% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Harmonische Funktionen} In der angewandten Mathematik, Physik und Stochastik treten häufig \emph{harmonische Funktionen} auf. Das sind Funktionen, die die Mittelwert-Eigenschaft per Definition erfüllen. \begin{definition} Sei $U ⊂ ℝ²$ offen. Eine stetige Funktion $f : U → ℝ$ heißt \emph{harmonisch}\index{harmonische Funktion}, wenn für jede Kreisscheibe $B_r(p) ⊂ U$ gilt: \[ f(p) = \frac{1}{2π} \int_0^{2π} f(p + e^{it})\,dt. \] Der Funktionswert im Mittelpunkt $p$ ist also das Mittel der Funktionswerte am Rand der Kreisscheibe. \end{definition} \begin{bsp}[Real- und Imaginärteil holomorpher Funktionen] Proposition~\ref{satz:5-2-1} („Mittelwertsatz“) besagt unter anderem, dass Real- und Imaginärteil holomorpher Funktionen harmonisch sind. \end{bsp} \section{Konsequenzen von Harmonizität} \begin{prop}[Maximumprinzip für harmonische Funktionen]\label{prop:14-1-1}% \index{Maximumprinzip für harmonische Funktionen}Es sei $U ⊂ ℝ²$ zusammenhängend und offen und es sei $f : U → ℝ$ harmonisch. Wenn $f$ auf $U$ ein Maximum oder Minimum erreicht, dann ist $f$ konstant. \end{prop} \begin{proof} Angenommen, ein Maximum \[ M := \max\{ f(z) \mid z ∈ U \} \] existiert und es sei $p$ ein Punkt aus $U$ mit $f(p) = M$. Wenn $ε ≪ 1$ ausreichend klein ist, dann ist $B_ε(p) ⊂ U$ und es gilt für jeden Punkt $z ∈ ∂B_ε(p)$ die Ungleichung $f(z) ≤ f(p)$. Die Gleichung \[ f(p) = \frac{1}{2π} \int_0^{2π} f(p + ε · e^{it})\,dt \] zeigt dann, dass für jeden Punkt $z ∈ ∂B_ε(p)$ bereits die Gleichung $f(z) = f(p)$ gelten muss. Es folgt, dass $f$ auf $B_ε(p)$ konstant ist. In der Summe sehen wir, dass die Menge \[ \{z ∈ U \::\: f(z) = M\} ⊆ U \] offen ist. Da diese Menge offensichtlich auch abgeschlossen ist, folgt die Behauptung. \end{proof} \begin{prop} Es sei $p ∈ ℝ²$ und $r > 0$. Weiter seien $f_1, f_2 : \overline{\bar{B}_r(p)} → ℝ$ zwei stetige Funktionen, die auf $B_r(p)$ harmonisch sind und auf dem Rand $∂\bar{B}_r(p)$ übereinstimmen. Dann ist $f_1 = f_2$. \end{prop} \begin{proof} Die Funktion $f := f_1 - f_2$ ist stetig auf $B_r(p)$ harmonisch und auf dem Rand $∂\bar{B}_r(p)$ gleich null. Als stetige Funktion auf der kompakten Menge $\overline{\bar{B}_r(p)}$ nimmt $f_1 - f_2$ ein Maximum und Minimum an. Sollten diese ungleich Null sein, so würden diese an einem Punkt im Innern von $B_r(p)$ angenommen. Dann ist $f_1 - f_2$ aber nach Satz~\ref{prop:14-1-1} konstant. \end{proof} \section{Konstruktion von harmonischen Funktionen} \begin{konstruktion}[Funktionen vom Rand der Kreisscheibe in das Innere Fortsetzen]\label{konst:14-2-1}% Es sei $S¹ ⊂ ℂ$ der Einheitskreis und $h : S¹ → ℝ$ sei stetig. Dann betrachte \[ \bar{h} : \overline{B_1(0)} → ℝ, \quad z ↦ \begin{cases} h(z) & \text{falls } |z| = 1 \\ \frac{1}{2π} \int_0^{2π} h(e^{it}) · \operatorname{Realteil}\left(\frac{e^{it} + z}{e^{it} - z}\right)\,dt & \text{sonst}. \end{cases} \] Eine mühsame Rechnung, die ich mir spare, zeigt Folgendes. \begin{itemize} \item Die Funktion $\bar{h}$ ist auf der abgeschlossenen Einheitskreisscheibe stetig. \item Die Funktion $\bar{h}$ ist auf der offenen Einheitskreisscheibe harmonisch. \end{itemize} \end{konstruktion} \begin{rem}[Poisson\footnote{Siméon Denis Poisson (* 21.~Juni 1781 in Pithiviers (Département Loiret); † 25.~April 1840 in Paris) war ein französischer Physiker und Mathematiker.}-Transformation und Fourier\footnote{Baron Jean Baptiste Joseph Fourier (* 21. März 1768 bei Auxerre; † 16. Mai 1830 in Paris) war ein französischer Mathematiker und Physiker.