% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Entwicklung in Laurentreihen} \sideremark{Vorlesung 13} \section{Holomorphe Funktionen auf Kreisringen} In Kapitel~\ref{chap:6} haben wir gesehen, dass holomorphe Funktionen auf Kreisscheiben Potenzreihenentwicklungen besitzen. Wir wollen jetzt einen ähnlichen Satz für holomorphe Funktionen auf Kreisringen beweisen. Dazu verwenden wir denselben Trick wie bei der Potenzreihenentwicklung. \begin{bemerkung}[Erinnerung] Gegeben Kreisscheibe $B_r(0)$ und $f ∈ 𝒪(B_r(0))$, dann wähle $0 < ρ < r$. Nach Satz~\vref{satz:4-4-1} („Integralformel von Cauchy“) gilt für alle $w ∈ B_{ρ}(0)$ \[ f(w) = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_{ρ}(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz. \] Schreibe \[ \frac{1}{z - w} = \frac{1}{z} · \frac{1}{1 - w/z} = \frac{1}{z} · \sum_{i=0}^∞ \left(\frac{w}{z}\right)ⁱ, \] und setze dies in das Integral ein. Vertausche Integral und Summe und erhalte eine Potenzreihendarstellung von $f$. \end{bemerkung} So etwas wollen wir jetzt auch für holomorphe Funktionen auf $B_r(0)$ machen, die bei $0$ eine Singularität haben. Sogar noch allgemeiner: für Funktionen auf Kreisringen. \begin{notation}[Kreisring] Seien reelle Zahlen $0 < r < R$ gegeben und sei $ρ ∈ ℂ$. Dann sei \[ K_{r,R}(ρ) = \{ z ∈ ℂ \::\: r < |z - ρ| < R \} \] der offene \emph{Kreisring}\index{Kreisring} um $p$ mit Radien $r$ und $R$. \end{notation} \begin{situation}[Holomorphe Funktion auf Kreisring]\label{situation:9-2-2}% Es seien reelle Zahlen $0 < r < R$ und es sei eine holomorphe Funktion auf dem Kreisring $K_{r,R}(0)$ gegeben, $f ∈ 𝒪(K_{r,R}(0))$. \end{situation} \begin{konstruktion}[Potenzreihenentwicklung auf Kreisring]\label{kons:9-2-4}% In Situation~\ref{situation:9-2-2} sei ein Punkt $w ∈ K_{r,R}(0)$ gegeben. Dann wähle reelle Zahlen $a$ und $A$ mit \[ r < a < |w| < A < R. \] und betrachte den in Abbildung~\ref{fig:9-2-1} gezeigten Weg $γ$ in $K_{r,R}(0)$. \begin{figure} \begin{center} \includegraphics[width=10cm]{10-annulus.png} \end{center} \caption{Wege im Kreisring $K_{r,R}(0)$} \label{fig:9-2-1} \end{figure} Als Erstes werde ich kann den Funktionswert $f(w)$ als Integral über den Weg $γ$ ausdrücken. Dazu wähle eine Zahl $ε > 0$, sodass die abgeschlossene Kreisscheibe $\overline{B_ε(w)}$ ganz in $K_{a,A}(0)$ liegt. Dann gilt nach der Cauchy Integralformel die Gleichung \[ f(w) = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_ε(w)} \frac{f(z)}{z - w} dz. \] Jetzt beobachte, dass der Weg $γ$ frei homotop zum Weg rund um $∂ B_ε(w)$ ist. Also sind nach Satz~\ref{satz:4-3-6} („Invarianz von Wegintegralen unter freier Homotopie“) die Integrale über diese Wege gleich, \begin{align*} f(w) & = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_ε(w)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz \\ & = \frac{1}{2π i} \int_{γ} \frac{f(z)}{z - w} \, dz \\ & = \frac{1}{2π i} \left[ \int_{∂ B_A(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz - \int_{∂ B_a(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz \right]. \end{align*} Jetzt wenden wir den Trick mit der geometrischen Reihe zweimal an. \begin{itemize} \item Für alle $z ∈ ∂ B_A(0)$ und alle $w ∈ K_{r,A}(0)$ ist \[ \frac{f(z)}{z - w} = \frac{f(z)}{z} · \sum \left(\frac{w}{z}\right)ⁱ \] und deshalb \[ \int_{∂ B_A(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz = \sum_{i=0}^∞ \left( \int_{∂ B_A(0)} \frac{f(z)}{z^{i+1}} \, dz \right) · wⁱ. \] \item Für alle $z ∈ ∂ B_a(0)$ und alle $w ∈ K_{a,R}(0)$ ist \[ \frac{f(z)}{z - w} = \frac{-f(z)}{w - z} = \frac{-f(z)}{w} · \frac{1}{1 - z/w} = \frac{-f(z)}{w} \sum \left(\frac{z}{w}\right)ⁱ \] und deshalb \[ \int_{∂ B_a(0)} \frac{f(z)}{z - w} \, dz = \sum_{i=0}^∞ \left( \int_{∂ B_a} (-f(z) \, zⁱ) \, dz \right) · w^{-(i+1)}. \] \end{itemize} Wie zuvor gilt: Der Wert der Integrale hängen nicht von der Wahl von $a$ und $A$ ab und die Reihen konvergieren auf $K_{r,R}(0)$ lokal gleichmäßig. Zusammenfassend können wir sagen: Es gibt Familien von komplexen Zahlen $(α_i)_{i ∈ ℤ}$, sodass für jedes $w ∈ K_{r,R}(0)$ die folgende Gleichung gilt, \[ f(w) = \sum_{i=0}^∞ α_i \, wⁱ + \sum_{i=0}^∞ α_{-(i+1)} \, w^{-(i+1)}. \] Beide Reihen konvergieren auf $K_{r,R}(0)$ lokal gleichmäßig, und es gilt \[ f(w) = \lim_{n → ∞} \sum_{i=-n}^n α_i \, wⁱ. \] Die Konstruktion endet hier. \end{konstruktion} \section{Laurentreihen} Die Darstellung von $f$ als „Potenzreihe mit negativen Exponenten“ ist natürlich schrecklich wichtig. Sie wird als \emph{Laurentreihenentwicklung}\footnote{Pierre Alphonse Laurent (* 18.~Juli 1813 in Paris; † 2.~September 1854 ebenda) war ein französischer Mathematiker.} bezeichnet. \begin{definition}[Laurentreihen]\label{def:9-2-5}% Eine \emph{Laurentreihe}\index{Laurentreihe} mit Entwicklungspunkt $ρ$ ist ein Ausdruck der Form \[ \sum_{i ∈ ℤ} c_i \, (z - ρ)ⁱ. \] Dabei sind die $c_i$ und $ρ$ komplexe Zahlen. \end{definition} \begin{definition}[Konvergenz von Laurentreihen] Gegeben eine Laurentreihe wie in Definition~\ref{def:9-2-5} und eine natürliche Zahl $n$, so bezeichnet man den Ausdruck \[ \sum_{i=-n}^n c_i \, (z - ρ)ⁱ \] als die \emph{$n$.te Partialsumme}\index{Partialsumme!einer Laurentreihe} der Laurentreihe. Man sagt, die Laurentreihe konvergiert für ein $z_0 ∈ ℂ$ gegen $g ∈ ℂ$, wenn die Folge $\sum_{i=-n}^n c_i \, (z_0 - p)ⁱ$ gegen $g$ konvergiert. Man sagt, die Laurentreihe konvergiert auf einer Menge $M ⊆ ℂ$ lokal gleichmäßig, wenn die Folge der Partialsummen auf $M$ lokal gleichmäßig konvergiert. \end{definition} \begin{definition}[Haupt- und Nebenteil von Laurentreihen] Gegeben eine Laurentreihe wie in Definition~\ref{def:9-2-5}, so nennt man die Teilreihen \[ \sum_{i=1}^{∞} c_i (z - p)^{-i} \quad\text{und}\quad \sum_{i=0}^{∞} c_i (z - p)ⁱ \] den \emph{Hauptteil}\index{Hauptteil einer Laurentreihe} und den \emph{Nebenteil}\index{Nebenteil einer Laurentreihe} der Laurentreihe. \end{definition} Konstruktion~\ref{kons:9-2-4} arbeitet mit Kreisringen um den Nullpunkt. Wie immer gelten dieselben Aussagen für Kreisringe mit beliebigem Mittelpunkt. Am Ende des Tages haben wir Folgendes bewiesen. \begin{satz}[Laurentreihenentwicklung]\label{satz:9-2-8}% Es sei $ρ ∈ ℂ$ ein Punkt und es seien reelle Zahlen $0 < r < R$ gegeben. Weiter sei $f ∈ 𝒪(K_{r,R}(p))$ eine auf dem Kreisring $K_{r,R}(p)$ holomorphe Funktion. Dann existiert eine auf ganz $K_{r,R}(p)$ lokal gleichmäßig konvergierende Laurentreihe, deren Grenzfunktion mit $f$ übereinstimmt. Zusätzlich gilt: Haupt- und Nebenteil der Laurentreihe konvergieren auf $K_{r,R}(p)$ ebenfalls jeweils lokal gleichmäßig. \qed \end{satz} \begin{bsp}[Laurentreihenentwicklung]\label{bsp:9-2-10}% Betrachte die Funktion \[ f : ℂ ∖ \{2\} → ℂ, \quad z ↦ \frac{1}{z - 2}. \] Das Ziel ist, die Laurentreihenentwicklung von $f$ auf verschiedenen Kreisringen zu