3-4-1}% Es sei $A ⊆ B$. Die Menge \[ \overline{A}= \bigl\{ b ∈ B \::\: b \text{ ganz über } A \bigr\} ⊆ B \] wird der \emph{ganze Abschluss von $A$ in $B$}\index{ganz!Abschluss} genannt. Falls $\overline{A} = A$ ist, so nennen wir die Ringerweiterung $A ⊆ B$ \emph{ganz abgeschlossen}\index{ganz!abgeschlossene Ringerweiterung}. \end{defn} \begin{prop}[Ganzer Abschluss]\label{kor:3-4-2}% In der Situation von Definition~\ref{def:3-4-1} ist $\overline{A}$ ein Unterring von $B$. \end{prop} \begin{proof} Wir müssen zeigen: gegeben $b_1, b_2 ∈ \overline{A}$, dann sind auch die Elemente $b_1+b_2$, $b_1-b_2$ und $b_1·b_2$ in $\overline{A}$. All diese Elemente liegen aber im Unterring $A[b_1,b_2]$ und dieser ist nach Korollar~\ref{kor:3-3-4} ganz. \end{proof} \begin{bemerkung} In der Situation von Definition~\ref{def:3-4-1} ist $\overline{A}$ ein Unterring von $B$. Also können wir den ganzen Abschluss $\overline{\overline{A}}$ von $\overline{A}$ in $B$ betrachten. Glücklicherweise müssen wir das nicht, denn Korollar~\ref{kor:3-3-5} über die Transitivität der Ganzheit garantiert, dass $\overline{A} = \overline{\overline{A}}$ ist. Merke: „Der ganze Abschluss von $A$ in $B$ ist ganz abgeschlossen in $B$.“ \end{bemerkung} \begin{bsp} Wir erinnern uns: ein Zahlkörper\index{Zahlkörper} ist eine algebraische Körpererweiterung $K/ℚ$. Den ganzen Abschluss von $ℤ$ in $K$ nennt man den \emph{Ring der ganzen Zahlen des Zahlkörpers $K$}\index{ganz!Zahlen eines Zahlkörpers}. Dieser Ring wird meist mit $𝒪_K$ bezeichnet. Das Studium des Ringes $𝒪_K$ ist Gegenstand der algebraischen Zahlentheorie. \begin{itemize} \item Für $K = ℚ[i]$ ist $𝒪_K = ℤ[i]$. \item Für $K = ℚ\bigl[\sqrt{5}\bigr]$ ist \[ 𝒪_K = ℤ\left[\frac{1+\sqrt{5}}{2}\right] ⊋ ℤ\Bigl[\sqrt{5}\Bigr]. \] Wir beweisen diese Aussage hier nicht, sondern bemerken nur, dass $\frac{1+\sqrt{5}}{2}$ eine Nullstelle von $x² - x - 1 ∈ ℤ[x]$ ist, und deshalb ganz über $ℤ$. \item Der ganze Abschluss von $ℤ$ in $ℂ$ heißt \emph{Ring der ganzen algebraischen Zahlen}. \end{itemize} \end{bsp}