}-Transformation]% Der Integralausdruck aus Konstruktion~\ref{konst:14-2-1} ist in der Analysis wichtig und wird als „Poisson-Transformation“\index{Poisson-Transformation} der Funktion $h$ bezeichnet. Die Poisson-Transformation ist eng mit der Fourier-Transformation von $h$ verwandt! Um den Zusammenhang zu sehen, betrachte die Fourier-Entwicklung der periodischen Funktion \[ h' : ℝ → ℝ, \quad t ↦ h(\exp(it)), \quad t ↦ \sum_{k ∈ ℤ} a_k \exp(ikt). \] Setze jeden Term ein in die Formel aus Konstruktion~\ref{konst:14-2-1} ein schaue, was passiert. \end{rem} \begin{kons}[Holographieprinzip für harmonische Funktionen] Gegeben eine Kreisscheibe $B_r(p) ⊂ ℂ$ und eine stetige Funktion $h : ∂B_r(p) → ℝ$, so gibt es genau eine stetige Funktion $\bar{h} : \overline{B_r(p)} → ℝ$, die auf dem Rand mit $h$ übereinstimmt und im Innern harmonisch ist. \qed \end{kons} \begin{kons}[Harmonische Funktionen als Realteile holomorpher Funktionen] Gegeben eine Kreisscheibe $B_r(p) ⊂ ℂ$ und eine harmonische Funktion $h : B_r(p) → ℝ$. Dann ist $h$ der Realteil einer holomorphen Funktion. \end{kons} \begin{proof} Wir wissen aus Satz~\vref{satz:3-1-12} („Ableiten unter dem Integral“), dass die Abbildung \[ B_r(ρ) → ℂ, \qquad z ↦ \frac{1}{2π} \int_0^{2π} h(e^{it}) · \frac{e^{it} + z}{e^{it} - z}\,dt \] holomorph ist. \end{proof} \section{Harmonische Funktionen als Realteile holomorpher Funktionen} \begin{bsp}[Harmonische Funktionen sind nicht immer Realteile holomorpher Funktionen] Im Allgemeinen sind harmonische Funktionen nicht unbedingt Realteile von holomorphen Funktionen. Betrachte zum Beispiel den Hauptzweig des Logarithmus \[ \log : ℂ^* → ℂ, \quad z ↦ \log|z| + i · \arg(z). \] Wir wissen schon: diese Funktion ist nicht stetig, weil $\arg$ nicht stetig ist. Der Realteil, die Funktion $h : z ↦ \log|z|$, ist aber auf ganz $ℂ^*$ harmonisch. Die Funktion $h$ ist aber nicht der Realteil einer holomorphen Funktion auf $ℂ^*$. Falls $h$ nämlich der Realteil einer holomorphen Funktion $φ ∈ 𝒪(ℂ^*)$ wäre, dann wäre \[ \operatorname{Realteil}(φ ◦ \exp - \Id) = 0. \] Nach dem Identitätssatz für holomorphe Funktionen, Korollar~\vref{kor:7-2-2}, ist dann auch $φ ◦ \exp - \Id = 0$. Also wäre $φ$ eine Logarithmus-Funktion. Eine solche Funktion existiert aber nicht einmal als stetige Funktion, wie wir spätestens seit Lemma~\ref{lem:1-2-15} wissen. \end{bsp} \begin{satz}[Harmonische Funktionen als Realteile holomorpher Funktionen]\label{satz:14-3-2}% Sei $U ⊂ ℂ$ einfach zusammenhängend, $f : U → ℝ$. Dann sind folgende Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item Die Funktion $f$ ist harmonisch. \item\label{il:14-3-2-2} Die Funktion $f$ ist Realteil einer holomorphen Funktion. \end{enumerate} Insbesondere gilt: Die holomorphe Funktion $f$ aus \ref{il:14-3-2-2} ist eindeutig bis auf Addition mit einer rein imaginären Zahl. \end{satz} Wir beweisen Satz~\ref{satz:14-3-2} auf Seite~\vpageref{pf:14-3-2}. \section{Infinitesimale Beschreibung harmonischer Funktionen} \begin{satz}[Infinitesimale Beschreibung harmonischer Funktionen]\label{satz:14-4-1}% Sei $U ⊂ ℂ$ offen und $f : U → ℝ$ harmonisch. Dann sind folgende Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item\label{il:14-4-1-1} Die Funktion $f$ ist harmonisch. \item\label{il:14-4-1-2} Die Funktion $f$ ist zweimal stetig differenzierbar und es ist \[ Δf = \left(\frac{∂²}{∂x²} + \frac{∂²}{∂y²}\right) f = 0. \] \end{enumerate} \end{satz} \begin{notation}[Laplace\footnote{Pierre-Simon Laplace, seit 1817 Marquis de Laplace (* 23.~März 1749 in Beaumont-en-Auge in der Normandie; † 5.~März 1827 in Paris) war ein französischer Mathematiker, Physiker und Astronom. Er beschäftigte sich unter anderem mit der Wahrscheinlichkeitstheorie und mit Differenzialgleichungen.}-Operator]% Statt $\left(\frac{∂²}{∂x²} + \frac{∂²}{∂y²}\right) f$ schreibt man oft $Δf$. Der Differenzialoperator $Δ = \frac{∂²}{∂x²} + \frac{∂²}{∂y²}$ wird auch als \emph{Laplace-Operator}\index{Laplace-Operator} bezeichnet. \end{notation} \begin{rem}[Differenzialoperatoren, Vorüberlegung zum Beweis von Satz~\ref{satz:14-4-1}] Wenn eine Funktion $g : U → ℝ$ oder $g : U → ℂ$ zweimal differenzierbar ist, dann ist \begin{align*} \frac{∂}{∂\bar{z}} \frac{∂}{∂z} g & = \frac{∂}{∂\bar{z}} \left(\frac{1}{2}\left(\frac{∂g}{∂x} + i\frac{∂g}{∂y}\right)\right) \\ & = \frac{1}{4} \left(\frac{∂²g}{∂x²} - i\frac{∂²g}{∂x∂y} + i\left(\frac{∂²g}{∂y∂y} - i\frac{∂²g}{∂y²}\right)\right) \\ & = \frac{1}{4} \, Δg. \end{align*} \end{rem} \begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:14-4-1}, Implikation \ref{il:14-4-1-1} $⇒$ \ref{il:14-4-1-2}] Wir können ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass $U$ eine Kreisscheibe ist. Dort kann ich $f$ mithilfe der Poisson-Transformation als Realteil einer holomorphen Funktion $f' ∈ 𝒪(U)$ schreiben. Dann ist $\frac{∂f'}{∂z}$ holomorph. Also gilt \[ Δ(\text{Realteil} f') + iΔ(\text{Imaginärteil} f') = Δf' = \const⁺·\frac{∂}{∂\bar{z}} \frac{∂}{∂z} f' = 0. \] Also ist $Δf = 0$. \end{proof} \begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:14-4-1}, Implikation \ref{il:14-4-1-2} $⇒$ \ref{il:14-4-1-1}] Per Annahme ist \[ 0 = Δf = \frac{∂}{∂\bar{z}} \frac{∂}{∂z} f. \] Also ist die Funktion \[ \frac{∂f}{∂z} = \frac{∂f}{∂x} - i\frac{∂f}{∂y} \] bereits holomorph! Jetzt müssen wir testen, ob $f$ harmonisch ist. Sei also eine beliebige Kreisscheibe $B_r(p) ⊂ U$ gegeben. Dann ist für $ε ≪ 1$ auch $B_{r+ε}(p) ⊂ U$ und dort hat die holomorphe Funktion $\frac{∂f}{∂z}$ eine Stammfunktion $F ∈ 𝒪(B_{r+ε}(p))$. Es ist aber \[ \begin{matrix} \frac{∂F}{∂x} & = \frac{∂f}{∂z} & = \frac{∂f}{∂x} - i\frac{∂f}{∂y} \\ \frac{∂F}{∂y} & = i\frac{∂F}{∂x} & = \frac{∂f}{∂y} + i\frac{∂f}{∂x}. \end{matrix} \] Also ist \[ \operatorname{grad} \operatorname{Realteil}(F) = \operatorname{grad} f. \] Die Funktionen $\operatorname{Realteil}(F)$ und $f$ unterscheiden sich also nur um eine additive Konstante. Daher ist $f = \operatorname{Realteil}(F) + \const$ auf $B_{r+ε}(p)$ Realteil einer holomorphen Funktion, also harmonisch! \end{proof} Der gerade geführte Beweis liefert fast wörtlich auch einen Beweis von Satz~\ref{satz:14-3-2}. \begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:14-3-2}]\label{pf:14-3-2}% Per Annahme ist $0 = Δf = \frac{∂}{∂\bar{z}} \frac{∂}{∂z} f$. Also ist die Funktion \[ \frac{∂f}{∂z} = \frac{∂f}{∂x} - i\frac{∂f}{∂y} \] bereits holomorph! Jetzt müssen wir testen, ob $f$ harmonisch ist. Weil $U$ per Annahme einfach zusammenhängend ist, gibt es nach Korollar~\ref{kor:4-3-4} eine Stammfunktion $F ∈ 𝒪(B_{r+ε}(p))$. Es ist aber \[ \begin{matrix} \frac{∂F}{∂x} & = \frac{∂f}{∂z} & = \frac{∂f}{∂x} - i\frac{∂f}{∂y} \\ \frac{∂F}{∂y} & = i\frac{∂F}{∂x} & = \frac{∂f}{∂y} + i\frac{∂f}{∂x}. \end{matrix} \] Die Funktionen $\operatorname{Realteil}(F)$ und $f$ unterscheiden sich also nur um eine additive Konstante. Daher ist $f = \operatorname{Realteil}(F) + \const$ auf $B_{r+ε}(p)$ Realteil einer holomorphen Funktion, also harmonisch! \end{proof} % !TEX root = Funktionentheorie