% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Anwendungen des Residuensatzes} \section{Zählen von Null- und Polstellen} \begin{situation}\label{sit:12-5-1}% --- \begin{itemize} \item Es sei $U ⊂ ℂ$ Gebiet und es sei $P ⊂ U$ eine abgeschlossene und diskrete Teilmenge. \item Es sei $f ∈ 𝒪(U ∖ P)$ eine holomorphe Funktion mit isolierten Singularitäten. Wir nehmen an, dass $f$ nicht die Nullfunktion ist und keine essenziellen Singularitäten hat. Für jeden Punkt $z ∈ U$ sei $ν_z(f)$ die Polstellenordnung von $f$ in $z$; diese ist positiv, wenn $f$ bei $z$ eine Polstelle hat und negativ bei Nullstellen. \item Es sei $N = \{z ∈ U \mid f(z) = 0\}$ die Menge der Nullstellen von $f$. \item Es sei $γ: [a,b] → U ∖ (N ∪ P)$ sei ein in $U$ zusammenziehbarer Weg. \end{itemize} \end{situation} \begin{bemerkung} In Situation~\ref{sit:12-5-1} sind die Zahlen $ν_z(f)$ für fast alle $z ∈ U$ gleich null, und höchstens für $z ∈ P$ positiv. \end{bemerkung} \begin{bemerkung}\label{bem:12-5-3}% In Situation~\ref{sit:12-5-1} sagt die „Goldene Regel 2“, dass die Umlaufzahlen $\Um(γ, p)$ höchstens auf einer kompakten Teilmenge von $U$ ungleich null sind. Da der Schnitt einer diskreten Menge mit einer kompakten Menge endlich ist, gibt es nur endlich viele Punkte $z ∈ U$, für die das Produkt $\Um(γ, p) · ν_p(f)$ ungleich null ist. \end{bemerkung} \begin{satz}[Zählen von Null- und Polstellen]\label{satz:12-5-1}% In Situation~\ref{sit:12-5-1} betrachte den Weg $f ◦ γ : [a,b] → ℂ$. Dann gilt \[ \Um(f ◦ γ, 0) = \sum_{p ∈ U} \Um(γ, p) · ν_p(f). \] Beachte, dass nach Bemerkung~\ref{bem:12-5-3} nur endlich viele der Summanden auf der rechten Seite ungleich null sind. \end{satz} \begin{proof} Es gilt \begin{align*} \Um(f ◦ γ, 0) & = \frac{1}{2π i} \int_{f◦ γ} \frac{1}{z} \, dz && \text{Definition Umlaufzahl} \\ & = \frac{1}{2π i} \int_γ \frac{f'(z)}{f(z)} \, dz && \text{Definition Wegintegral, Kettenregel} \\ & = \sum_{p ∈ U} \Um(γ, p) · ν_p(f) && \text{Residuensatz, Bemerkung~\ref{bem:12-4-2}.} \end{align*} Damit ist Satz~\ref{satz:12-5-1} bewiesen. \end{proof} \begin{kor}[Satz von Rouché\footnote{Eugène Rouché (* 18.~August 1832 in Sommières, Département Hérault; † 19.~August 1910 in Lunel) war ein französischer Mathematiker. }]\label{kor:12-5-2}% \index{Satz von Rouché}Sei $U ⊂ ℂ$ offen, $f ∈ 𝒪(U)$ und $K ⊂ U$ eine abgeschlossene Kreisscheibe. Sei außerdem eine holomorphe Funktion $g ∈ 𝒪(U)$ gegeben, sodass für jedes $z ∈ δ K$ die Ungleichung \begin{equation}\label{eq:12-5-5}% |f(z)| > |g(z)| \end{equation} gilt. Dann gilt Folgendes. \begin{enumerate} \item\label{il:12-5-5-1} Alle Nullstellen von $f$ und $f+g$ auf $K$ liegen im Inneren von $K$. \item\label{il:12-5-5-2} Mit Vielfachheit gezählt haben $f$ und $f+g$ die gleiche Anzahl an Nullstellen auf $K$. \end{enumerate} \end{kor} \begin{proof} Für $t ∈ [0,1]$ betrachte die Familie von Funktionen $h_t(z) := f(z) + t·g(z)$. Ungleichung~\eqref{eq:12-5-5} zeigt sofort, dass für jedes $t ∈ [0,1]$ und jedes $z ∈ ∂K$ die Ungleichung \[ h_t(z) \] gilt. Damit ist~\ref{il:12-5-5-1} bewiesen. Als Nächstes betrachte \[ N : [0,1] → ℂ, \quad t ↦ \frac{1}{2π i} \int_{∂K} \frac{h_t'(z)}{h_t(z)} \, dz. \] Auf der einen Seite sagt der Satz über parameterabhängige Integrale, dass $N$ stetig ist. Auf der anderen Seite gilt nach Satz~\ref{satz:12-5-1} für jedes $t ∈ [0,1]$ die Gleichung \[ N(t) = \text{Anzahl der Nullstellen von $h_t$ in $K$}. \] Da $N(t)$ also ganzzahlig ist, ist $N$ konstant. Somit gilt insbesondere $N(0) = N(1)$. \end{proof} \begin{bsp}\label{bsp:12-5-3}% Wir