AlgebraZahlentheorie/14.tex

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\chapter{Separable und inseparable Körpererweiterungen}
Wir hatten im Abschnitt~\ref{sec:13-1} über Symmetrien von Zerfällungskörpern
gesprochen und dabei gesehen, dass die Symmetrien durch Permutationen der
Nullstellen des betreffenden Polynoms beschrieben werden. Die relevante
Situation ist die, wo $L/K$ eine Körpererweiterung ist, ein algebraisches
Element $a ∈ L$ gegeben ist und $f ∈ K[x]$ das Minimalpolynom ist. Wenn die
Symmetrien des Zerfällungskörpers von $f$ jetzt durch die Permutationen der
Nullstellen beschrieben sind, frage ich mich vermutlich als erstes, wie viele
Nullstellen es eigentlich gibt. Kann es überhaupt vorkommen, dass $a$ eine
mehrfache Nullstelle von $f$ ist?
\begin{beobachtung}\label{beo:14-0-1}
Wenn $K = $ ist, geht das nicht. Denn wenn $a$ eine mehrfache Nullstelle
ist, also $f = (x-a)²·g ∈ [x]$ wäre, dann kann ich die Ableitung betrachten,
\[
f' = 2·(x-a)·g + (x-a)²·g'.
\]
Ein scharfer Blick zeigt, dass $f'(a)$ ebenfalls gleich null ist, was wohl im
Widerspruch dazu steht, dass $f$ das Minimalpolynom ist, also minimalen Grad
hat unter allen Polynomen, die $a$ als Nullstelle haben.
\end{beobachtung}
\section{Die formale Ableitung}
In diesem Abschnitt geht es darum, das Argument von Beobachtung~\ref{beo:14-0-1}
auf beliebige Körpererweiterungen übertragen. Dabei gibt es gleich das Problem,
dass der Begriff der Ableitung für Polynome über beliebigen Körpern nicht sehr
viel Sinn ergibt -- zumindest nicht als Limes von Differenzenquotienten.
Andererseits kann man die Ableitungsregeln ganz formal kopieren:
\begin{notation}
Es sei $R$ ein kommutativer Ring mit Eins. Dann betrachte den Ringmorphismus,
den wir schon bei der Definition des Primkörpers betrachtet haben,
\[
φ : → R, \quad n ↦
\left\{
\begin{matrix}
\underbrace{1_R ++ 1_R}_{n } && \text{falls }n > 0 \\
0_R && \text{falls } n = 0 \\
-(\underbrace{1_R ++ 1_R}_{-n }) && \text{sonst.}
\end{matrix}
\right.
\]
In der Praxis ist man meist zu faul und schreibt statt $φ(n) ∈ R$ einfach
$n ∈ R$. Aber Achtung! Die Abbildung $φ$ ist nicht immer injektiv! Es gilt
zum Beispiel $p = 0𝔽_p$.
\end{notation}
\begin{definition}[Formale Ableitung]\label{Def_formale_Ableitung}
Es sei $R$ ein kommutativer Ring mit Eins. Wenn jetzt ein Polynom
$f = \sum_{i=0}^{n}a_i·xⁱ ∈ R[x]$ gegeben ist, dann nenne das Polynom
\begin{equation*}
f' = \sum_{i=1}^{n} i· a_i· x^{i-1}∈ R[x]
\end{equation*}
die \emph{formale Ableitung}\index{formale Ableitung} von $f$. Die
\emph{$m$-fache formale Ableitung} $f^{(m)}$ ist natürlich als $m$-fache
Iteration der Ableitung definiert.
\end{definition}
\begin{bemerkung}[Ableitung kann überraschend verschwinden]\label{bem:14-1-3}
Es kann vorkommen, dass $\deg f >0$ ist, aber trotzdem $f' = 0$. Wenn nämlich
Sei $K$ ein Körper der Charakteristik $p>0$, beispielsweise $K = 𝔽_p$. Dann
ist $p = 0 ∈ R$ und das Polynom $f(x) = x^p$ hat daher die formale Ableitung
\begin{equation*}
f' = p·x^{p-1} = 0.
