% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Komplexe Differenzierbarkeit} \section{Holomorphe Funktionen} Wir definieren in wenigen Zeilen, komplexe Differenzierbarkeit von Funktionen $ℂ → ℂ$. Vorher erinnern wir kurz an die relevanten Begriffe aus den Analysis-Vorlesungen. \begin{definition}[Reelle Differenzierbarkeit]\label{def:2-1-1} Es sei $U ⊂ ℝ$ offen und $p ∈ U$. Eine Funktion $f: U → ℝ$ ist bei $p$ differenzierbar mit Ableitung $δ ∈ ℝ$, wenn \[ \lim_{h → 0} \frac{f(p+h) - f(p)}{h} = δ \] ist. \end{definition} \begin{bemerkung} Reell differenzierbare Funktionen sind stetig. Es gelten die Summenregel, Produktregel, Quotientenregel, Kettenregel, … \end{bemerkung} \begin{definition}[Komplexe Differenzierbarkeit]\label{def:2-1-3} Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Eine Funktion $f: U → ℂ$ ist bei $p$ komplex differenzierbar\index{komplex differenzierbar} mit Ableitung $δ ∈ ℂ$, wenn \[ \lim_{h → 0} \frac{f(p+h) - f(p)}{h} = δ \] ist. \end{definition} \begin{bemerkung} Genau wie in der Vorlesung „Analysis“ beweist man: komplex differenzierbare Funktionen sind stetig. Es gelten die Summenregel, Produktregel, Quotientenregel, Kettenregel, … \end{bemerkung} \begin{definition}[Holomorphie an einem Punkt] Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Eine Funktion $f: U → ℂ$ heißt „holomorph\index{holomorph} bei $p$“, wenn es eine offene Umgebung $p ∈ V ⊂ U$ gibt, sodass $f$ bei jedem Punkt aus $V$ komplex differenzierbar ist. Die Menge der Funktionen, die bei $p$ holomorph sind, wird mit $𝒪_p$ bezeichnet. \end{definition} \begin{definition}[Holomorphie auf einer offenen Menge] Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Eine Funktion $f: U → ℂ$ heißt „holomorph auf $U$“, wenn $f$ bei jedem Punkt aus $U$ komplex differenzierbar ist. In diesem Fall wird die Ableitungsfunktion mit $f' : U → ℂ$ bezeichnet. Die Menge der Funktionen, die auf $U$ holomorph sind, wird mit $𝒪(U)$ bezeichnet. \end{definition} \section{Die Cauchy-Riemann Gleichungen} Definitionen~\ref{def:2-1-1} und \ref{def:2-1-3} sehen völlig gleich aus. Das wirft die Frage auf: Ist komplexe Differenzierbarkeit wirklich ein neuer Begriff? Gibt es einen Unterschied zum Begriff der Differenzierbarkeit von Abbildungen $ℝ² → ℝ²$, den wir schon lange aus der Vorlesung „Analysis“ kennen? \begin{erinnerung}[Differenzierbarkeit von Abbildungen $ℝ² → ℝ²$]\label{eri:2-2-1} Es sei $U ⊂ ℝ²$ offen und $p ∈ U$. Eine Abbildung $f: U → ℝ²$ heißt bei $p$ differenzierbar mit Ableitungsmatrix $A ∈ \text{Mat}(2 ⨯ 2, ℝ)$, wenn \[ \lim_{h → 0} \frac{|f(p+h) - f(p) - A · h|}{|h|} = 0. \] Dabei bedeutet der Limes: für alle Nullfolgen $(h_n)$ aus $ℝ²$ ist \[ \lim_{n → ∞} \frac{|f(p+h_n) - f(p) - A · h_n|}{|h_n|} = 0. \] Falls $f$ bei $p$ differenzierbar ist, dann wissen wir auch genau, wie die Ableitungsmatrix $A$ aussieht. Dazu schreiben wir die Funktion $f$ zuerst in Komponenten, \[ f(x,y) = \begin{pmatrix} f_1(x,y) \\ f_2(x,y) \end{pmatrix}. \] Dann ist $A$ die Matrix der partiellen Ableitungen, \[ A = \begin{pmatrix} \frac{∂f_1}{∂ x}(p) & \frac{∂f_1}{∂ y}(p) \\ \frac{∂f_2}{∂ x} (p) & \frac{∂f_2}{∂ y} (p) \end{pmatrix}. \] \end{erinnerung} \begin{notation} Wie in der Analysis üblich bezeichnen wir die Ableitungsmatrix (= „Jacobi-Matrix“) einer Abbildung $f : ℝ² → ℝ²$ (oder äquivalent: $f : ℂ → ℂ$) mit $J_f(p)$. \end{notation} \begin{proberechnung}[Komplexe Differenzierbarkeit und Differenzierbarkeit, I] Um den Unterschied von reeller und komplexer Differenzierbarkeit zu verstehen, machen wir eine große Proberechnung. Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Weiter sei $f: U → ℂ$ bei $p$ komplex differenzierbar mit Ableitung $δ = d_1 + i · d_2$. Es gilt also \[ \lim_{h → 0} \frac{f(p+h) - f(p)}{h} = δ = d_1 + i · d_2. \] Dabei bedeutet der Limes: für alle Nullfolgen $(h_n)$ aus $ℂ$ ist \begin{equation}\label{eq:2-2-1-1} \lim_{n → ∞} \frac{f(p+h_n) - f(p)}{h_n} = δ = d_1 + i · d_2. \end{equation} Um das jetzt besser zu verstehen, schreiben wir $p$ und $f$ zuerst einmal in Komponenten, \[ p = p_1 + i·p_2 \quad\text{und}\quad f(x + iy) = f_1(x,y) + i · f_2(x,y). \] \paragraph{Spezialfall: $h_n$ ist eine rein reelle Folge} Die Gleichung~\eqref{eq:2-2-1-1} gilt für alle Nullfolgen. Betrachten wir also zuerst den Fall, wo $h_n$ eine Folge von reellen Zahlen ist. Dann ist \begin{align*} d_1 + i·d_2 &= \frac{f(p+h_n) - f(p)}{h_n}\\ & = \lim_{n → ∞} \frac{f_1(p_1 + h_n, p_2) + i·f_2(p_1 + h_n, p_2) - f_1(p_1, p_2) - i·f_2(p_1, p_2)}{h_n} \\ & = \frac{∂f_1}{∂ x}(p_1, p_2) + i \frac{∂f_2}{∂ x} (p_1, p_2). \end{align*} Wir sehen: \begin{equation}\label{eq:2-2-1-2} \frac{∂f_1}{∂ x} (p) = d_1 \quad\text{und}\quad \frac{∂f_2}{∂ x} (p) = d_2. \end{equation} \paragraph{Spezialfall: $h_n$ ist eine rein imaginäre Folge} Die Gleichung~\eqref{eq:2-2-1-1} gilt für alle Nullfolgen. Betrachten wir also als nächstes Folgen der Form $i·h_n$, wo $h_n$ eine Folge von reellen Zahlen ist. Dann ist \begin{align*} d_1 + i·d_2 &= \frac{f(p+h_n) - f(p)}{i·h_n}\\ & = \lim_{n → ∞} \frac{f_1(p_1, p_2 + h_n) + i·f_2(p_1, p_2 + h_n) - f_1(p_1, p_2) - i·f_2(p_1, p_2)}{i·h_n} \\ & = -i·\lim_{n → ∞} \frac{f_1(p_1, p_2 + h_n) + i·f_2(p_1, p_2 + h_n) - f_1(p_1, p_2) - i·f_2(p_1, p_2)}{h_n} \\ & = -i·\left(\frac{∂f_1}{∂ y}(p_1, p_2) + i \frac{∂f_2}{∂ y} (p_1, p_2)\right) \\ & = \frac{∂f_2}{∂ y} (p_1, p_2)-i·\frac{∂f_1}{∂ y}(p_1, p_2). \end{align*} Wir sehen: \begin{equation}\label{eq:2-2-1-3} \frac{∂f_2}{∂ y} (p) = d_1 \quad\text{und}\quad \frac{∂f_1}{∂ y} (p) = -d_2. \end{equation} Wir beenden die Proberechnung hier. \end{proberechnung} Als Konsequenz halten wir Folgendes fest. \begin{kons}[Cauchy-Riemann Gleichungen]\label{kons:2-2-3}% Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Weiter sei $f: U → ℂ$ bei $p$ komplex differenzierbar. Schreibe $f$ in Komponenten, $f = f_1 + i · f_2$, mit $f_1, f_2 : U → ℝ$. Dann sind $f_1$ und $f_2$ bei $p$ differenzierbar und es ist \begin{equation}\label{eq:2-2-2-1} \frac{∂f_1}{∂ x} (p) = \frac{∂f_2}{∂ y} (p) \quad\text{und}\quad \frac{∂f_1}{∂ y} (p) = -\frac{∂f_2}{∂ x} (p). \end{equation} \end{kons} \begin{proof} Vergleiche~\eqref{eq:2-2-1-2} und \eqref{eq:2-2-1-3}. \end{proof} \begin{notation}[Cauchy-Riemann Gleichungen] Man nennt das Gleichungssystem~\eqref{eq:2-2-2-1} die „Cauchy\footnote{Baron Augustin-Louis Cauchy (* 21. August 1789 in Paris; † 23. Mai 1857 in Sceaux) war ein französischer Mathematiker und Physiker.}-Riemann\footnote{Georg Friedrich Bernhard Riemann (* 17. September 1826 in Breselenz bei Dannenberg (Elbe); † 20. Juli 1866 in Selasca, Gemeinde Intra [heute zu Verbania] am Lago Maggiore) war ein deutscher Mathematiker, der trotz seines relativ kurzen Lebens auf vielen Gebieten der Analysis, Differenzialgeometrie, mathematischen Physik und der analytischen Zahlentheorie bahnbrechend wirkte. Er gilt als einer der bedeutendsten Mathematiker. Seine Arbeit legte den Grundstein für die Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein. } partiellen Differenzialgleichungen“\index{Cauchy-Riemann Gleichungen}. \end{notation} \sideremark{Vorlesung 3}Es gilt sogar eine Äquivalenz. \begin{satz}[Cauchy-Riemann Gleichungen] Es sei $U ⊂ ℂ$ offen, $p ∈ U$ und $f: U → ℂ$ eine komplex-wertige Funktion. Schreibe $f$ in Komponenten, $f = f_1 + i · f_2$, mit $f_1, f_2 : U → ℝ$. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item\label{il:2-2-5-1} Die Funktion $f$ ist bei $p$ komplex differenzierbar. \item\label{il:2-2-5-2} Die Funktionen $f_1$ und $f_2$ sind bei $p$ differenzierbar und erfüllen die Cauchy-Riemann Gleichungen \eqref{eq:2-2-2-1}. \end{enumerate} \end{satz} \begin{proof} Die Implikation \ref{il:2-2-5-1} $⇔$ \ref{il:2-2-5-2} ist exakt die Aussage von Konsequenz~\ref{kons:2-2-3}. Die Umkehrrichtung lasse ich als Hausaufgabe, damit Sie sich an die Definitionen und Sätze der Vorlesung „Analysis~II“ erinnern. \end{proof} Die Cauchy-Riemannschen Differenzialgleichungen sind so wichtig, dass sich eine eigene Notation entwickelt hat, der „Wirtinger\footnote{Wilhelm Wirtinger (* 19. Juli 1865 in Ybbs an der Donau; † 16. Januar 1945 ebenda) war ein österreichischer Mathematiker.}-Kalkül“. \begin{notation}[Wirtinger-Kalkül]\label{not:2-2-6}% \index{Wirtinger-Kalkül}Es sei $U ⊂ ℂ$ offen, $p ∈ U$ und $f: U → ℂ$ eine komplex-wertige Funktion. Schreibe $f$ in Komponenten, $f = f_1 + i · f_2$, mit $f_1, f_2 : U → ℝ$. Wenn $f_1$ und $f_2$ bei $p$ partiell differenzierbar sind, dann schreibt man \begin{align*} \frac{∂ f}{∂ z}(p) & := \frac{1}{2}\left(\frac{∂ f}{∂ x}(p) - i·\frac{∂ f}{∂ y}(p)\right) \\ & = \frac{1}{2}\left(\frac{∂ f_1}{∂ x}(p) + i·\frac{∂ f_2}{∂ x}(p) - i·\left(\frac{∂ f_1}{∂ y}(p) + i·\frac{∂ f_2}{∂ y}(p)\right)\right) \\ & = \frac{1}{2}\left(\left(\frac{∂ f_1}{∂ x}(p) + \frac{∂ f_2}{∂ y}(p)\right) + i·\left(-\frac{∂ f_1}{∂ y}(p) + \frac{∂ f_2}{∂ x}(p)\right)\right) \\ \intertext{und} \frac{∂ f}{∂ \bar{z}}(p) & := \frac{1}{2}\left(\frac{∂ f}{∂ x}(p) + i·\frac{∂ f}{∂ y}(p)\right) \\ & = \frac{1}{2}\left(\frac{∂ f_1}{∂ x}(p) + i·\frac{∂ f_2}{∂ x}(p) + i·\left(\frac{∂ f_1}{∂ y}(p) + i·\frac{∂ f_2}{∂ y}(p)\right)\right) \\ & = \frac{1}{2}\left(\left(\frac{∂ f_1}{∂ x}(p) - \frac{∂ f_2}{∂ y}(p)\right) + i·\left(\frac{∂ f_1}{∂ y}(p) + \frac{∂ f_2}{∂ x}(p)\right)\right) \\ \end{align*} \end{notation} \begin{prop}[Komplexe Differenzierbarkeit und Wirtinger-Kalkül] Es sei $U ⊂ ℂ$ offen, $p ∈ U$ und $f: U → ℂ$ eine komplex-wertige Funktion. Schreibe $f$ in Komponenten, $f = f_1 + i · f_2$, mit $f_1, f_2 : U → ℝ$. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item Die Funktion $f$ ist bei $p$ komplex differenzierbar. \item Die Funktion $f$ ist bei $p$ differenzierbar und es ist $\frac{∂ f}{∂ \bar{z}}(p) = 0$. \end{enumerate} Falls die äquivalenten Bedingungen erfüllt sind, gilt auch $f'(p) = \frac{∂ f}{∂ z}(p)$. \end{prop} \begin{proof} Vergleiche die letzte Zeile von Notation~\ref{not:2-2-6} mit den Cauchy-Riemann Gleichungen \eqref{eq:2-2-2-1}. \end{proof} \section{Komplexe Differenzierbarkeit und Differenzierbarkeit} Wir vergleichen in diesem Abschnitt noch einmal die Begriffe „Komplexe Differenzierbarkeit“ und „Differenzierbarkeit“. Diesmal geht es darum, die Rolle der Ableitungsmatrix zu verstehen. Wir starten wieder mit einer Proberechnung. \begin{erinnerung}[Komplexe Multiplikation = Drehstreckung] Sei $δ ∈ ℂ$ eine komplexe Zahl. Dann ist die Multiplikationsabbildung \[ m_δ : ℂ → ℂ, \quad z ↦ δ·z \] eine Drehstreckung. Wenn ich die $ℂ$ und $ℝ²$ wie üblich identifiziere, dann ist die Drehstreckung $m_δ : ℝ² → ℝ²$ linear und durch Multiplikation mit einer Matrix $A ∈ \operatorname{Mat}(2 ⨯ 2, ℝ)$ beschrieben. \end{erinnerung} \begin{erinnerung}[Lineare Algebra]\label{eri:2-3-2}% Betrachte die Matrix \[ A = \begin{pmatrix} a & b \\ c & d \end{pmatrix} ∈ \operatorname{Mat}(2 ⨯ 2, ℝ). \] Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item Die zur Matrixmultiplikation mit $A$ gehörende Abbildung $ℝ² → ℝ²$ ist eine Drehstreckung. \item\label{il:2-3-2-2} Es gilt $a = d$ und $b = -c$. \end{enumerate} \end{erinnerung} \begin{frage} Kennen wir die Gleichungen \ref{il:2-3-2-2} irgendwoher? \end{frage} \begin{proberechnung}[Komplexe Differenzierbarkeit und Differenzierbarkeit, II] Sei $U ⊂ ℂ$ offen, sei $p ∈ U$ und sei $f: U → ℂ$ eine Funktion. Weiter sei $δ ∈ ℂ$ eine Zahl und es sei $A ∈ \operatorname{Mat}(2 ⨯ 2, ℝ)$ die zur Multiplikation $δ$ gehörende Drehstreckungsmatrix. Dann gilt Folgendes: \begin{align*} \lim_{h → 0} \frac{f(p+h) - f(p)}{h} = δ & ⇔ \lim_{h → 0} \frac{f(p+h) - f(p) - δ · h}{h} = 0 \\ & ⇔ \lim_{h → 0} \frac{|f(p+h) - f(p) - δ · h|}{|h|} = 0 \\ & ⇔ \lim_{h → 0} \frac{|f(p+h) - f(p) - A · h|}{|h|} = 0. \end{align*} Also sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item Die Abbildung $f$ ist bei $p$ komplex differenzierbar mit Ableitung $f'(p) = δ$ \item Die Abbildung $f$ ist bei $p$ differenzierbar mit Ableitungsmatrix $J_f(p) = A$. \end{enumerate} \end{proberechnung} Der folgende Satz fasst alles zusammen, was wir bislang über den Zusammenhang zwischen Differenzierbarkeit und komplexer Differenzierbarkeit wissen. \begin{satz}[Komplexe Differenzierbarkeit und Differenzierbarkeit]\label{satz:2-3-5} Sei $U ⊂ ℂ$ offen, sei $p ∈ U$ und sei $f: U → ℂ$ eine Funktion. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item\label{il:2-3-5-1} Die Funktion $f$ ist bei $p$ komplex differenzierbar. \item\label{il:2-3-5-2} Die Funktion $f$ ist bei $p$ differenzierbar und es gelten die Cauchy-Riemann Gleichungen \eqref{eq:2-2-2-1}. \item\label{il:2-3-5-3} Die Funktion $f$ ist bei $p$ differenzierbar und es ist $\frac{∂ f}{∂ \bar{z}}(p) = 0$. \item\label{il:2-3-5-4} Die Funktion $f$ ist bei $p$ differenzierbar und die Ableitungsmatrix ist eine Drehstreckung. \end{enumerate} \end{satz} \begin{proof} Es ist lediglich die Implikation \ref{il:2-3-5-4} $⇔$ \ref{il:2-3-5-2} interessant. Betrachte dazu die Ableitungsmatrix von $f$ wie in Erinnerung~\ref{eri:2-2-1} und vergleiche die Cauchy-Riemann Gleichungen \eqref{eq:2-2-2-1} mit Erinnerung~\ref{eri:2-3-2}. \end{proof} \section{Fingerübungen beim Ableiten} \begin{notation}[Ableitungen von Wegen in der komplexen Ebene] Seien $V ⊂ ℝ$ und $U ⊂ ℂ = ℝ²$ offen. Weiter sei $γ: V → U$ eine differenzierbare Abbildung (=ein „Weg in der komplexen Ebene“). Wir schreiben $γ$ in Komponenten, \[ γ = \begin{pmatrix} γ_1 \\ γ_2\end{pmatrix}, \] wobei $γ_1$ und $γ_2 : V → ℝ$ reellwertige Abbildungen sind. Gegeben ein Element $t ∈ V$, dann ist die Ableitungsmatrix \[ J_γ(t) = \begin{pmatrix} γ_1'(t) \\ γ_2'(t) \end{pmatrix} \] eine Matrix vom Format $2 ⨯ 1$, kann also als Element von $ℝ² = ℂ$ aufgefasst werden. Wir bezeichnen diese komplexe Zahl mit $γ'(t)$. \end{notation} Gegeben eine komplex differenzierbare Funktion, interessiere ich mich für die Ableitung des Weges $f ◦ γ: V → ℂ$. \begin{prop}[Reell-komplexe Kettenregel] Seien $V ⊂ ℝ$ und $U ⊂ ℂ = ℝ²$ offen. Weiter sei $γ: V → U$ eine differenzierbare Abbildung und $f ∈ 𝒪(U)$. Dann ist \[ (f ◦ γ)' = (f' ◦ γ) · γ'. \] \end{prop} \begin{proof} Gegeben ein $z ∈ U$, so haben wir uns schon überlegt, dass die Ableitungsmatrix $J_f(z)$ exakt die Drehstreckung ist, die der Multiplikation mit der komplexen Zahl $f'(z)$ entspricht. Nach der Kettenregel für differenzierbare Funktionen gilt für jedes $t ∈ V$ also die Gleichung \[ (f ◦ γ)'(t) = \underbrace{J_f(γ(t))}_{2⨯ 2\text{-Matrix}} · \underbrace{J_γ(t)}_{\text{Vektor}} = \underbrace{f'(γ(t))}_{\text{kompl.~Zahl}} · \underbrace{γ'(t)}_{\text{kompl.~Zahl}}. \] \end{proof} Ansonsten gelten die üblichen Regeln für Verknüpfungen von differenzierbaren Funktionen auch für komplex differenzierbare Funktionen. \begin{prop}[Rechenregeln für komplex differenzierbare Funktionen] --- \begin{enumerate} \item Summen, Differenzen, Produkte und Kompositionen von komplex differenzierbaren Funktionen sind komplex differenzierbar. Es gilt die Summen-, Produkt- und Kettenregel. \item Quotienten von komplex differenzierbaren Funktionen sind komplex differenzierbar wo sie definiert sind. Es gilt die Quotientenregel. \end{enumerate} \end{prop} \begin{proof} Nachrechnen! \end{proof} \begin{prop}[Umkehrabbildungen]\label{prop:2-4-4} Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und es sei $f ∈ 𝒪(U)$ holomorph, sodass die folgenden Bedingungen gelten: \begin{enumerate} \item\label{il:2-4-4-1} Die Abbildung $f$ ist injektiv. \item\label{il:2-4-4-2} Für alle $p ∈ U$ gilt: $f'(p) ≠ 0$. \end{enumerate} Dann ist die Bildmenge $V := f(U) ⊂ ℂ$ offen und die Umkehrabbildung ist wieder holomorph, $f^{-1} ∈ 𝒪(V)$. \end{prop} \begin{proof} Annahme \ref{il:2-4-4-1} stellt sicher, dass für alle $p ∈ U$ die Ableitungsmatrix $J_f(p) ∈ \operatorname{Mat}(2 ⨯ 2, ℝ)$ invertierbar ist. Damit wissen wir aus der Vorlesung „Analysis II“: Die Bildmenge $V := f(U)$ ist offen und die Umkehrabbildung $f^{-1}: V → U$ ist differenzierbar. Genauer: wenn $q ∈ V$ ist mit Urbildpunkt $p ∈ U$, dann ist die Ableitungsmatrix von $f^{-1}$ bei $q$ \[ J_{f^{-1}}(q) = \left(J_f (p)\right)^{-1}. \] Per Annahme ist $J_f (p)$ eine Drehstreckung, mit einem Streckungsfaktor ungleich $0$. Also ist auch $\left(J_f (p)\right)^{-1}$ eine Drehstreckung und nach Satz~\ref{satz:2-3-5} ist $f^{-1}$ bei $q$ komplex differenzierbar. \end{proof} \section{Erste Beispiele von holomorphen Funktionen} Folgendes können wir jetzt schon sagen oder durch direktes Nachrechnen beweisen. \begin{itemize} \item Alle Polynome sind holomorph. In Formeln: $ℂ[z] ⊂ 𝒪(ℂ)$. \item Alle rationalen Funktionen sind außerhalb der Nullstellenmenge des Nenners holomorph. \item Die komplexe Exponentialfunktion ist auf ganz $ℂ$ holomorph und es gilt $\exp' = \exp$. \item Die komplexe Sinus- und Cosinusfunktion ist auf ganz $ℂ$ holomorph und es gelten die üblichen Formeln für die Ableitung. \end{itemize} \subsection{Wurzelfunktionen} Es sei \begin{align*} \bH & := \{z ∈ ℂ \mid \text{Im}(z) > 0\} && \text{die „obere Halbebene“} \\ S & := \{z ∈ ℂ \mid \text{Im}(z) ≠ 0 \text{ oder } \text{Re}(z) ≤ 0\} && \text{die „geschlitzte Ebene“.} \end{align*} \index{obere Halbebene}\index{geschlitzte Ebene}Dann ist die Abbildung \[ s : \bH → S, \quad z ↦ z² \] bijektiv und deshalb existiert nach Proposition~\ref{prop:2-4-4} eine holomorphe Wurzelfunktion \[ \sqrt{•} : S → \bH \] mit Ableitung \[ \sqrt{•}' : S → ℂ, \quad z ↦ \frac{1}{2·\sqrt{z}} \] \begin{frage}[Wurzelfunktion ?!] Ist das nicht ein Widerspruch zu Lemma~\vref{lem:1-1-23}? \end{frage} \subsection{Logarithmus} \label{sec:2-5-2} Analog zur Wurzelfunktion ist der Hauptzweig des Logarithmus auf der geschlitzten Ebene, \[ \log : S → ℂ, \quad z ↦ \log|z| + i · \arg(z), \] holomorph mit Ableitung \[ \log' : S → ℂ, \quad z ↦ \frac{1}{z}. \] \begin{frage}[Logarithmus ?!] Ist das nicht ein Widerspruch zu Lemma~\vref{lem:1-2-15}? \end{frage} % !TEX root = Funktionentheorie