% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Differenzierbarkeit} \section{Holomorphe Funktionen} Wir definieren in wenigen Zeilen, komplexe Differenzierbarkeit von Funktionen $ℂ → ℂ$. Vorher erinnern wir kurz an die relevanten Begriffe aus den Analysis-Vorlesungen. \begin{definition}[Reelle Differenzierbarkeit]\label{def:2-1-1} Es sei $U ⊂ ℝ$ offen und $p ∈ U$. Eine Funktion $f: U → ℝ$ ist bei $p$ differenzierbar mit Ableitung $δ ∈ ℝ$, wenn \[ \lim_{h → 0} \frac{f(p+h) - f(p)}{h} = δ \] ist. \end{definition} \begin{bemerkung} Reell differenzierbare Funktionen sind stetig. Es gelten die Summenregel, Produktregel, Quotientenregel, Kettenregel, … \end{bemerkung} \begin{definition}[Komplexe Differenzierbarkeit]\label{def:2-1-3} Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Eine Funktion $f: U → ℂ$ ist bei $p$ komplex differenzierbar\index{komplex differenzierbar} mit Ableitung $δ ∈ ℂ$, wenn \[ \lim_{h → 0} \frac{f(p+h) - f(p)}{h} = δ \] ist. \end{definition} \begin{bemerkung} Genau wie in der Vorlesung „Analysis“ beweist man: komplex differenzierbare Funktionen sind stetig. Es gelten die Summenregel, Produktregel, Quotientenregel, Kettenregel, … \end{bemerkung} \begin{definition}[Holomorphie an einem Punkt] Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Eine Funktion $f: U → ℂ$ heißt „holomorph\index{holomorph} bei $p$“, wenn es eine offene Umgebung $p ∈ V ⊂ U$ gibt, sodass $f$ bei jedem Punkt aus $V$ komplex differenzierbar ist. Die Menge der Funktionen, die bei $p$ holomorph sind, wird mit $𝒪_p$ bezeichnet. \end{definition} \begin{definition}[Holomorphie auf einer offenen Menge] Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Eine Funktion $f: U → ℂ$ heißt „holomorph auf $U$“, wenn $f$ bei jedem Punkt aus $U$ komplex differenzierbar ist. In diesem Fall wird die Ableitungsfunktion mit $f' : U → ℂ$ bezeichnet. Die Menge der Funktionen, die auf $U$ holomorph sind, wird mit $𝒪(U)$ bezeichnet. \end{definition} \section{Komplex Differenzierbarkeit und Differenzierbarkeit} Definitionen~\ref{def:2-1-1} und \ref{def:2-1-3} sehen völlig gleich aus. Das wirft die Frage auf: Ist komplexe Differenzierbarkeit wirklich ein neuer Begriff? Gibt es einen Unterschied zum Begriff der Differenzierbarkeit von Abbildungen $ℝ² → ℝ²$, den wir schon lange aus der Vorlesung „Analysis“ kennen? \begin{erinnerung}[Differenzierbarkeit von Abbildungen $ℝ² → ℝ²$] Es sei $U ⊂ ℝ²$ offen und $p ∈ U$. Eine Abbildung $f: U → ℝ²$ heißt bei $p$ differenzierbar mit Ableitungsmatrix $A ∈ \text{Mat}(2 ⨯ 2, ℝ)$, wenn \[ \lim_{h → 0} \frac{|f(p+h) - f(p) - A · h|}{|h|} = 0. \] Dabei bedeutet der Limes: für alle Nullfolgen $(h_n)$ aus $ℝ²$ ist \[ \lim_{n → ∞} \frac{|f(p+h_n) - f(p) - A · h_n|}{|h_n|} = 0. \] Falls $f$ bei $p$ differenzierbar ist, dann wissen wir auch genau, wie die Ableitungsmatrix $A$ aussieht. Dazu schreiben wir die Funktion $f$ zuerst in Komponenten, \[ f(x,y) = \begin{pmatrix} f_1(x,y) \\ f_2(x,y) \end{pmatrix}. \] Dann ist $A$ die Matrix der partiellen Ableitungen, \[ A = \begin{pmatrix} \frac{∂}{∂ x}f_1(p) & \frac{∂}{∂ y} f_1(p) \\ \frac{∂}{∂ x} f_2(p) & \frac{∂}{∂ y} f_2(p) \end{pmatrix}. \] \end{erinnerung} \subsubsection{Proberechnungen} Um den Unterschied von reeller und komplexer Differenzierbarkeit zu verstehen, machen wir in diesem Abschnitt eine große Proberechnung. Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Weiter sei $f: U → ℂ$ bei $p$ komplex differenzierbar mit Ableitung $δ = d_1 + i · d_2$. Es gilt also \[ \lim_{h → 0} \frac{f(p+h) - f(p)}{h} = δ = d_1 + i · d_2. \] Dabei bedeutet der Limes: für alle Nullfolgen $(h_n)$ aus $ℂ$ ist \begin{equation}\label{eq:2-2-1-1} \lim_{n → ∞} \frac{f(p+h_n) - f(p)}{h_n} = δ = d_1 + i · d_2. \end{equation} Um das jetzt besser zu verstehen, schreiben wir $p$ und $f$ zuerst einmal in Komponenten, \[ p = p_1 + i·p_2 \quad\text{und}\quad f(x + iy) = f_1(x,y) + i · f_2(x,y). \] \paragraph{Spezialfall: $h_n$ ist eine rein reelle Folge} Die Gleichung~\eqref{eq:2-2-1-1} gilt für alle Nullfolgen. Betrachten wir also zuerst den Fall, wo $h_n$ eine Folge von reellen Zahlen ist. Dann ist \begin{align*} d_1 + i·d_2 &= \frac{f(p+h_n) - f(p)}{h_n}\\ & = \lim_{n → ∞} \frac{f_1(p_1 + h_n, p_2) + i·f_2(p_1 + h_n, p_2) - f_1(p_1, p_2) - i·f_2(p_1, p_2)}{h_n} \\ & = \frac{∂}{∂ x}f_1(p_1, p_2) + i \frac{∂}{∂ x} f_2(p_1, p_2). \end{align*} Wir sehen: \begin{equation}\label{eq:2-2-1-2} \frac{∂}{∂ x} f_1(p) = d_1 \quad\text{und}\quad \frac{∂}{∂ x} f_2(p) = d_2. \end{equation} \paragraph{Spezialfall: $h_n$ ist eine rein imaginäre Folge} Die Gleichung~\eqref{eq:2-2-1-1} gilt für alle Nullfolgen. Betrachten wir also als nächstes Folgen der Form $i·h_n$, wo $h_n$ eine Folge von reellen Zahlen ist. Dann ist \begin{align*} d_1 + i·d_2 &= \frac{f(p+h_n) - f(p)}{i·h_n}\\ & = \lim_{n → ∞} \frac{f_1(p_1, p_2 + h_n) + i·f_2(p_1, p_2 + h_n) - f_1(p_1, p_2) - i·f_2(p_1, p_2)}{i·h_n} \\ & = -i·\lim_{n → ∞} \frac{f_1(p_1, p_2 + h_n) + i·f_2(p_1, p_2 + h_n) - f_1(p_1, p_2) - i·f_2(p_1, p_2)}{h_n} \\ & = -i·\left(\frac{∂}{∂ y}f_1(p_1, p_2) + i \frac{∂}{∂ y} f_2(p_1, p_2)\right) \\ & = \frac{∂}{∂ y} f_2(p_1, p_2)-i·\frac{∂}{∂ y}f_1(p_1, p_2). \end{align*} Wir sehen: \begin{equation}\label{eq:2-2-1-3} \frac{∂}{∂ y} f_2(p) = d_1 \quad\text{und}\quad \frac{∂}{∂ y} f_1(p) = -d_2. \end{equation} Wir beenden die Proberechnungen hier. Als Konsequenz halten wir Folgendes fest. \begin{prop}[Cauchy-Riemann Gleichungen] Es sei $U ⊂ ℂ$ offen und $p ∈ U$. Weiter sei $f: U → ℂ$ bei $p$ komplex differenzierbar. Schreibe $f$ in Komponenten, $f$ in Komponenten, $f = f_1 + i · f_2$, mit $f_1, f_2 : U → ℝ$. Dann ist \begin{equation}\label{eq:2-2-2-1} \frac{∂}{∂ x} f_1(p) = \frac{∂}{∂ y} f_2(p) \quad\text{und}\quad \frac{∂}{∂ y} f_1(p) = -\frac{∂}{∂ x} f_2(p). \end{equation} \end{prop} \begin{proof} Vergleiche~\eqref{eq:2-2-1-2} und \eqref{eq:2-2-1-3}. \end{proof} \begin{notation}[Cauchy-Riemann Gleichungen] Man nennt das Gleichungssystem~\eqref{eq:2-2-2-1} die „Cauchy-Riemann partiellen Differenzialgleichungen“\index{Cauchy-Riemann Gleichungen}. \end{notation} % !TEX root = LineareAlgebra2