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\selectlanguage{german}
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\chapter{Auflösbare und einfache Gruppen}
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\label{chap:20}
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\section{Auflösbare Gruppen: teile und herrsche}
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Abelsche Gruppen sind leicht zu verstehen, andere Gruppen eher nicht. Eine
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mögliche Herangehensweise, um eine gegebene Gruppe $G$ zu verstehen, ist es,
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einen Normalteiler $N ⊂ G$ zu finden, und die Sequenz
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\begin{equation*}
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N → G → \factor{G}{N}
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\end{equation*}
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zu betrachten. Damit ist das Problem nicht gelöst, aber immerhin in
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Teilaufgaben unterteilt.
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\begin{itemize}
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\item Zuerst muss man die Gruppen $N$ und $G/N$ verstehen. Diese Gruppen sind
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kleiner als $G$ und damit hoffentlich leichter zu untersuchen. Wenn man ganz
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viel Glück hat, sind $N$ oder $G/N$ vielleicht sogar Abelsch.
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\item Am Ende muss man verstehen, wie sich die Gruppe $G$ aus $N$ und $G/N$
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zusammensetzt.
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\end{itemize}
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Falls die Gruppen $G$ und $G/N$ immer noch zu kompliziert sind, kann man
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vielleicht denselben Trick anwenden, um auch diese Gruppen weiter zu
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unterteilen.
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\begin{bsp}
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Es sei $G$ ist die Gruppe der affinen Transformationen der Ebene $ℂ²$. In der
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linearen Algebra haben wir die Gruppe vermutlich schon untersucht und dabei
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festgestellt, dass sich jede affine Transformation als Komposition einer
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Translation und einer linearen Abbildung schreiben lässt. Eine genauere
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Untersuchung zeigt: Die Gruppe der Translationen ist eine normale
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Untergruppe\footnote{Können Sie das beweisen? Machen Sie mal! Zeigen Sie
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mir, dass die linearen Abbildungen \emph{keine} normale Untergruppe bilden!}
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$N ⊂ G$. Der Quotient ist $G/N ≅ \GL_2(ℂ)$. Beide Anteile kann man gut
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verstehen.
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\end{bsp}
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Wenn eine gegebene Gruppe $G$ nicht Abelsch ist, dann ist die nächstbeste
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Möglichkeit vermutlich die, dass die Gruppe $G$ wie oben beschrieben aus
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Abelschen Gruppen zusammengesetzt ist. Die folgende Definition sagt präzise,
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was ich damit meine.
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\begin{definition}[Auflösbare Gruppe]\label{def:solv}
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Eine Gruppe $G$ heißt \emph{auflösbar}\index{auflösbare Gruppe}, wenn es eine
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Zahl $ℓ ∈ ℕ$ und eine Kette von Untergruppen
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\begin{equation*}
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G=N_{ℓ}⊋ N_{ℓ-1}⊋ ⋯ ⊋ N_1 ⊋ N_0= \{e\}
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\end{equation*}
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gibt, sodass Folgendes gilt.
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\begin{enumerate}
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\item Für jeden Index $0 ≤ i < ℓ$ ist $N_i$ ein Normalteiler in $N_{i+1}$.
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\item Für jeden Index $0 ≤ i < ℓ$ ist die Quotientengruppe $N_{i+1}/N_i$
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Abelsch.
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\end{enumerate}
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\end{definition}
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\begin{notation}
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Eine Kette von Untergruppen wie in Definition~\ref{def:solv} wird
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\emph{Auflösungskette}\index{Auflösungskette} genannt.
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\end{notation}
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Auflösbare Gruppen sind also (auf noch zu klärende Weise) aus Abelschen Gruppen
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zusammengesetzt. Wir werden später noch sehen, dass die in Kapitel~\ref{sec:4}
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gestellte Frage nach der Auflösbarkeit von Gleichungen durch Radikale eng mit
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der Frage nach der Auflösbarkeit gewisser Galoisgruppen zusammenhängt. Der Name
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„auflösbare Gruppe“ ist vermutlich aus diesem Kontext heraus entstanden.
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\begin{bsp}
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Die Permutationsgruppe $S_4$ ist auflösbar, denn es ist
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$S_4 ⊃ A_4 ⊃ V_4 ⊃ \{e\}$. Dabei sind $A_4$ und $V_4$ die folgenden
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Untergruppen.
