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Funktionentheorie/08-lokaleStruktur.tex
Stefan Kebekus 345e43875c Working
2025-11-10 11:11:50 +01:00

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\chapter{Lokale Struktur holomorpher Funktionen}
\section{Wurzeln holomorpher Funktionen}
Ich beginne mit einer Erinnerung.
\begin{lem}\label{lem:8-0-1}%
Es sei $U ⊂ $ offen und $f ∈ 𝒪(U)$. Weiter sei ein Punkt $ρ ∈ U$ gegeben,
sodass $f'(ρ)0$ ist. Dann gibt es eine offene Umgebung $V = V(ρ) ⊂ U$,
sodass folgendes gilt.
\begin{enumerate}
\item Das Bild $W := f(V)$ ist offen.
\item Die eingeschränkte Abbildung $f|_V: V → W$ ist biholomorph.
\end{enumerate}
\end{lem}
\begin{proof}
Das haben wir schon oft gemacht. Wir wissen, dass $f$ unendlich oft komplex
differenzierbar ist. Insbesondere ist $f'$ stetig und es gibt Umgebung von $ρ$
wo $f' ≠ 0$ ist. Aus der Vorlesung „Analysis II“ kennen wir den Satz über die
lokale Umkehrbarkeit: es gibt eine offene Umgebung $V = V(ρ) ⊆ U$,
sodass $W := f(V)$ offen und $f|_V: V → W$ bijektiv ist. Außerdem gilt: für
jedes $z ∈ V$ ist $f'(z)0$. Nach Proposition~\vref{prop:2-4-4} ist die
Umkehrfunktion $(f|_V)^{-1}$ wieder holomorph.
\end{proof}
\sideremark{Vorlesung: 12}Wir haben diese Argumente schon benutzt, um zu zeigen,
dass jeder Punkt aus $^*$ eine Umgebung hat, auf der eine Wurzelfunktion
existiert.
\begin{satz}[Wurzeln holomorpher Funktionen]\label{satz:8-0-2}%
Sei $U ⊂ $ offen und $f ∈ 𝒪(U)$. Angenommen, $f$ hat bei $ρ ∈ U$ eine
Nullstelle von Ordnung $n$, mit $1 ≤ n < ∞$. Dann gibt es eine Umgebung $V =
V(ρ) ⊂ U$ und eine Funktion $b ∈ 𝒪(V)$, sodass folgendes gilt.
\begin{enumerate}
\item Für jedes $z ∈ V$ gilt $f(z) = b(z)^n$.
\item Die Bildmenge $W := b(V)$ ist offen und $b: V → W$ ist biholomorph.
\end{enumerate}
\end{satz}
\begin{proof}
Wir betrachten aus Faulheit nur den Fall, dass $ρ$ der Nullpunkt ist.
Falls $n = 1$ ist, dann zeigt Lemma~\ref{lem:8-0-1}, dass wir $b := f$ setzen
können.
Sei also $n > 1$. Wir haben im Abschnitt~\ref{sec:7-1} aber schon gesehen:
auf einer geeigneten Kreisscheibe $D$ um $ρ = 0$ gibt es eine Funktion $g$ mit
$g(0)0$, sodass auf ganz $D$ die folgende Gleichung gilt:
\[
f(z) = z^n·g(z).
\]
Wegen $g(0)0$ gibt es eine offene Umgebung $Ω = Ω(g(0))$ auf der eine
$n$-te Wurzelfunktion existiert, also eine Funktion $r: Ω → ^*$ sodass für
jedes $ω ∈ Ω$ die Gleichung $r(ω)^n = ω$ gilt. Setze dann $V := D ∩
g^{-1}(Ω)$ und definiere die Funktion
\[
b : V → , \quad z ↦ z·r(g(z)).
\]
Rechne nach, dass $b$ die gewünschten Eigenschaften hat.
\end{proof}
\section{Lokale Struktur}
Als Konsequenz von Satz~\ref{satz:8-0-2} können wir sagen, dass lokal jede
holomorphe Funktion aussieht wie $z ↦ z^n$. Die folgende Notation und der
folgende Satz machen diese Aussage präzise.
\begin{definition}[Einbettungen]\label{def:8-0-2}%
Es sei $U ⊆ $ offen und $f ∈ \mathcal{O}(U)$. Nenne $f$ eine
\emph{Einbettung von $U$ in $$}\index{Einbettung}, wenn $f(U)$ offen und
die eingeschränkte Abbildung $f: U → f(U)$ biholomorph ist.
\end{definition}
\begin{notation}[Einbettungen]
In der Situation von Definition~\ref{def:8-0-2} schreibt man anstelle der
üblichen Notation $f: U → $ oft $f: U ↪ $, um darauf hinzuweisen, dass $f$
eine Einbettung ist,
\end{notation}
\begin{satz}[Lokale Struktur holomorpher Funktionen]\label{satz:8-0-3}%
Es sei $U ⊂ $ offen und $f ∈ 𝒪(U)$. Weiter sei $ρ ∈ U$ ein Punkt, sodass
$f$ in der Nähe von $ρ$ nicht konstant ist. Dann gibt es eine Zahl $n ∈ $
und Einbettungen der Einheitskreisscheibe,
\[
u, v: Δ ↪ ,
\]
sodass die folgenden Eigenschaften gelten
\begin{equation}\label{eq:8-0-1}
u(Δ) ⊆ U, \quad u(0) = ρ, \quad v(0) = f(ρ)
\end{equation}
und das folgende Diagramm kommutiert
\begin{equation}\label{eq:8-0-2}
\begin{tikzcd}
Δ \ar[r, hook, "u"] \ar[d, "z ↦ z^n"'] & U \ar[d, "f"] \\
Δ \ar[r, hook, "v"'] & .
\end{tikzcd}
\end{equation}
\end{satz}
\begin{proof}
Wir nehme ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass $f$ bei $ρ$ eine
Nullstelle hat, ansonsten betrachte die Funktion $z ↦ f(z) - f(ρ)$. Sei $1
n < ∞$ dann die Nullstellenordnung von $f$ bei $p$. Nach
Satz~\ref{satz:8-0-2} über die Wurzeln holomorpher Funktionen gibt es eine
Umgebung $V = V(ρ) ⊆ U$ und eine Einbettung
\[
b: V ↪ ,
\]
sodass für jedes $z ∈ V$ die Gleichung $f(z) = b(z)^n$ gilt. Insbesondere ist
$b(0) = 0$.
\paragraph{Schritt 1: Konstruktion der Einbettung $u$}
Die Bildmenge $b(V)$ der Einbettung $b$ ist eine offene Umgebung der $0$. Wir
können daher ein Skalar $λ ∈ ℝ⁺$ wählen, sodass die Bildmenge der skalierten
Einbettung
\[
λ·b : V → , \quad z ↦ λ·b(z)
\]
die Einheitskreisscheibe $Δ$ enthält. Betrachte die Umkehrabbildung
\[
(λ·b)^{-1} : (λ·b)(V) → V
\]
und definiere die Abbildung $u$ als Einschränkung
\[
u := (λ·b)^{-1}|_Δ : Δ → V ⊆ U.
\]
Dann ist $u(Δ) = (λ·b)^{-1}(Δ)$ offen und $u: Δ → u(Δ)$ ist biholomorph. Also
ist $u$ schon einmal eine Einbettung und es gilt
\[
u(0) = (λ·b)^{-1}(0) = b^{-1}(λ^{-1}·0) = b^{-1}(0) = ρ.
\]
Damit erfüllt $u$ die in \eqref{eq:8-0-1} genannten Eigenschaften. Zusätzlich
gilt für jedes $z$ aus dem Bild der Abbildung $u$ die Gleichung
\begin{equation}\label{eq:xx}
\left(u^{-1}(z)\right)^n = \left(λ·b(z)\right)^n = λ^n·b(z)^n = λ^n·f(z).
\end{equation}
\paragraph{Schritt 2: Konstruktion der Einbettung $v$}
Betrachte als Nächstes die Abbildung
\[
v: Δ → , \quad z ↦ \frac{1}{λ^n}·z.
\]
Es ist klar, dass $v$ eine Einbettung ist. Ebenso ist klar, dass die
Gleichung $v(0) = 0 = f(ρ)$ gilt. Also erfüllt auch $v$ die in
\eqref{eq:8-0-1} genannten Eigenschaften.
\paragraph{Schritt 3: Kommutativität des Diagramms}
Wir müssen zeigen, dass abschließend zeigen, Diagramm~\eqref{eq:8-0-2}
kommutiert. Äquivalent: wir müssen zeigen, dass jedes $δ ∈ Δ$ die Gleichung
\[
f(u(δ)) = v(δ^n)
\]
erfüllt. Sei also ein Element $δ ∈ Δ$ gegeben. Dann ist aber
\begin{align*}
f(u(δ)) & = \frac{1}{λ^n}·λ^n·f(u(δ)) \\
& = \frac{1}{λ^n}·(u^{-1}(u(δ)))^n && \text{Gleichung \eqref{eq:xx}} \\
& = \frac{1}{λ^n}·δ^n && \text{Umkehrabbildung} \\
& = v(δ^n) && \text{Definition von } v.
\end{align*}
Damit ist der Satz bewiesen.
\end{proof}
\section{Anwendungen}
Satz~\ref{satz:8-0-3} erlaubt, jede (nicht-konstante) holomorphe Funktion lokal
mit der holomorphen Funktion $z ↦ z^n$ zu vergleichen. Zum Beispiel ist die
Abbildung $z ↦ z^n$ offen\index{offene Abbildung} (= Bilder offener Mengen sind
offen). Also erhalten wir:
\begin{satz}[Satz von der Gebietstreue]\label{satz:gebietstreue}%
Sei $U ⊂ $ offen und zusammenhängend, und sei $f ∈ 𝒪(U)$ nicht konstant.
Dann ist $f(U)$ offen und zusammenhängend.
\end{satz}
\begin{proof}
Nach dem Satz über die lokale Struktur ist $f(U)$ offen, weil die Abbildung
$f$ offen ist. Aus der Vorlesung „Analysis II“ wissen wir: Bilder
zusammenhängender Mengen unter stetigen Abbildungen sind zusammenhängend.
\end{proof}
\begin{notation}
In der Funktionentheorie nennt man offene, zusammenhängende Teilmengen des $$
oft \emph{Gebiete}\index{Gebiet}. Satz~\ref{satz:gebietstreue} sagt in dieser
Sprache: ist die Funktion nicht konstant, dann sind Bilder von Gebieten selbst
wieder Gebiete.
\end{notation}
Als Beispielanwendung erhalten wir einen neuen Beweis des Maximumsprinzips.
\begin{satz}[Maximumprinzip]
\index{Maximumprinzip}Sei $U ⊂ $ ein Gebiet und $f ∈ 𝒪(U)$ sei eine
nicht-konstante, holomorphe Funktion. Dann hat $|f|$ kein lokales Maximum in
$U$.
\end{satz}
\begin{proof}
Wir argumentieren mit Widerspruch und nehmen an, es gebe ein $ρ ∈ U$ sodass
$|f|$ bei $ρ$ ein lokales Maximum annimmt. Nach Verkleinern von $U$ können
wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass $|f|$ bei $ρ$ ein
globales Maximum annimmt. Aber: $f(U)$ ist offen, also existiert ein $ε > 0$,
sodass $B_ε(f(ρ)) ⊂ f(U)$ ist. Also liegen in $f(U)$ neben $f(ρ)$ noch
Punkten mit größerem Betrag.
\end{proof}
% !TEX root = Funktionentheorie