\end{equation*}
Trotzdem ist $f$ aber nicht konstant, denn $f(1) = 1$ und $f(0) = 0$.
\end{bemerkung}
\begin{satz}[Rechenregeln für die formale Ableitung]\label{Satz_Rechenregeln_Ableitung}
Es sei $R$ ein kommutativer Ring mit Eins und es seien $f$, $g ∈ R[x]$.
Weiter sei ein Element $r ∈ R$ gegeben. Dann gilt Folgendes.
\begin{enumerate}
\item\label{Satz_Rechenregeln_Ableitung_Aussage_1} Ist $\deg f > 0$, so ist
$\deg f' < \deg f$.
\item\label{Satz_Rechenregeln_Ableitung_Aussage_2} Ist $\deg f = 0$, so ist
$f' = 0$.
\item\label{Satz_Rechenregeln_Ableitung_Aussage_3} Es gilt $(f+g)' = f'+g'$
und $(r·f)' = r·f'$.
\item\label{Satz_Rechenregeln_Ableitung_Aussage_4} Es gilt
$(f· g)' = f'· g + f · g'$.
\end{enumerate}
\end{satz}
\begin{proof}
Ist mir zu langweilig.
\end{proof}
Die Ableitungen können verwendet werden, um die Ordnung einer Nullstelle zu
bestimmen. Was war noch einmal die Ordnung?
\begin{defn}[Ordnung einer Nullstelle]
Es sei $R$ ein kommutativer Ring mit Eins, und es sei ein Polynom $f ∈ R[x]$,
ein Element $a ∈ R$ und eine Zahl $n$ gegeben. Man sagt, dass $a$ eine
$n$-fache Nullstelle von $f$ ist\index{Nullstellenordnung}, wenn die
Teilbarkeitsrelationen
\[
(x-a)^n|f \quad\text{und}\quad (x-a)^{n+1}\nmid f
\]
in $R[x]$ gelten.
\end{defn}
\begin{kor}\label{Korollar_Ableitung_an_Nullstelle}
Es sei $R$ ein kommutativer Ring mit Eins, und es sei ein Polynom $f ∈ R[x]$
der Form $f = (x-a)^m· g$ gegeben, mit $a∈ R$ und $g∈ R[x]$. Dann ist
\begin{equation*}
f' = (x-a)^{m-1}·(m· g + (x-a)· g')
\end{equation*}
\end{kor}
\begin{proof}
Ist mir zu langweilig.
\end{proof}
\begin{beobachtung}
Wenn $a$ eine $m$-fache Nullstelle von $f$ ist, zeigt
Korollar~\ref{Korollar_Ableitung_an_Nullstelle}, dass
\begin{equation*}
f(a) = f'(a) = ⋯ = f^{(m-1)}(a) = 0
\end{equation*}
ist. Wenn $R$ ein Körper der Charakteristik $0$ ist, also insbesondere
$m!0 ∈ R$ ist, dann ist $f^{(m)}(a)0$, wenn $a$ eine $m$-fache
Nullstelle von $f$ ist. Wir haben aber schon in Bemerkung~\ref{bem:14-1-3}
gesehen, dass man über beliebigen Körpern die Nullstellenordnung so nicht
bestimmen kann!
\end{beobachtung}
\section{Der Frobenius Morphismus}
Über Körpern und Ringen der Charakteristik $p > 0$ gibt es einen ganz
unglaublichen Körpermorphismus, den wir noch nicht kennen: den
Frobenius-Morphismus\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Georg_Frobenius}{Ferdinand
Georg Frobenius}, genannt Georg, (* 26. Oktober 1849 in Berlin; † 3.