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\begin{itemize}
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\item Die Gruppe $A_4$ ist der Kern der Signumsabbildung und wird
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\emph{alternierende Gruppe}\index{alternierende Gruppe} genannt.
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\item Die Gruppe $V_4$ heißt \emph{Kleinsche Vierergruppe}\index{Kleinsche
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Vierergruppe} und ist gegeben als
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\[
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V_4 = \{\Id, (12)(34), (13)(24), (14)(23) \}.
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\]
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\end{itemize}
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Weiterhin rechne man nach, was die Quotienten sind:
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\[
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\factor{S_4}{A_4} ≅ \factor{ℤ}{(2)}, \quad %
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\factor{A_4}{V_4} ≅ \factor{ℤ}{(3)}, \quad \text{und} \quad %
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V_4 = \factor{V_4}{\{e\}} ≅ \factor{ℤ}{(2)} ⨯ \factor{ℤ}{(2)}.
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\]
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Damit ist klar, dass die Gruppe $S_4$ auflösbar ist. Interessehalber stellen
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wir noch fest, dass
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\begin{equation*}
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A_4 ≠ \factor{ℤ}{(3)} ⨯ \factor{ℤ}{(2)} ⨯ \factor{ℤ}{(2)}
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\end{equation*}
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ist, sodass wir wirklich ein nicht-triviales Beispiel für eine auflösbare
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Gruppe haben.
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\end{bsp}
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Die folgenden beiden Sätze liefern weitere Beispiele.
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\begin{satz}[$p$-Gruppen sind auflösbar]
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Es sei $p$ eine Primzahl. Dann ist jede endliche $p$-Gruppe auflösbar.
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\end{satz}
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\begin{proof}
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\video{21-1}
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\end{proof}
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\begin{satz}[Untergruppen und Quotienten]
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Es sei $G$ eine auflösbare Gruppe. Dann ist auch jede Untergruppe und jede
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Restklassengruppe von $G$ auflösbar.
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\end{satz}
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\begin{proof}
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\video{21-2}
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\end{proof}
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Auflösungsketten sind (wenn sie überhaupt existieren) in keiner Weise eindeutig.
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Man kann sich also Mühe geben und versuchen, besonders gute Ketten zu finden.
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Der folgende Satz gibt eine Idee, was möglich ist.
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\begin{satz}[Gute Auflösungsketten]\label{Satz_Aufloesungskette}
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Wenn $G$ eine endliche, auflösbare Gruppe ist und $N ⊂ G$ ein Normalteiler,
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dann existiert eine Auflösungskette
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\begin{equation*}
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G = N_{ℓ} ⊋ N_{ℓ-1} ⊋ ⋯ ⊋ N_1⊋ \{e\},
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\end{equation*}
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sodass folgende Eigenschaften gelten.
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\begin{enumerate}
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\item\label{Satz_18_4_Aussage_1} Die Gruppe $N$ kommt in der Auflösungskette
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vor. Mit anderen Worten: Es ist $N ∈ \{N_{ℓ}, …, N_0\}$.
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\item\label{Satz_18_4_Aussage_2} Die Quotienten $N_{i+1}/N_i$ sind zyklisch
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und von Primzahlordnung.
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\end{enumerate}
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\end{satz}
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\begin{proof}
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\video{21-3}
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\end{proof}
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\begin{bemerkung}
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Wenn eine Auflösungskette wie in \vref{Satz_Aufloesungskette} gegeben ist,
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dann kommt $ℤ/(p)$ als Quotient genau so oft vor, wie $p$ die Gruppenordnung
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$|G|$ teilt. Über die Reihenfolge kann man aber nur wenig sagen.
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\end{bemerkung}
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\section{Einfache Gruppen: hier teilt und herrscht garantiert niemand}
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\sideremark{Vorlesung 22}Es gibt natürlich Gruppen, bei denen die
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Auflösungsstrategie völlig versagt. Das absolute Gegenteil einer „auflösbaren
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Gruppe“ ist eine Gruppe, die überhaupt keinen Normalteiler hat --- und damit
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auch keinen interessanten Gruppenmorphismus in irgendeine andere Gruppe.
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\begin{definition}[Einfache Gruppe]
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Eine Gruppe $G$ heißt \emph{einfach}\index{einfache Gruppe}, wenn $\{e \}$ und
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$G$ die einzigen Normalteiler sind.
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\end{definition}
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\begin{bsp}\label{bsp:abpe}
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Wenn $p$ eine Primzahl ist, dann ist die Quotientengruppe $ℤ/(p)$ einfach.
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\end{bsp}
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Das Wort „einfach“ ist historisch begründet. Es bedeutet nicht „leicht zu
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verstehen“, sondern „mithilfe der Auflösungsstrategie nicht weiter zu zerlegen“.
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Vielleicht hätte man statt dem missverständlichen Wort „einfach“ besser von
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„atomaren“ Gruppen sprechen sollen. Aber auf mich hört ja niemand.
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\begin{rem}
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Wenn man alle endlichen Gruppen klassifizieren oder durch Auflösung
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beschreiben will, muss man zumindest alle einfachen Gruppen gut kennen ---
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dies sind die Bausteine, aus denen alle anderen Gruppen zusammengesetzt sind.
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\href{https://en.wikipedia.org/wiki/Classification_of_finite_simple_groups}{Tatsächlich
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sind die einfachen, nicht-abelschen Gruppen inzwischen klassifiziert}. Dazu
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berichtet
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\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Endliche_einfache_Gruppe}{Wikipedia}
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sinngemäß:
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\begin{itemize}
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\item Die Herleitung des Klassifikationssatzes war eines der umfangreichsten
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Projekte der Mathematikgeschichte. Der Beweis verteilt sich auf über 500
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Fachartikel mit zusammen fast 15.000 gedruckten Seiten. Es sind aber nicht
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alle Beweise auch publiziert worden. Über 100 Mathematiker waren von Ende
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der 1920er bis Anfang der 1980er Jahre daran beteiligt.
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\item Nach der „Fertigstellung“ des Beweises um 1980 ist von führenden
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Mathematikern des Klassifikationsprogramms […] ein Programm aufgenommen
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worden, den Beweis zu vereinfachen und lückenlos zu dokumentieren. Dabei
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sind auch Lücken entdeckt worden, von denen die meisten ohne größere
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Komplikationen geschlossen werden konnten. Eine Lücke erwies sich
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allerdings als so hartnäckig, dass erst 2002 von Aschbacher und anderen ein
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Beweis erbracht werden konnte, der immerhin 1200 Seiten lang war.
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\item Ronald Solomon, Richard Lyons und Daniel Gorenstein begannen 1994 eine
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auf 12 Bände angelegte Darstellung des Beweises (GLS Projekt), das bei der
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American Mathematical Society erscheint und voraussichtlich \sout{2023}
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niemals abgeschlossen sein wird.
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\end{itemize}
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\end{rem}
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Beispiele von einfachen Gruppen sind gar nicht so leicht zu finden. Für die
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Anwendungen der Galoistheorie ist der folgende Satz von zentraler Bedeutung.
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\begin{satz}[Alternierende Gruppe sind meistens einfach]\label{Satz_alternierende_Gruppe}
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Die alternierende Gruppe $A_n$ ist einfach, wenn $n ≠ 4$ ist. Insbesondere
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ist die Permutationsgruppe $S_n$ für $n ≥ 5$ \emph{nicht} auflösbar.
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\end{satz}
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Der Beweis von Satz~\ref{Satz_alternierende_Gruppe} verwendet folgendes Lemma.
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\begin{lemma}\label{Hilfssatz_algernierende_Gruppe}
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Es sei $n ≥ 5$. Wenn $N ⊆ A_n$ eine normale Untergruppe ist, die zusätzlich
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noch einen 3-Zyklus enthält, dann ist $N = A_n$.
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\end{lemma}
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\begin{proof}[Beweis von Lemma~\ref{Hilfssatz_algernierende_Gruppe}]
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\video{22-1}, verbessert am 9.~Februar 2021.
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\end{proof}
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\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{Satz_alternierende_Gruppe}]
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Die Gruppe $A_2$ ist trivial, $A_n = \{e \}$. Die Gruppe $A_3$ ist isomorph
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zu $ℤ/(3)$; zum Beweis schreibe man sich die Gruppe einfach hin. Wir hatten
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schon in Beispiel~\ref{bsp:abpe} gesehen, dass die Gruppe $ℤ/(3)$ einfach ist.
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Den Fall $n ≥ 5$ behandeln wir im \video{22-2}.
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\end{proof}
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%%% Local Variables:
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%%% mode: latex
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%%% TeX-master: "AlgebraZahlentheorie"
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%%% End:
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