% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Integration über stetige Wege} \section{Wegintegrale} In Definition~\ref{def:3-2-1} haben wir Wegintegrale nur für stetig differenzierbare Wege definiert. In vielen Situationen ist es aber nützlich, Wegintegrale auch für stetige Wege zu definieren. Als Vorbereitung erinnern wir uns an zwei elementare Fakten der Analysis und Topologie. \begin{erinnerung}[Bilder von kompakten Mengen unter stetigen Abbildungen]\label{eri:3-4-1}% Es sei $U ⊂ ℂ$ offen, es sei $K ⊂ ℝ^n$ kompakt und es sei $γ : K → U$ stetig. Dann gilt Folgendes. \begin{enumerate} \item Die Bildmenge $γ(K) ⊂ U$ ist kompakt. \item Es gibt endlich viele Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$ in $U$, die die Bildmenge $γ(K)$ überdecken. In Formelsprache: \[ γ(K) ⊆ ∪_{j=1}^n Δ_j ⊆ U. \] \item\label{il:3-4-1-3} Es gibt eine reelle Zahl $δ > 0$, sodass es für jede Teilmenge $A ⊆ K$ mit Durchmesser $d(A) ≤ δ$ einen Index $i$ gibt mit $γ(A) ⊆ Δ_i$. \end{enumerate} Die Zahl $δ$ aus \ref{il:3-4-1-3} ist Ihnen vielleicht als \emph{Lebesgue-Zahl}\index{Lebesgue-Zahl} der Überdeckung $\{Δ_1, …, Δ_n\}$ bekannt. Details finden Sie unter anderem bei \href{https://en.wikipedia.org/wiki/Lebesgue's_number_lemma}{Wikipedia}. \end{erinnerung} \begin{konstruktion}[Wegintegrale: Integration über stetige Wege]\label{kons:3-4-2}% Sei $U ⊂ ℂ$ offen und sei $f: U → ℂ$ holomorph. Weiter sei $γ: [a,b] → U$ ein stetig differenzierbarer Weg. Nach Erinnerung~\ref{eri:3-4-1} gibt es eine Überdeckung von $γ([a,b])$ durch endlich viele Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$, die ganz in $U$ liegen. Nach Satz~\ref{satz:3-3-11} finden wir auf jeder dieser Kreisscheiben eine Stammfunktion $F_i: Δ_i → ℂ$ von $f$. Nach Punkt~\ref{il:3-4-1-3} der Erinnerung~\ref{eri:3-4-1} gibt es eine endliche Unterteilung des Intervalls $[a,b]$, \[ a = t_0 < t_1 < t_2 < … < t_m = b, \] sodass für jeden Index $0 \le j < m$ der Wertebereich $γ([t_j, t_{j+1}])$ ganz in einer der Kreisscheiben $Δ_1, …, Δ_n$ liegt. Genauer: für jeden Index $0 \le j < m$ gibt es einen Index $i_j ∈ \{1, …, n\}$ mit \[ γ([t_{j-1}, t_j]) ⊂ Δ_{i_j}. \] Wir betrachten dann die Zahl \[ I_γ := \sum_{j=0}^{m-1} \left( F_{i_j}(γ(t_{j+1})) - F_{i_j}(γ(t_j)) \right). \] Konstruktion~\ref{kons:3-4-2} endet hier. \end{konstruktion} Der Beweis des folgenden Fakts ist elementar, aber etwas langwierig. Ich lass ihn deshalb lieber weg. \begin{fakt}[Wegintegrale: Unabhängigkeit von der Wahl der Überdeckung]\label{fakt:3-4-3}% Die Zahl $I_γ$ aus der obigen Konstruktion hängt nicht von der Wahl der Überdeckung durch Kreisscheiben, der Wahl der Stammfunktionen und der Wahl der Unterteilung des Intervalls $[a,b]$ ab. \qed \end{fakt} \begin{beobachtung}\label{beob:4-1-4}% Wenn der Weg $γ$ aus Konstruktion~\ref{kons:3-4-2} stetig differenzierbar ist, dann gilt \[ I_γ = \int_γ f(z) \, dz. \] \end{beobachtung} Wie in Bemerkung~\vref{bem:3-2-2} versprochen, können wir nun den Begriff des Wegintegrals auf stetige Wege erweitern. Fakt~\ref{fakt:3-4-3} garantiert, dass die Definition sinnvoll ist und nicht von den Wahlen abhängt, die wir in Konstruktion~\ref{kons:3-4-2} getroffen haben. Beobachtung~\ref{beob:4-1-4} garantiert, dass die neue Definition für stetig differenzierbare Wege mit der alten Definition übereinstimmt. \begin{definition}[Wegintegrale: Integration über stetige Wege]\label{def:4-1-5}% Sei $U ⊂ ℂ$ offen und sei $f: U → ℂ$ holomorph. Weiter sei $γ: [a,b] → U$ ein stetiger Weg. Dann definiert man das \emph{Wegintegral}\index{Wegintegral!für stetige Wege} als \[ \int_γ f(z) \, dz := I_{γ}. \] \end{definition} \section{Homotopie von Wegen} Gegeben eine offene Menge $U ⊂ ℂ$ und Punkte $z_0, z_1 ∈ U$, so betrachten wir Wege, die $z_0$ und $z_1$ verbinden. Anschaulich ist klar, dass manche dieser Wege stetig ineinander übergeführt werden können und andere nicht. \begin{definition}[Homotopie von Wegen]\label{def:3-4-1}% Es sei $U$ ein topologischer Raum, und $[a, b] ⊂ ℝ$ ein kompaktes Intervall. Zwei stetige Wege \[ γ_0: [a, b] → U, \quad γ_1: [a, b] → U \quad\text{mit}\quad γ_0(a) = γ_1(a), \quad γ_0(b) = γ_1(b) \] heißen \emph{homotop}\index{homotope Wege}, wenn es stetige Abbildung \[ Γ: [a, b] ⨯ [0, 1] \longrightarrow U \] gibt, sodass die folgenden Bedingungen erfüllt sind: \begin{itemize} \item $\forall s ∈ [0, 1] : Γ(a, s) = γ_0(a) \text{ und } Γ(b, s) = γ_0(b)$ \item $\forall t ∈ [a, b] : Γ(t, 0) = γ_0(t) \text{ und } Γ(t, 1) = γ_1(t)$. \end{itemize} Eine Abbildung $Γ$ mit diesen Eigenschaften heißt \emph{Homotopie}\index{Homotopie von Wegen} zwischen den Wegen $γ_0$ und $γ_1$. \end{definition} In der Situation von Definition~\ref{def:3-4-1} kann man die Homotopie als Familie von Wegen auffassen, $γ_s := Γ(•, s)$, die stetig zwischen den Wegen $γ_0$ und $γ_1$ interpoliert. \begin{definition}[Zusammenziehbare Wege und einfach zusammenhängende Räume]\label{def:3-4-2}% Es sei $U$ ein topologischer Raum, und $[a, b] ⊂ ℝ$ ein kompaktes Intervall. Ein \emph{geschlossener Weg}\index{geschlossener Weg} in $U$ ist ein stetiger Weg \[ γ: [a, b] → U \quad\text{mit}\quad γ(a) = γ(b). \] Ein geschlossener Weg heißt \emph{zusammenziehbar}\index{zusammenziehbare Wege} oder \emph{kontrahierbar}\index{kontrahierbare Wege}, wenn er homotop zu einem konstanten Weg ist. Der Raum $U$ heißt \emph{wegweise einfach zusammenhängend}\index{wegweise einfach zusammenhängend}, wenn jeder geschlossener Weg zusammenziehbar ist. \end{definition} \begin{bsp}[Zentrierte geschlossene Wege in der Kreisscheibe] Es sei $U ⊂ ℂ$ die Einheits-Kreisscheibe und es sei $γ_0: [a, b] → U$ ein Weg mit $γ_0(a) = γ_0(b) = 0$. Dann ist \[ Γ: [a, b] ⨯ [0, 1] → U, \quad (t, s) ↦ (1 - t) · γ_0(t) \] eine Homotopie zwischen dem Weg $γ_0$ und dem konstanten Weg $γ_1 \equiv 0$. Also ist $γ_0$ zusammenziehbar. \end{bsp} \begin{bsp}[Allgemeine geschlossene Wege in der Kreisscheibe]\label{bsp:3-4-4}% Es sei $U ⊂ ℂ$ die Einheits-Kreisscheibe und es sei $γ_0: [a, b] → U$ irgendein geschlossener Weg mit $γ_0(a) = γ_0(b) =: z$. Dann ist \[ Γ: [a, b] ⨯ [0, 1] → U, \quad (t, s) ↦ (1 - s) · (γ_0(t) - z) + z \] eine Homotopie zwischen $γ_0$ und dem konstanten Weg $γ_1 \equiv z$. Also ist die Kreisscheibe einfach zusammenhängend. \end{bsp} \begin{bemerkung}[Konvexe Mengen sind einfach zusammenhängend] Der wesentliche Punkt in Beispiel~\ref{bsp:3-4-4} ist, dass die Bildmenge von $Γ$ ganz in der Kreisscheibe enthalten ist. Die zum Beweis notwendige Rechnung verwendet allerdings nur, dass die Kreisscheibe konvex ist. Tatsächlich sind alle konvexen Mengen wegweise einfach zusammenhängend. In nicht-konvexen Mengen können geschlossene Wege durchaus nicht zusammenziehbar sein. \end{bemerkung} \begin{bemerkung} Homotopie ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge der Wege mit festen Anfangs- und Endpunkten. Insbesondere ist Homotopie reflexiv, symmetrisch und transitiv. \end{bemerkung} \begin{bemerkung} Wir haben noch kein Kriterium dafür, dass eine Menge \emph{nicht} einfach zusammenhängend ist. Der Integralsatz von Cauchy wird uns aber bald ein solches Kriterium liefern. \end{bemerkung} % !TEX root = Funktionentheorie