AlgebraZahlentheorie/01.tex

295 lines
12 KiB
TeX
Raw Blame History

This file contains ambiguous Unicode characters

This file contains Unicode characters that might be confused with other characters. If you think that this is intentional, you can safely ignore this warning. Use the Escape button to reveal them.

% spell checker language
\selectlanguage{german}
\chapter{Konstruktionen mit Zirkel und Lineal}
\begin{quote}
Bei der Darstellung des Materials versuchte der Autor, den
axiomatisch-deduktiven Stil zu vermeiden, dessen charakteristisches
Kennzeichen unmotivierte Definitionen sind, die die fundamentalen Ideen und
Methoden verschleiern und die, Gleichnissen ähnlich, den Schülern nur unter
vier Augen erlautert werden.
--- Vladimir Arnol'd, Einleitung zu ``Geometrische Methoden in der Theorie der
gewöhnlichen Differenzalgleichungen''
\end{quote}
\bigskip
\sideremark{Vorlesung 1}Es gibt mehrere Arten, sich dem Stoff der Vorlesung
``Algebra'' zu nähern. Viele Bücher und Vorlesungen führen der Reihe nach die
Begriffe
\begin{quote}
Gruppe -- Ringe -- Körper -- Körpererweiterungen
\end{quote}
ein, beweisen ganz viele komplizierte Sätze und überraschen dann gegen Ende mit
einigen unerwarteten Anwendungen. Mögen Sie solche Vorlesungen? Ich nicht.
Ich habe langwierigen Lernstoff nie gemocht und konnte mich als Student nur
schwer motivieren, Definitionen auswendig zu lernen die nicht gut motiviert
waren. Das ist doch langweilig!
Ich möchte deshalb anders herum anfangen und gleich mit einem klassischem
Problem beginnen: Welche geometrischen Figuren kann ich mit Zirkel und Lineal
konstruieren? Und bei welchen geht das nicht? Und wenn es nicht geht, woran
liegt das? Wir werden sofort sehen, dass dieses Problem mit der Frage nach
Körpern und Körpererweiterungen zu tun hat, und dann Kapitel für Kapitel die
notwendige Theorie entwickeln, um diese Fragen zu beantworten. Wir springen also
gleich ins tiefe Wasser. Besorgen Sie sich noch ein paar Bücher und Skripte,
die Ihnen beim Lernen helfen … und auf geht's!
\section{Das Konstruktionsproblem}
Wir befinden uns am Beginn der hellenistischen Antike. Alexander der Große hat
ein Weltreich errichtet. Wissenschaft und Technik erreichen ein Niveau, das in
den darauf folgenden Jahrhunderten in nie wieder erreicht werden
wird\footnote{Schauen Sie mal in das Buch \cite{Russo05}. Kennen Sie den
\href{https://www.dpma.de/dpma/veroeffentlichungen/meilensteine/antikytera-mechanismus/index.html}{Mechanismus
von Antikythera}?}. In der hellenistischen Technik nimmt die darstellende
Geometrie einen wichtigen Platz ein. Trigonometrische Rechnung war zwar
bekannt, für technische Anwendungen aber nicht immer brauchbar\footnote{Gehen
Sie in die Werkstatt und versuchen Sie, ein brauchbares Rad zu bauen, indem
Sie die Koordinaten von ausreichend vielen Stützpunkten mit $\sin$ und $\cos$
näherungsweise von Hand ausrechnen und dann sorgfältig auf ihr Werkstück
übertragen. Aber Achtung: noch vor wenigen Jahren gab für solchen Unsinn
Maulschellen vom Lehrherrn.}. Tatsächlich kann ein geübter Techniker mit
Zirkel und Lineal erstaunlich genau arbeiten und Dinge konstruieren, die sich
nur schwer berechnen lassen\footnote{Beispiele finden Sie in den absolut
sehenswerten Büchern \cite{Moon07} und \cite{MR2377148}}.
\begin{warnung}
In der hellenistischen Antike hatten Lineale keine cm-Einteilung. Bei
Konstruktionen mit ``Zirkel und Lineal'' kann man keine Lösungen messen oder
vorgeben. Albrecht
Dürer\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_Duerer}{Albrecht
Dürer der Jüngere} (auch Duerer; * 21. Mai 1471 in Nürnberg; † 6. April
1528 ebenda) war ein deutscher Maler, Grafiker, Mathematiker und
Kunsttheoretiker.}, der sich natürlich viele Gedanken zum Thema gemacht hat,
schreibt im Titel seines berühmten Buches \cite{Dur25} vielleicht auch deshalb
lieber vom ``Richtscheit''.