August 1917 in Charlottenburg, heute ein Ortsteil von Berlin) war ein
deutscher Mathematiker. Er war seit 1892 Professor an der Universität Berlin
und setzte dort hohe Maßstäbe für Prüfungen durch.}. Der Morphismus ist
eigentlich ganz einfach, es handelt sich um die Abbildung $r ↦ r^p$. Das
unglaubliche ist, dass diese Abbildung \textbf{linear} ist!!
\begin{defn}[Charakeristik eines Ringes]
Es sei $R$ ein kommutativer Ring mit Eins. Die
\emph{Charakteristik}\index{Charakteristik!eines Ringes} von $R$ ist die
kleinste natürliche Zahl $n ∈ ^+$, sodass die $n$-fache Summe des
Einselementes gleich dem Nullelement wird, also
\[
\underbrace{1 + 1 ++ 1}_{n } =0.
\]
Gibt es eine solche Zahl nicht, so sagt man, dass $R$ Charakteristik 0 hat.
\end{defn}
\begin{satzdef}[Frobenius-Endomorphismus]\label{DefSatz_Frobenius-Endomorphismus}
Es sei $p$ eine Primzahl und es sei $R$ ein kommutativer Ring mit Eins der
Charakteristik $p$. Dann ist die Abbildung
\begin{equation*}
F : R → R, \quad a → a^p
\end{equation*}
ein Ringmorphismus. Mit anderen Worten: für alle $a,b∈ R$ gilt
\begin{equation*}
(a+b)^p = a^p+b^p \quad\text{und}\quad (a· b)^p=a^p· b^p
\end{equation*}
Man nennt die Abbildung den \emph{Frobenius-Endomorphismus von
$R$}\index{Frobenius-Endomorphismus}.
\end{satzdef}
\begin{proof}
\video{14-1}
\end{proof}
\begin{notation}
In der Situation von Satz~\ref{DefSatz_Frobenius-Endomorphismus} ist die
Bildmenge $F(R) ⊂ R$ natürlich ein Unterring. Dieser wird als ``Menge der
$p$-Potenzen'' bezeichnet und oft mit dem Symbol $R^p ⊆ R$ notiert.
\end{notation}
\begin{beobachtung}
Wenn $R$ ein Integritätsring ist, dann gilt für jedes Element $a ∈ R$, dass
$a^p = 0$ ist genau dann, wenn $a = 0$ ist. Also ist $\ker F = \{0\}$, und
der Frobenius-Morphismus ist demnach injektiv. Wenn $R$ zusätzlich noch
endlich ist, dann ist der Frobenius-Morphismus auch noch surjektiv, also
isomorph.
\end{beobachtung}
\section{Separable und inseparable Polynome}
Ich hatte oben gefragt, ob ein irreduzibles Polynom mehrfache Nullstellen haben
kann. Die ehrliche Antwort lautet: ``vielleicht'' und begründet die folgende
Definition.
\begin{defn}[Separable und inseparable Polynome]
Es sei $K$ ein Körper und $\overline{K}$ sei der algebraische Abschluss von
$K$. Ein irreduzibles Polynom $f∈ K[x]$ heißt
\emph{separabel}\index{separabel!Polynom}, wenn $f$ keine mehrfachen
Nullstellen in $\overline{K}$ hat. Ein beliebiges nicht-konstantes Polynom
heißt separabel, wenn alle irreduziblen Faktoren separabel sind.
Nicht-separable Polynome heißen
\emph{inseparabel}\index{inseparabel!Polynom}.
\end{defn}
\begin{warnung}
Separable Polynome können ohne weiteres mehrfache Nullstellen haben.
\end{warnung}
Separable Polynome können mithilfe des Frobenius-Morphismus genau beschrieben
werden.
\begin{satz}\label{Satz_aequivalent_zu_inseparabel}
Es sei $K$ ein Körper und es sei $f ∈ K[x]$ ein irreduzibles Polynom. Dann
sind die folgenden Aussagen äquivalent.
\begin{enumerate}
\item\label{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_1} Das Polynom $f$ ist
inseparabel.