behaupten, dass die Funktion \[ \frac{1}{10} z⁷ + 1 + 5 z² \] in $B_1(0)$ genau $2$ Nullstellen hat. Schreibe dazu $f(z) = 5z²$, $g(z) = \frac{1}{10} z⁷ + 1$ und beobachte, dass für jedes $z$ mit $|z| = 1$ die Ungleichung \[ |f(z)| = 5 > 1 + \frac{1}{10} ≥ |g(z)| \] gilt. Der Satz von Rouché zeigt nun die Behauptung. \end{bsp} \section{Funktionen mit vorgegebenen Nullstellen} \begin{satz}[Weierstraß] \index{Satz von Weierstraß}Sei $P \subset \bC$ eine diskrete und abgeschlossene Menge und $n : P \to \bN$ eine beliebige Abbildung. Dann existiert eine Funktion $f \in \sO(\bC)$, sodass folgendes gilt. \begin{enumerate} \item Die Nullstellenmenge von $f$ ist exakt $P$. \item Für jedes $p \in P$ gilt: Die Funktion $f$ hat bei $p$ eine Nullstelle der Ordnung $n(p)$. \end{enumerate} \end{satz} \subsection{Vorüberlegung zum Beweis des Satzes von Weierstraß} Es sei $f \in \sO(\bC)$ eine holomorphe Funktion, die am Punkt $p \in \bC$ eine Nullstelle der Ordnung $n$ besitzt. Entwickle $f$ bei $p$ in eine Potenzreihe, sodass für $z$ in einer Umgebung von $p$ folgendes gilt. \begin{align} f(z) & = \sum_{i = n}^{\infty} a_i (z-p)^i \\ f'(z) & = \sum_{i = n}^{\infty} a_i·i·(z-p)^{i-1} \\ f^{-1}(z) & = a^{-1}_n·(z-p)^{-n} + \sum_{i = -n+1}^{\infty} \cdots \\ \label{il:13-2-1-6} (f'/f)(z) & = \underbrace{n·(z-p)^{-1}}_{\text{Hauptteil}} + \underbrace{(\text{Potenzreihe})}_{\text{Nebenteil}}. \end{align} \subsection{Beweis des Satzes von Weierstraß} Die Vorüberlegung legt nahe, den Satz von Mittag–Leffler zu verwenden. Sei also $g \in \sO(\bC \setminus P)$ eine Funktion, deren Hauptteil an jeder Stelle $p \in P$ exakt gleich $\frac{n(p)}{z-p}$ ist. Das Ziel ist jetzt, aus der Funktion $g$ die gesuchte Funktion $f$ zu konstruieren. \begin{erinnerung} Der Residuensatz besagt, dass für jede geschlossene Kurve $\gamma$ in $\bC \setminus P$ gilt: \[ \int_\gamma g(z) \, dz = 2\pi i \sum_{p \in P} \Um(\gamma, p) · n(p). \] Da $n(p) \in \bZ$ für alle $p \in P$ gilt, ist das Integral auf der linken Seite also stets ein ganzzahliges Vielfaches von $2\pi i$, liegt also im Kern der Exponentialfunktion $\exp : \bC \to \bC^*$. \end{erinnerung} Die Erinnerung erlaubt folgende Konstruktion: Wähle einen Punkt $q \in \bC \setminus P$ und wähle für jedes $w \in \bC \setminus P$ einen Weg $\gamma_w$ von $q$ nach $w$. Dann definiere die Funktion \[ f : \bC \setminus P \to \bC^*, \quad w \mapsto \exp \left(\int_{\gamma_w} g(z) \, dz\right). \] Die Erinnerung zeigt, dass die Funktion $f$ unabhängig von der Wahl der Wege $\gamma_w$ ist. \begin{beobachtung} Die Funktion $f$ ist auf $\bC \setminus P$ holomorph, weil $g$ holomorph ist. \qed \end{beobachtung} \begin{beobachtung} Die Funktion $f$ hat auf $\bC \setminus P$ keine Nullstelle, weil die Exponentialfunktion keine Nullstelle hat. \qed \end{beobachtung} \begin{beobachtung}\label{beo:13-2-1}% Auf $\bC \setminus P$ gilt die Gleichung $f'/f = g$. \qed \end{beobachtung} Jetzt fehlt nur noch zu zeigen, dass $f$ an jedem Punkt $p \in P$ eine hebbare Singularität hat und dass die fortgesetzte Funktion eine Nullstelle der Ordnung $n(p)$ besitzt. Sei also ein Punkt $p \in P$ gegeben. Wähle eine kleine Kreisscheibe $B_\varepsilon(p)$ um $p$, die keine weiteren Punkte aus $P$ enthält. Nach Beobachtung~\ref{beo:13-2-1} und der Wahl von $g$ gilt auf $B_\varepsilon(p) \setminus \{p\}$ die Gleichung \[ \frac{f'(z)}{f(z)} = g(z) = \frac{n(p)}{z-p} + h(z), \] wobei $h \in \sO(B_\varepsilon(p))$ eine holomorphe Funktion ist. Äquivalent: Die Funktion $f$ erfüllt auf $B_\varepsilon(p) \setminus \{p\}$ die Differentialgleichung \[ f'(z) = \left[\frac{n(p)}{z-p} + h(z) \right]·f(z). \] Diese Differentialgleichung lässt sich durch Trennung der Variablen lösen. Genauer: Wenn $H \in \sO(B_\varepsilon(p))$ eine Stammfunktion von $h$ ist, dann sind alle Lösungen der Differentialgleichung auf $B_\varepsilon(p) \setminus \{p\}$ gegeben durch \[ \text{const}^{\ne 0} · \exp\left( H(z) \right)·(z-p)^{n(p)}. \] Die Funktion $f|_{B_\varepsilon(p)}$ ist aber eine dieser Lösungen, hat also bei $p$ eine hebbare Singularität und eine Nullstelle der Ordnung $n(p)$. Damit ist der Satz von Weierstraß bewiesen. \qed \section{Integration} \subsection{Uneigentliche Integrale rationaler Funktionen} Der Residuensatz erlaubt die Berechnung gewisser uneigentlichen Integrale. Ich skizziere das Vorgehen am Beispiel rationaler Funktionen. Sei $f(z) = \frac{a(z)}{b(z)}$ eine rationale Funktion, wobei folgendes gilt. \begin{enumerate} \item Die Funktion $f$ habe auf der reellen Achse keine Polstellen. \item Die Grade der Polynome $a(z)$ und $b(z)$ erfüllen die Ungleichung $\deg b \ge \deg a + 2$. \end{enumerate} und $f$ habe auf der reellen Achse keine Pole. Dann kann man den Residuensatz anwenden, um das uneigentliche Integral \[ \int_{-\infty}^{\infty} f(x) \, dx \] zu berechnen. Beachte dazu folgendes: Wenn $r \in \bR⁺$ hinreichend groß ist, dann liegen alle Polstellen von $f$ im Inneren der Kreisscheibe $B_r(0)$. Sei $\gamma_r$ der folgende geschlossene Weg: \begin{itemize} \item Gehe entlang der reellen Achse von $-r$ nach $r$. \item Gehe entlang des Halbkreises $\{r·exp(i·t) \::\: 0 \leq t \leq \pi\}$ von $r$ nach $-r$ zurück. \end{itemize} Dann hängt das Integral über $\gamma_r$ nicht von $r$ ab, und es gilt nach dem Residuensatz \[ \int_{-r}^{r} f(z) \, dz = 2\pi i \sum_{\Im z > 0} \Res(f,z), \] da das Integral über den oberen Halbkreis für $r \to \infty$ verschwindet. \begin{rem}[Variante] Sei $f(z) = \dfrac{a(z)}{b(z)}$ rational ohne Pole auf der reellen Achse und mit $\deg b > \deg a$. Dann existieren die Grenzwerte \[ \lim_{r \to \infty} \int_0^r f(x)e^{ix}\,dx, \qquad \lim_{r \to \infty} \int_{-r}^0 f(x)e^{ix}\,dx, \] und \[ \int_{-\infty}^{\infty} f(x)e^{ix}\,dx = 2\pi i \sum_{\Im z > 0} \Res(f(z)e^{iz},z). \] \end{rem} \begin{rem}[Fourier-Transformierte] Sei $f(z) = \frac{a(z)}{b(z)}$ eine rationale reelle Funktion ohne Pole auf der reellen Achse und $\deg b \ge 2 + \deg a$. Dann existiert für alle $y \in \bR$ das Integral \[ \widehat{f}(y) := \int_{-\infty}^{\infty} f(x)e^{-ixy}\,dx, \] die \emph{Fourier-Transformierte} von $f$. Mit der Substitution $u = x y$ ergibt sich \[ \widehat{f}(y) = \frac{1}{y}\int_{-\infty}^{\infty} f\!\left(\frac{u}{y}\right)e^{-iu}\,du. \] Dieses Integral lässt sich mit Hilfe des Residuensatzes berechnen, sofern die Partialbruchzerlegung von $f$ bekannt ist. \end{rem} \part{Weiterführende Themen} \chapter{Harmonische Funktionen} In der angewandten Mathematik, Physik und Stochastik treten häufig \emph{harmonische Funktionen} auf. \begin{definition} Sei $U \subset \bR^2$ offen. Eine stetige Funktion $f : U \to \bR$ heißt \emph{harmonisch}, wenn für jede Kreisscheibe $B_r(p) \subset U$ gilt: \[ f(p) = \frac{1}{2\pi} \int_0^{2\pi} f(p + e^{it})\,dt. \] Der Funktionswert im Mittelpunkt $p$ ist also das Mittel der Funktionswerte am Rand der Kreisscheibe. \end{definition} \begin{bsp} Real- und Imaginärteil holomorpher Funktionen sind harmonisch \emph{(vgl. Mittelwertsatz der Funktionentheorie)}. \end{bsp} % !TEX root = Funktionentheorie