\end{warnung}
\subsection{Konstruktion des regelmäßigen 5-Eck}
\index{Konstruktion!des regelmäßigen 5-Eck}
\begin{figure}
\centering
\input{figures/01-fiveGon}
\caption{Das regelmäßige 5-Eck}
\label{fig:fiveGon}
\end{figure}
Als Beispiel konstruieren wir uns ein Fünfeck in vier einfachen Schritten.
Abbildung~\vref{fig:fiveGon} erläutert die Konstruktion. Auf der
\href{https://nextcloud.cplx.vm.uni-freiburg.de/index.php/s/a5YSrH8E8LWHzsr}{Nextcloud}
finden Sie die Konstruktion auch als GeoGebra-Arbeitsblatt.
\begin{itemize}
\item Man konstruiere zwei zueinander senkrecht stehenden Achsen, die sich im
Mittelpunkt eines Kreises schneiden.
\item Man halbiere die eine und viertele die andere Achse.
\item Man schlage einen Kreis mit Vierteilungspunkt als Mittelpunkt und Strecke
Vierteilungspunkt- Halbierungspunkt als Radius.
\item Die Schnittpunkte des Kreises mit der geviertelten Achse sind orthogonale
Projektionen der Eckpunkte des in dem ursprünglichen Kreis eingeschriebenen
5-Eck auf die geviertelte Achse.
\end{itemize}
Der folgende Satz schafft den Bogen zur Zahlentheorie. Ich nenne ihn hier, um
zu illustrieren, dass das 5-Eck auf jeden Fall schwer zu berechnen ist!
\begin{satz}
Betrachte das regelmäßig 5-Eck aus Abbildung~\ref{fig:fiveGon}. Dann gilt:
Die Kantenlänge $a$ und die Länge der Sekante $d$ im regelmäßigen $5$-Eck sind
\emph{inkommensurabel}. Mit anderen Worten: der Quotient $d/a$ ist keine
rationale Zahl.
\end{satz}
\begin{proof}
Wir betrachten weiterhin Abbildung~\ref{fig:fiveGon} und beginnen mit einer
Vorüberlegung. Elementare Schulgeometrie (Satz vom Z-Winkel, etc) zeigt, dass
das kleine $5$-Eck die Sekantenlänge $a$ und Kantenlänge $d-a$ hat. Der
Beweis involviert einige Zeichnungen, die ich auf der
\href{https://nextcloud.cplx.vm.uni-freiburg.de/index.php/s/a5YSrH8E8LWHzsr}{Nextcloud}
für Sie als Scan hinterlegt habe.
Zurück zur eigentlichen Aussage: wir führen einen Beweis mit Widerspruch und
nehmen an, dass $\frac{d}{a}$ in $$ sei. Dann gibt es eine Strecke der
Länge $s$ mit $d = n·s$ und $a = m·s$, wobei $n$ und $m$ natürliche Zahlen
sind. Die Vorüberlegung zeigt aber, dass
\begin{equation*}
d-a=\underbrace{(n-m)}_{^+}·s
\end{equation*}
die Kantenlänge eines kleineren $5$-Eck ist, das eine Sekante der Länge $a$
hat. Wir haben also, dass auch $a-(d-a)=2a-d$ ein Vielfaches von $s$ ist. Weil
aber $a-(d-a)$ sehr klein ist (genauer, weil es $θ < 1$ gibt mit
$a-(d-a) < θ·a$), und weil wir den Prozess beliebig oft wiederholen
können, ist
\begin{equation*}
s< θ^k·a
\end{equation*}
für alle $k>0$, ein klarer Widerspruch.