\item\label{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_2} Die formelle Ableitung
verschwindet, $f' = 0$.
\item\label{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_3} Die Charakteristik von
$K$ ist eine Primzahl $p>0$, es existiert ein irreduzibles und separables
Polynom $g ∈ K[x]$ und eine Zahl $e ∈ ^+$, sodass
\begin{equation*}
f(x) = g \Bigl( x^{(p^e)} \Bigr)
\end{equation*}
ist.
\end{enumerate}
\end{satz}
\begin{proof}[Beweis \ref{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_1} $$ \ref{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_2}]
Sei $a∈\overline{K}$ eine mehrfache Nullstelle, also
\begin{equation*}
f(x) = (x-a)^m· g(x) ∈ \overline{K}[x]
\end{equation*}
mit $m>1$ und $g ∈ \overline{K}[x]$. Dann hat die formale Ableitung $f'$
ebenfalls $a$ als Nullstelle. Weil $f$ aber irreduzibel ist, ist $f$ das
Polynom kleinsten Grades, dass $a$ als Nullstelle hat\footnote{Erinnern Sie
sich noch, wie man das beweist?}. Wegen $\deg f' < \deg f$ folgt dann aber,
dass $f^\prime\equiv 0$ sein muss.
\end{proof}
\begin{proof}[Beweis \ref{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_2} $$ \ref{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_3}]
Setze $n := \deg f$ und schreibe
\begin{align*}
f&= a_0+a_1· x+\dots+a_nx^n\\
f^\prime&= a_1+2· a_2x+\dots+ n· a_nx^{n-1}=0.
\end{align*}
Also gilt $i·a_i = 0$ für alle $i$ mit $1≤ i≤ n$. Weil $n·a_n = 0$ ist, und
$a_n ≠ 0$, folgt sofort $n = 0$. Daraus folgt schon einmal die Behauptung,
dass der Körper $K$ positive Charakteristik hat. Aus $i·a_i=0$ folgt
allgemein, dass $a_i = 0$ oder $i \equiv 0 (\operatorname{mod} p)$ ist. Also
können wir $f$ schreiben als
\begin{equation*}
f(x) = \sum_{j=0}^{r}a_{j· p}· x^{j· p}=\sum_{j=0}^{r} a_{j· p}(x^p)^j.
\end{equation*}
Setze nun
\begin{equation*}
f_1(x) =\sum_{j=0}^{r}a_{j· p}x^{j}.
\end{equation*}
Dann ist $f(x) = f_1(x^p)$ und \ref{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_3}
folgt durch iterierte Anwendung dieses Prozesses, wenn wir zeigen können, dass
$f_1$ wieder irreduzibel ist. Die Irreduzibilität von $f_1$ beweisen wir mit
dem Frobenius-Morphismus. Wir haben zwei Ring-Isomorphismen:
\begin{align*}
F_1 : K[x] &\bigl(K[x]\bigr)^p = \bigl(K^p\bigr)[x^p], & f & ↦ f^p \\
F_2 : K[x^p] &\bigl(K^p\bigr)[x^p], & \sum β_j\bigl(x^p\bigr)^j &\sum β_j^p\bigl(x^p\bigr)^j.
\end{align*}
Dann gilt: $f_1 = F_1^{-1}\bigl(F_2(f)\bigr)$ und die Implikation ist
bewiesen.
\end{proof}
\begin{proof}[Beweis \ref{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_3} $$ \ref{Satz_aequivalent_zu_inseparabel_Aussage_1}]
Die Charakteristik von $K$ sei eine Primzahl $p>0$ und $f$ sei ein Polynom der
Form
\[
f(x) = \sum_{j=0}^{n} a_j\Bigl(x^{(p^e)}\Bigr)^j
\]
Weiter sei $a ∈ \overline{K}$ eine Nullstelle von $f$ im algebraischen
Abschluss. Dann ist
\[
f(x) = f(x)-f(a) = \sum_{j=0}^{n}a_\Bigl(x^{(p^e)· j}-a^{(p^e)· j}\Bigr) =
\sum_{j=1}^{n} a_\Bigl(x^j-a^j\Bigr)^{p^e}.