bestimmen. \begin{enumerate} \item\label{il:10-2-6-1} Auf dem Kreisring $K_{0,1}(0)$ gilt für jedes $z$ die Gleichung \[ f(z) = -\frac{1}{2} · \frac{1}{1-\frac{z}{2}} = \sum_{k=0}^∞ -\frac{1}{2} \left(\frac{z}{2}\right)^k = \sum_{k=0}^∞ -\frac{1}{2^{k+1}} z^k. \] Die Summendarstellung $\frac{1}{1-\frac{z}{2}}$ gilt wie angegeben, weil $|z|<2$, also $|\frac{z}{2}|<1$ ist. \item Auf dem Kreisring $K_{1, 2}(0)$ gilt für jedes $z$ dieselbe Darstellung wie in \ref{il:10-2-6-1}, weil immer noch $|z|<2$ ist. \item Auf dem Kreisring $K_{2,∞}(0)$ können wir die Reihe aus \ref{il:10-2-6-1} definitiv \emph{nicht} nehmen. Es gilt aber für jedes $z$ die Gleichung $|z|>2$ und deshalb $|\frac{2}{z}|<1$. Also ist \[ f(z) = \frac{1}{z-2} = \frac{1}{z} · \frac{1}{1-\frac{2}{z}} = \frac{1}{z} · \sum_{k=0}^∞ \left(\frac{2}{z}\right)^k = \sum_{k=-∞}⁰ \frac{1}{2^k} z^{k-1}. \] \end{enumerate} \end{bsp} \begin{kor}[Eindeutigkeit der Laurentreihenentwicklung]\label{kor:10-2-5}% In der Situation von Satz~\ref{satz:9-2-8} ist die Darstellung von $f$ als Laurentreihe eindeutig. Genauer: wenn \[ \sum_{i ∈ ℤ} c_i (z - ρ)ⁱ \] eine auf ganz $K_{r,R}(p)$ lokal gleichmäßig konvergierende Laurentreihe ist, deren Grenzfunktion mit $f$ übereinstimmt, dann für jede reelle Zahl $a$ mit $r < a < R$ und jede ganze Zahl $n ∈ ℤ$ die Formel \[ c_n = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_a(ρ)} f(z) · (z - ρ)^{-(n+1)} \, dz. \] \end{kor} \begin{proof} Seien Zahlen $a$ und $m$ gegeben. Betrachte die folgenden Integrale, \begin{multline*} \int_{∂ B_a(ρ)} f(z) · (z - ρ)^{-(n+1)} \, dz \\ \begin{aligned} & = \int_{∂ B_a(ρ)} \left(\lim_{k → ∞} \sum_{i=-k}^k c_i (z - ρ)ⁱ \right) (z - ρ)^{-(n+1)} \, dz && \text{Laurentreihe von } f \\ & = \lim_{k → ∞} \sum_{i=-k}^k \int_{∂ B_a(ρ)} c_i (z - ρ)^{i-(n+1)} \, dz && \text{lokal gleichmäßige Konvergenz} \\ & = \lim_{k → ∞} \sum_{i=-k}^k c_i·\int_{∂ B_a(ρ)} (z - ρ)^{i-(n+1)} \, dz \\ & = 2π i · c_n && \text{Beispiel~\vref{bsp:3-2-2}.} \end{aligned} \end{multline*} Also sind die Koeffizienten der Laurentreihe durch eine Formel gegeben, in der nur die Funktion $f$ vorkommt. Also sind die Koeffizienten der Laurentreihe eindeutig bestimmt. \end{proof} \begin{kor}[Laurentreihenentwicklung und lokal gleichmäßige Konvergenz]\label{kor:10-2-7}% Es sei $ρ ∈ ℂ$ ein Punkt und es seien reelle Zahlen $0 < r < R$ gegeben. Weiter seien $f$ und $(f_n)_{n ∈ ℕ} ∈ 𝒪(K_{r,R}(p))$ auf dem Kreisring $K_{r,R}(p)$ holomorphe Funktionen, gegeben durch auf ganz $K_{r,R}(p)$ lokal gleichmäßig konvergierende Laurentreihen \[ f(x) = \sum_{i ∈ ℤ} c_i (z - ρ)ⁱ \quad\text{und}\quad f_n(x) = \sum_{i ∈ ℤ} c_{n,i} (z - ρ)ⁱ. \] Falls die $f_n$ auf $K_{r,R}(p)$ lokal gleichmäßig gegen $f$ konvergieren, dann ist für jeden Index $i$ \[ c_i = \lim_{n → ∞} c_{n,i}. \] \end{kor} \begin{proof} Seien ein Index $i$. Wähle eine reelle Zahlen $r < a < R$ und schreibe \begin{align*} c_i & = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_a(ρ)} f(z) · (z - ρ)^{-(i+1)} \, dz && \text{Korollar~\ref{kor:10-2-5}} \\ & = \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_a(ρ)} \lim_{n → ∞} f_n(z) · (z - ρ)^{-(i+1)} \, dz && \text{Annahme} \\ & = \lim_{n → ∞} \frac{1}{2π i} \int_{∂ B_a(ρ)} f_n(z) · (z - ρ)^{-(i+1)} \, dz && \text{lokal glm.~Konvergenz} \\ & = \lim_{n → ∞} c_{n,i}. && \text{Korollar~\ref{kor:10-2-5}} \end{align*} Damit folgt die Behauptung. \end{proof} % !TEX root = Funktionentheorie