\end{proof}
\begin{prov}
Kennen wir die irrationale Zahl $d/a$ irgendwoher?
\end{prov}
\subsection{Andere klassische Konstruktionsaufgaben}
\label{sec:1-1-2}
Es gibt natürlich noch andere klassische Konstruktionsaufgaben. Ich nenne
einige der berühmtesten Beispiele.
\begin{itemize}
\item Die Konstruktion eines regelmäßigen $n$-Ecks für alle natürlichen Zahlen
$n$.\index{Konstruktion!des regelmäßigen $n$-Eck}
\item Die Dreiteilung eines gegebenen Winkels.\index{Konstruktion!Dreiteilung
des Winkels}
\item Die Verdopplung eines Würfels. Dabei bedeutet Verdoppelung: Das Volumen
soll sich verdoppeln.\index{Konstruktion!Verdoppelung des Würfels}
\item Die Quadratur des Kreises. Dabei geht es darum, zu einem gegebenen Kreis
ein Quadrat zu konstruieren, das denselben Flächeninhalt hat wie der
Kreis.\index{Konstruktion!Quadratur des Kreises}
\end{itemize}
\section{Enter: Algebra}
Die Frage, welche dieser Konstruktionsaufgaben lösbar sind, war viele
Jahrhunderte offen. Fortschritte gab es erst, nachdem die Probleme in Algebra
übersetzt werden konnten. Dazu interpretiert die Ebene als die Menge $$ der
komplexen Zahlen. Außerdem müssen wir ein für allemal festlegen, welche
Konstruktionen mit Zirkel und Lineal möglich sind.
\begin{notation}
Für Punkte $p,q ∈ $ mit $p ≠ q$ sei $\overline{p, q}$ die Gerade durch
$p$ und $q$.
\end{notation}
\begin{notation}
Für Punkte $p,q ∈ $ sei $K(p, \|p-q\|)$ der Kreis durch $q$ mit
Mittelpunkt $p$.
\end{notation}
\begin{defn}[Elementare Konstruktionsschritte]
Gegeben sei eine nicht-leere Menge $M ⊂ $. Mit Zirkel und Lineal sind exakt
die folgenden Konstruktionen möglich, um neue Punkte zu
konstruieren.\index{Konstruktion!elementarer Schritt}
\begin{itemize}
\item Seien $p_1, q_1, p_2$ und $q_2∈ M$ mit $p_1≠ q_1$ und
$p_2≠ q_2$. Seien außerdem die Geraden $\overline{p_1, q_1}$ und $\overline{p_2, q_2}$ verschieden. Dann sind die Punkte von
$\overline{p_1, q_1}\overline{p_2, q_2}$ durch den elementaren
Konstruktionsschritt ``Schneiden von zwei Geraden'' mit Zirkel und Lineal
aus der Menge $M$ konstruierbar.
\item Seien $p_1,q_1,p_2,q_2∈ M$ mit $p_1 ≠ q_1$. Dann sind die Punkte
von $\overline{p_1, q_1} ∩ K(p_2, \|p_2-q_2\|)$ durch den elementaren
Konstruktionsschritt ``Gerade mit Kreis schneiden'' mit Zirkel und Lineal
aus der Menge $M$ konstruierbar.
\item Seien $p_1,q_1,p_2,q_2∈ M$ mit $p_1≠ p_2$. Dann sind die Punkte
von $K(p_1, \|p_1-q_1\|) ∩ K(p_2, \|p_2-q_2\|)$ durch den elementaren
Konstruktionsschritt ``Schneiden von zwei Kreisen'' mit Zirkel und Lineal
aus der Menge $M$ konstruierbar.
\end{itemize}
\end{defn}
\begin{beobachtung}
In jedem elementaren Konstruktionsschritt werden höchstens zwei Punkte neue
Punkte konstruiert.
\end{beobachtung}
\begin{beobachtung}
Durch Zusammensetzen von mehreren elementaren Konstruktionsschritten kann man
komplizierte Konstruktionen durchführen. In der Schule haben wir unter
anderem folgende Konstruktionen gelernt.
\begin{itemize}
\item Lot von einem Punkt auf eine Gerade fällen.