\]
Somit ist $a$ eine mindestens $p^e$-fache Nullstelle von $f$. Also ist $f$ inseparabel.
\end{proof}
\begin{bsp}
Sei $K = 𝔽_p(t) = Q\bigl( 𝔽_p[t] \bigr)$. Nach dem
Satz~\vref{Satz_Eisenstein_Kriterium} (``Eisenstein-Kriterium'') ist
\begin{equation*}
f = x^p-t ∈ K[x]
\end{equation*}
irreduzibel. Aber $f$ ist inseparabel, weil $f' =p·x^{p-1} = 0$ ist.
\end{bsp}
\section{Separable und inseparable Körpererweiterungen}
Die folgenden Definitionen bieten keine Überraschung. Körpererweiterungen sind
separabel, wenn alle Elemente separabel sind.
\begin{defn}[Separable und inseparable Elemente in Körpererweiterungen]
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung und $a ∈ L$ sei algebraisch über $K$. Man
nennt $a$ \emph{separabel über $K$}\index{separabel!Element einer
Körpererweiterung}, wenn das Minimalpolynom $f ∈ K[x]$ separabel ist.
Ansonsten heißt $a$ \emph{inseparabel über $K$}\index{inseparabel!Element
einer Körpererweiterung}.
\end{defn}
\begin{defn}[Separable und inseparable Körpererweiterungen]
Eine Körpererweiterung $L/K$ heißt
\emph{separabel}\index{separabel!Körpererweiterung}, wenn $L/K$ algebraisch
ist, und alle $a∈ L$ separabel sind. Ansonsten heißt $L/K$
\emph{inseparabel}\index{inseparabel!Körpererweiterung}.
\end{defn}
\sideremark{Vorlesung 15}
\begin{satz}\label{Satz_separabilitaet_Zwischenkoerper}
Wenn $L/K$ eine separable Körpererweiterung ist und $Z$ ein Zwischenkörper,
dann sind auch $L/Z$ und $Z/K$ separabel.
\end{satz}
\begin{proof}
Es ist klar, dass $Z/K$ separabel ist. Sei jetzt also $a ∈ L$. Wir müssen
zeigen, dass $a$ separabel über $Z$ ist. Dazu beobachten wird, dass das
Minimalpolynom von $a$ über $Z$ das Minimalpolynom von $a$ über $K$ teilt. Das
letztere hat aber keine mehrfachen Nullstellen, also hat auch das erste keine
mehrfachen Nullstellen.
\end{proof}
\subsection{Separabilität und Anzahl von $K$-Morphismen}
Im Folgenden ist ein wesentlicher Punkt, dass sich endliche separable
Körpererweiterungen $L/K$ durch die Anzahl der $K$-Homomorphismen
$L → \overline{K}$ charakterisieren lassen. Als Anwendung erhalten wir eine
Reihe von Sätzen und Korollaren über separable Erweiterungen, die wir schon in
ganz ähnlicher Form (und mit ganz ähnlichen Beweisen) für algebraische
Erweiterungen kennen. Die gesamte Diskussion baut auf folgendem Lemma auf.
\begin{lemma}\label{Lemma_Nullstellenanzahl_gleich_anzahl_der_Fortsetzungen}
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung und $a ∈ L$ sei algebraisch über $K$, mit
Minimalpolynom $f ∈ K[x] ⊆ L[x]$. Wenn $m$ die Anzahl der Nullstellen von $f$
in $L$ bezeichnet, dann gibt es genau $m$ verschiedene $K$-Morphismen
$σ : K(a) → L$.
\end{lemma}
\begin{proof}
Ich erinnere an die Beobachtungen~\ref{beob:p1} und \vref{beob:p2}: jeder
potenzielle $K$-Morphismus $σ$ bildet $a$ auf eine der $m$ Nullstellen von $f$
an, und ist durch dieses Bild eindeutig festgelegt. Jetzt müssen wir
lediglich noch zeigen, dass jede dieser $m$ verschiedenen Möglichkeiten
tatsächlich auftritt. Sei also $b$ eine Nullstelle von $f$ in $L$. Wir
betrachten wir die Substitutionsmorphismen
\begin{equation*}
\varphi_a : K[x] → K(a), \quad g ↦ g(a) \qquad\text{und}\qquad \varphi_b : K[x] → L, \quad g ↦ g(b).
\end{equation*}
Weil $f(a) = f(b) = 0$ ist, ist $f ∈ \ker \varphi_a$ und $f ∈ \ker \varphi_b$.
Weil $f$ irreduzibel ist, muss aber schon die Gleichheit
$(f) = \ker \varphi_a = \ker \varphi_b$ gelten. Also liefern $\varphi_a$ und
$\varphi_b$ $K$-Morphismen
\begin{equation*}
\factor{K[x]}{(f)} \xrightarrow{ψ_a} K(a) \qquad\text{und}\qquad \factor{K[x]}{(f)} \xrightarrow{ψ_b} L,
\end{equation*}
welche die Restklasse von $x$ auf $a$ beziehungsweise $b$ abbilden. Außerdem
ist $ψ_a$ ein Isomorphismus. Die Abbildung $ψ_b◦ψ^{-1}_a : K(a) → L$ ist also
die gesuchte Abbildung.
\end{proof}
Mit diesen Vorbereitungen können wir separable Abbildungen in präziser Art durch
die Anzahl von $K$-Morphismen charakterisieren. Als Konsequenz erhalten wir
eine Reihe von Sätzen, die wir für den Begriff der ``algebraischen
Körpererweiterung'' in ganz ähnlicher Form schon kennen.
\begin{satz}\label{Satz_11_10}
Es sei $L/K$ eine endliche (also insbesondere: algebraische) Körpererweiterung
und es sei $n := [L:K]$. Dann gilt Folgendes.
\begin{enumerate}
\item\label{Satz_11_10_Aussage_1} Es gibt höchstens $n$ verschiedene
$K$-Homomorphismen $σ : L → \overline{K}$.
\item\label{Satz_11_10_Aussage_2} Die Erweiterung $L/K$ ist genau dann
separabel, wenn es exakt $n$ solche Fortsetzungen gibt.
\end{enumerate}
\end{satz}
\begin{proof}
\video{15-1}
\end{proof}
\begin{kor}
Wenn $L/K$ und $M/K$ algebraische Körpererweiterungen sind und $n := [L:K]$
ist, dann gibt es höchstens $n$ unterschiedliche $K$-Morphismen $σ : L → M$.
\end{kor}
\begin{proof}
Man bette $M$ in $\overline{K}$ ein.
\end{proof}
\begin{kor}
Sei $L = K[a_1, …, a_t]$, wobei $a_i$ stets separabel über
$K[a_1, …, a_{i-1}]$ ist. Dann ist $L/K$ separabel.
\end{kor}
\begin{proof}
Der Beweis von \ref{Satz_11_10} zeigt, dass es $n=\prod n_i$ viele
unterschiedliche Einbettungen $L → \overline{K}$ gibt. Also ist $L/K$ nach
\ref{Satz_11_10} separabel.
\end{proof}
\begin{kor}[Transitivität der Separabilität]
Sei $L/K$ und $M/L$ separable Körpererweiterungen. Dann ist auch $M/K$
separabel.
\end{kor}
\begin{proof}
Wir wissen schon, dass $M/K$ algebraisch ist. Sei $a∈ M$ ein Element und
\begin{equation*}
f = \underbrace{a_0+a_1· x+\dots +a_{n-1}x^{n-1}+x^n}_{∈ L[x]}
\end{equation*}
das zugehörige Minimalpolynom. Es gilt, dass $a$ separabel über
$K[a_0, …, a_{n-1}] =: L^{n-1}$ ist. Weil die $a_i$ aber separabel über $K$
sind, ist $L^\prime[a] = K[a_0, …, a_{n-1}, a]$ separabel. Insbesondere ist
$a$ separabel.
\end{proof}
\subsection{Der separable Abschluss}
Erinnern Sie sich an den ``algebraischen Abschluss einer Körpers in einem
Oberkörper'', den wir in Satz~\vref{satzdef:aaieO} eingeführt haben? Auch
dieser Satz und diese Definition lässt sich fast wortgleich in unseren Kontext
übertragen.
\begin{satzdef}[Separabler algebraischer Abschluss, Separabilitätsgrad]
Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung. Dann ist die Menge
\[
L_{\sep} := \{ a ∈ L \::\: a \text{ ist separabel über }K\}
\]
ein Unterkörper von $L$. Man nennt $L_{\sep}$ den \emph{separablen
algebraischen Abschluss von $K$ in $L$}\index{separabler algebraischer
Abschluss}. Die Zahl $[L_{\sep} : K]$ wird \emph{Separabilitätsgrad der
Körpererweiterung $L/K$}\index{Separabilitätsgrad} genannt.
\end{satzdef}
\begin{proof}
Seien $a,b ∈ L$ separabel über $K$. Wir müssen zeigen, dass $a±b$, $a·b$ und
gegebenenfalls $a·b^{-1}$ separabel sind. Wir wissen aber schon, dass
$K(a,b)$ über $K$ separabel ist. Die fraglichen Elemente liegen aber in
$K(a,b)$.
\end{proof}
\begin{defn}[Vollkommene Körper]
Es sei $K$ ein Körper. Man nennt den Körper $K$
\emph{vollkommen}\index{vollkommener Körper}, wenn jede algebraische
Körpererweiterung $L/K$ separabel ist.
\end{defn}
\begin{bsp}
Körper der Charakteristik $0$ und algebraisch abgeschlossene Körper sind
vollkommen. An dieser Stelle schließt sich traditionell eine Reihe von
unpassenden Witzen an, die sich nicht zum Abdruck eignen.
\end{bsp}
\begin{satz}\label{Satz_Aequivalente_Aussagen_Vollkommen}
Es sei $K$ ein Körper der Charakteristik $p>0$. Dann sind folgende Aussagen
äquivalent.
\begin{enumerate}
\item\label{Satz_Aequivalente_Aussagen_Vollkommen_Aussage_1} Der Körper $K$
ist vollkommen.
\item\label{Satz_Aequivalente_Aussagen_Vollkommen_Aussage_2} Es gilt $K=K^p$.
Mit anderen Worten: der Frobenius-Morphismus ist surjektiv.
\end{enumerate}
\end{satz}
\begin{proof}
\video{15-2}
\end{proof}
\begin{kor}
Jeder endliche Körper ist vollkommen.
\end{kor}
\begin{proof}
Wir haben schon gesehen, dass der Frobenius-Endomorphismus surjektiv ist.
\end{proof}
\begin{bemerkung}
Das einfachste Beispiel für einen unvollkommenen Körper ist $K = 𝔽_p(t)$. Das
einfachste inseparable Polynom ist $x^p-t ∈ K[x]$. Wenn wir eine Nullstelle
dieses Polynoms in $\overline{K}$ wählen und sinnigerweise mit $\sqrt[p]{t}$
bezeichnen, dann ist
\[
\factor{K \Bigl( \sqrt[p]{t} \Bigr)}{K}
\]
das einfachste Beispiel einer inseparablen Körpererweiterung.
\end{bemerkung}
%%% Local Variables:
%%% mode: latex
%%% TeX-master: "AlgebraZahlentheorie"
%%% End: