% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Nullstellen von holomorphen Funktionen} Wir betrachten die folgende Situation. \begin{situation}[Nullstellen von holomorphen Funktionen]\label{set:7-0-1}% Es sei $U ⊂ ℂ$ offen, es sei $f ∈ 𝒪(U)$ holomorph und es sei \[ Z = \{ z ∈ U \mid f(z) = 0 \} \] die Nullstellenmenge der Funktion $f$. \end{situation} Weil holomorphe Funktionen stetig ist, ist klar, dass die Menge $Z$ eine abgeschlossene Teilmenge von $U$ ist. Aber was können wir sonst noch sagen? \section{Zwei Typen von Nullstellen} In Situation~\ref{set:7-0-1} sei $ρ ∈ Z$ eine Nullstelle von $f$ und sei \begin{equation}\label{eq:7-2-0-1} \sum_{i=0}^∞ a_i(z-ρ)ⁱ \end{equation} die Potenzreihenentwicklung von $f$ im Punkt $ρ$. Der Konvergenzradius sei $r$. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: \begin{description} \item[Nullstelle vom Typ 1] Alle Koeffizienten $a_i$ der Potenzreihe~\eqref{eq:7-2-0-1} sind gleich 0. Dann ist $f$ bereits in einer ganzen Umgebung von $f$ konstant Null. \item[Nullstelle vom Typ 2] Nicht alle Koeffizienten $a_i$ der Potenzreihe~\eqref{eq:7-2-0-1} sind gleich 0. Betrachte in diesem Fall den Index \[ n := \min \{ i \::\: a_i ≠ 0 \} \] und nenne $n$ die „Ordnung der Nullstelle $ρ$ von $f$“. Schreibe weiter \begin{align*} f(z) & = \sum_{i=n}^∞ a_i (z-ρ)ⁱ \\ & = (z-ρ)^n · \sum_{i=n}^∞ a_i (z-ρ)^{i-n} \\ & = (z-ρ)^n · \sum_{i=0}^∞ b_i (z-ρ)^{i-n}, \end{align*} wobei $b_i := a_{n+i}$ ist. Man rechne nach, dass die Potenzreihe \[ \sum_{i=0}^∞ b_i (z-ρ)^{i-n} \] ebenfalls Konvergenzradius $r$ hat, also eine Funktion $g ∈ 𝒪(B_r(ρ))$ definiert, die aber bei $ρ$ \emph{keine} Nullstelle hat (und deshalb in einer ausreichend kleinen Umgebung von $ρ$ ebenfalls nicht). Auf $B_r(ρ)$ gilt die Gleichung \[ f(z) = (z-ρ)^n · g(z) \] und es gibt ein $ε > 0$, sodass $Z ∩ B_ε(ρ) = \{ρ\}$ ist. Man sagt: $ρ$ ist eine isolierte Nullstelle von $f$. \end{description} Zusammenfassung: Ich kann die Nullstellenmenge $Z$ aufteilen \[ Z = \text{Typ 1} \: ∪ \text{Typ 2} \] Dabei gilt Folgendes: \begin{itemize} \item Die Menge der Nullstellen vom Typ~2 ist eine abgeschlossene, diskrete Teilmenge von $U$. \item Die Menge der Nullstellen von Typ~1 ist offen. \item Die Menge der Punkte von $U$, an denen \emph{keine} Nullstelle vom Typ~1 vorliegt, ist ebenfalls offen. Grund: Wenn $f$ bei $ρ$ überhaupt keine Nullstelle hat, dann hat $f$ als stetige Funktion auch in einer Umgebung von $ρ$ keine Nullstelle. Wenn $f$ bei $ρ$ eine Nullstelle vom Typ~2 hat, dann haben wir gesehen, dass $f$ in einer Umgebung von $ρ$ keine weitere Nullstelle hat. \end{itemize} In der Summe sehen wir: Die Menge Nullstellen vom Typ 1 ist offen \emph{und} abgeschlossen, also eine ganze Zusammenhangskomponente von $U$! \begin{notation}[Nullestellenordnung] Sei $U ⊂ ℂ$ offen und $f ∈ O(U)$. Weiter sei $ρ ∈ U$ gegeben. Schreibe $f$ in der Nähe von $ρ$ als Potenzreihe \[ f = \sum_{i=0}^∞ a_i (z-ρ)ⁱ. \] Die Zahl \[ \min \{ i ∈ ℕ \mid a_i ≠ 0 \} \] heißt \emph{Nullstellenordnung}\index{Nullestellenordnung} von $f$ bei $ρ$. Falls die Potenzreihe konstant $0$ ist, so hat $f$ bei $ρ$ unendliche Nullstellenordnung. \end{notation} \section{Identitätssatz und Maximumsprinzip} \begin{satz} In Situation~\ref{set:7-0-1} sei $U$ zusammenhängend. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item Die Nullstellenmenge $Z$ ist \emph{nicht} diskret. Äquivalent: die Nullstellenmenge $Z$ hat einen Häufungspunkt. \item Die Funktion $f$ ist konstant gleich $0$. \qed \end{enumerate} \end{satz} \begin{kor}[Identitätssatz für holomorphe Funktionen]\label{kor:7-2-2}% \index{Identitätssatz}In Situation~\ref{set:7-0-1} sei $U$ zusammenhängend und es sei $g ∈ 𝒪(U)$ eine weitere holomorphe Funktion auf $U$. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item Die Menge \[ \{ z ∈ U \mid f(z) = g(z) \} \] ist \emph{nicht} diskret. Äquivalent: die Menge hat einen Häufungspunkt. \item Die Funktionen $f$ und $g$ sind gleich. \end{enumerate} \end{kor} \begin{bsp}[Eindeutigkeit der Exponentialfunktion] Die Funktion $\exp: ℂ → ℂ$ ist die einzige holomorphe Funktion auf $ℂ$, die für reelle Zahlen mit der bekannten Exponentialfunktion übereinstimmt. \end{bsp} \begin{kor}[Maximumsprinzip]\label{kor:7-2-4}% In Situation~\ref{set:7-0-1} sei $U$ zusammenhängend. Falls $|f|$ ein Maximum hat, dann ist $f$ konstant. \end{kor} \begin{proof} \index{Maximumprinzip}Es sei $ρ ∈ U$ ein Maximum von $|f|$. Nach Satz~\ref{satz:5-2-3} („Starkes Maximumsprinzip“) wissen wir schon: es gibt ein $ε > 0$, sodass $f|_{B_ε(ρ)}$ konstant ist. Nach dem Identitätssatz, Korollar~\ref{kor:7-2-2}, ist $f$ dann aber auf ganz $U$ konstant. \end{proof} \section*{Beispielanwendung: Selbstabbildungen der Kreisscheibe} \sideremark{Vorlesung: 11} Im Folgenden bezeichnen wir mit $Δ := B_1(0)$ die offene Einheitskreisscheibe in $ℂ$. \begin{lemma}[Lemma von Schwarz\footnote{Karl Hermann Amandus Schwarz (* 25.~Januar 1843 in Hermsdorf, Provinz Schlesien; † 30.~November 1921 in Berlin) war ein deutscher Mathematiker.}]\label{lem:7-2-1}% \index{Lemma vom Schwarz}Es sei $f: Δ → Δ$ holomorph und $f(0) = 0$. Dann gilt Folgendes: \begin{enumerate} \item\label{il:7-2-1-1} Für jede Zahl $z ∈ Δ$ ist $|f(z)| ≤ |z|$. \item\label{il:7-2-1-2} Wenn eine Zahl $z ∈ Δ ∖ \{0\}$ existiert mit $|z| = |f(z)|$, dann ist $f$ eine Drehung, also die Multiplikation mit einer komplexen Zahl der Form $\exp(iα)$, für $α ∈ ℝ$. \item\label{il:7-2-1-3} Es ist $|f'(0)| ≤ 1$. \item\label{il:7-2-1-4} Wenn $|f'(0)| = 1$ ist, dann ist $f$ eine Drehung. \end{enumerate} \end{lemma} \begin{proof} Wenn $f \equiv 0$ ist, dann ist alles klar. Also nehmen wir im Folgenden an, dass $f$ \emph{nicht} die Nullfunktion ist. Die Zahl $0 ∈ ℂ$ ist also eine isolierte Nullstelle. Schreibe dann $f(z) = z · g(z)$, wo $g ∈ 𝒪(Δ)$. Wir halten folgende Eigenschaften der Funktion $g$ fest. \begin{enumerate} \item\label{il:7-2-1-5} Für alle $z ∈ Δ$ gilt die Ungleichung $|g(z)| ≤ 1$. Dazu argumentieren wir mit Widerspruch und nehmen an, dass es ein $z_m ∈ Δ$ gibt mit $|f(z_m)| > |z_m|$. Dann ist auch $|g(z_m)| > 1$. Wähle ein $ε > 0$ so klein, dass $|g(z)| > 1 + ε$ gilt und beachte aber, dass für jede Zahl $z$ mit $|z| > \frac{1}{1+ε}$ die folgende Ungleichung gilt: \[ 1 > |f(z)| = |z|·|g(z)| > \frac{1}{1+ε}·|g(z)|, \quad\text{also } |g(z)| < 1 + ε. \] Es folgt: Die Funktion $|g|$ nimmt nur auf abgeschlossenen Kreisscheibe $\overline{B_{1/(1+\epsilon)}}(0)$ Werte vom Betrag $> 1 + ε$ an. Dort nimmt $|g|$ dann aber sogar ein Maximum an, also muss $|g|$ nach Korollar~\ref{kor:7-2-4} („Maximumsprinzip“) bereits konstant sein, Widerspruch. \item\label{il:7-2-1-6} Falls es ein $z_m ∈ Δ$ mit $|g(z_m)| = 1$ gibt, dann muss dies nach \ref{il:7-2-1-5} ein Maximum sein. Nach Korollar~\ref{kor:7-2-4} („Maximumsprinzip“) ist $g$ dann konstant mit Betrag $1$. \end{enumerate} Nun können wir die Behauptungen des Lemmas beweisen. \begin{itemize} \item Behauptung~\ref{il:7-2-1-1} folgt direkt aus \ref{il:7-2-1-5}, da $|f(z)| = |z|·|g(z)| ≤ |z|$ gilt. \item Behauptung~\ref{il:7-2-1-2} folgt aus \ref{il:7-2-1-6}. \item Behauptung~\ref{il:7-2-1-3} folgt aus \ref{il:7-2-1-5}, da $|f'(0)| = |g(0)| ≤ 1$ gilt. \item Behauptung~\ref{il:7-2-1-4} ist wieder \ref{il:7-2-1-6}. \qedhere \end{itemize} \end{proof} \begin{rem}[Warum interessiert mich das?] Gegeben eine offene Menge $U$, dann bilden die holomorphen Selbstabbildungen $U → U$ eine Gruppe: Die Identität ist das neutrale Element, hintereinander-Ausführung ist die Gruppenverknüpfung und die Umkehrabbildung ist das Inverse. Um die holomorphe Geometrie von $U$ zu verstehen, interessiere ich mich für diese Gruppe, die man auch mit $\Aut_𝒪(U)$ bezeichnet. \end{rem} \begin{notation}[Automorphismen] Es seien $U, V ⊂ ℂ$ offen, Mengen. Eine holomorphe Abbildung $φ: U → V$ heißt \emph{biholomorph}\index{biholomorph}, wenn $φ$ bijektiv ist und die Umkehrabbildung auch wieder holomorph ist. Für eine offene Menge $U ⊂ ℂ$ bezeichne \[ \Aut_{𝒪}(U) := \{ φ: U → U \mid φ \text{ biholomorph} \} \] die Gruppe der \emph{holomorphen Automorphismen}\index{Automorphismus} von $U$. \end{notation} \begin{bsp}[$ℂ$ und $Δ$ sind nicht biholomorph] Korollar~\ref{kor:4-4-3} („Satz von Liouville“) zeigt, dass es keine Biholomorphie zwischen $ℂ$ und $Δ$ gibt. \end{bsp} \begin{bsp}[Kreisscheibe] Es sei $Δ$ wieder die offene Einheitskreisscheibe. \begin{itemize} \item Einige Automorphismen von $Δ$ sehe ich direkt, zum Beispiel Drehungen (=Multiplikation mit komplexen Zahlen der Form $\exp(iα)$, wobei $α ∈ [0, 2π)$ reell ist). \item Andere Automorphismen sieht man nicht sofort: für jedes $α ∈ Δ$ ist \[ g_α: Δ → Δ, \quad z ↦ \frac{α - z}{1 - \bar{α}z} \] ein Automorphismus von $Δ$ mit folgenden Eigenschaften: \begin{itemize} \item Es ist $g_α(0) = α$ und $g_α(α) = 0$. \item Es ist $g_α ◦ g_α = \text{Id}$. \end{itemize} \end{itemize} \end{bsp} \begin{beobachtung}[Automorphismen der Kreisscheibe mit Fixpunkt 0] Wenn $g : Δ → Δ$ ein Automorphismus mit $g(0) = 0$ ist, dann ist $g$ eine Drehung. Dies folgt direkt aus dem Lemma von Schwarz, Lemma~\ref{lem:7-2-1}, da $|g'(0)| = |(g^{-1})'(0)|^{-1}$ ist. Also gilt $|g'(0)| ≥ 1$ oder $|(g^{-1})'(0)| ≥ 1$. \end{beobachtung} \begin{beobachtung}[Automorphismen der Kreisscheibe] Gegeben irgendein Automorphismus $φ: Δ → Δ$, dann setze $α := φ(0)$ und betrachte $Ψ := g_α ◦ φ$. Dies ist ein Automorphismus, der $0$ auf $0$ abbildet. Das ist dann eine Drehung. \end{beobachtung} Insgesamt sehen wir: jeder Automorphismus von $Δ$ ist die Komposition einer Drehung und eines Automorphismus der Form $g_α$. Kommt Ihnen das bekannt vor? % !TEX root = Funktionentheorie