\item Mittelsenkrechte zwischen zwei Punkten konstruieren. Damit lassen sich
Strecken halbieren und vierteln.
\item Gerade durch einen Punkt konstruieren, die zu einer gegebenen Gerade
parallel ist.
\end{itemize}
\end{beobachtung}
\begin{definition}[Konstruierbare Punkte]
Es sei eine beliebige Teilmenge $M ⊂ $ gegeben. Wir definieren die Menge
\emph{$\Kons(M)$ der mit Zirkel und Lineal aus $M$ konstruierbaren
Punkte}\index{konstruierbare Punkte} wie folgt: Ein Punkt $z ∈ $ ist genau
dann in $\Kons(M)$ enthalten, wenn es eine endliche Kette von Mengen
\[
M = M_0 ⊂ M_1⊂ ⋯ ⊂ M_n
\]
gibt, sodass folgendes gilt.
\begin{itemize}
\item Es ist $z ∈ M_n$.
\item Für jeden Index $i < n$ und jeden Punkt $p ∈ M_{i+1}$ gilt: $p$
entsteht durch einen elementaren Konstruktionsschritt aus den Punkten von
$M_i$.
\end{itemize}
\end{definition}
\begin{bemerkung}[Menge $M$ sollte mindestens zwei Punkte enthalten]
Wenn $M$ leer ist, oder nur einen Punkt enthält, ist $\Kons(M) = M$, das ist
sehr langweilig. Also betrachten wir im Folgenden immer den Fall, dass $M$
mindestens die Punkte $0,1$ enthält.
\end{bemerkung}
\begin{bsp}[Klassische Konstruktionsaufgaben]
Die im Abschnitt~\ref{sec:1-1-2} angesprochenen klassischen
Konstruktionsaufgaben lassen sich in dieser Sprache wie folgt formulieren.
\begin{itemize}
\item Die Konstruktion eines regelmäßigen $n$-Ecks: Gegeben $n ∈ $, ist dann
auch die komplexe Zahl $e^{(2π i)/n}$ in $\Kons(\{0,1\})$?
\item Die Dreiteilung eines gegebenen Winkels: gegeben eine reelle Zahl
$\varphi(0,2π)$, ist dann auch die komplexe Zahl $e^{(\varphi i)/3}$ in
$\Kons(\{0,1, e^{\varphi i}\})$?
\item Die Verdopplung des Würfels: ist $\sqrt[3]{2}$ in $\Kons(\{0,1\})$?
\item Die Quadratur des Kreises: ist $\sqrt{π}$ in $\Kons(\{0,1\})$?
\end{itemize}
\end{bsp}
Der folgende Satz ist der wesentliche Knackpunkt in der gesamten Vorlesung, der
die Verbindung zwischen der Frage nach der Konstruierbarkeit und der Algebra
herstellt: Die Frage nach der Konstruierbarkeit wird auf die Frage
zurückgeführt, wie die Unterkörper von $$ aussehen, und wie Unterkörper
ineinander enthalten sein können.
\begin{satz}[Mengen von konstruierbaren Punkten sind Unterkörper]\label{satz:1-2-9}
Es sei $M ⊂ $ eine Teilmenge, die die Zahlen $0$ und $1$ enthält.
Dann ist $\Kons(M)$ ein Unterkörper von $$.
\end{satz}
\begin{proof}[Beweis durch Übungsaufgabe]
Wir müssen zeigen, dass für alle Zahlen $x$, $y ∈ \Kons(M)$ auch die Zahlen
\[
x+y,\quad x-y,\quad x·y
\]
und im Falle $x \ne 0$ auch die Zahl $1/x$ mit Zirkel und Lineal aus $M$
konstruierbar ist. Dies lassen wir als Übungsaufgabe für die Leserin oder den
Leser. Das gilt insbesondere, wenn sie oder er auf Lehramt studiert!
\end{proof}
%%% Local Variables:
%%% mode: latex
%%% TeX-master: "AlgebraZahlentheorie"
%%% End: