AlgebraZahlentheorie/07.tex

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\chapter{Irreduzibilitätskriterien}
\sideremark{Vorlesung 8}Nach allen Vorbereitungen wollen wir jetzt die Frage
angehen, wie man entscheidet, ob ein gegebenes Polynom $f ∈ K[x]$ irreduzibel
ist.
\section{Das Irreduzibilitätskriterium von Gauß}
Für Polynome $f ∈ [x]$ werden wir die Frage nach der Irreduzibilität
vollständig beantworten. Wir erinnern uns daran, wie die Frage nach der
Konstruierbarkeit der „Verdoppelung des Würfels“ mit der Frage zusammenhing, ob
das Polynom $-2[x]$ irreduzibel ist.
\begin{beobachtung}
Im Ring $[x]$ sind Teilbarkeitsfragen oft durch Teilbarkeitsbetrachtungen der
Koeffizienten entscheidbar. Das geht zum Beispiel so: seien
\begin{equation*}
f = r_0 + r_1·x + ⋯ + r_n·x^n
\quad\text{und}\quad
g = s_0 + s_1·x + ⋯ + s_m·x^m
\end{equation*}
Polynome aus $[x]$. Dann folgt aus $g|f$ zumindest, dass $s_0|r_0$ und
$s_m|r_n$ gilt. Wenn $r_0$ und $r_n$ wenige Teiler haben, grenzt dies die
Möglichkeiten für potenzielle Teilerpolynome $g$ schon einmal ein.
\end{beobachtung}
\begin{bsp}
Im Spezialfall, wo $f$ ein kubisches Polynom ist, und $g = s_0 + s_1·x$ ein
Linearfaktor sein soll, dann muss $s_0|r_0$ und $s_1|r_3$ gelten. Sei jetzt
noch spezieller $f =-2[x]$. Dann müsste jeder Linearfaktor aussehen
wie $±x±1$ oder $±x±2$. Tatsächlich ist aber keines dieser Polynome ein
Teiler von $f$, weil $±1$ oder $±2$ keine Nullstellen von $f$ sind. Also ist
$f =-2$ irreduzibel in $[x]$.
\end{bsp}
Das folgende Irreduzibilitätskriterium von Gauß\index{Irreduzibilitätskriterium
von Gauß} zeigt, dass $-2$ dann auch irreduzibel in $[x]$ ist!
\begin{satz}[Irreduzibilitätskriterium von Gauß]\label{satz:Irreduzibilitaetssatz_Gaus}%
Es sei $R$ ein faktorieller Ring, es sei $K=Q(R)$ sein Quotientenkörper und es
sei ein Polynom $f ∈ R[x]$ von positivem Grad gegeben. Wenn $f$ in $R[x]$
irreduzibel ist, dann ist $f$ auch in $K[x]$ irreduzibel.
\end{satz}
Als Vorbereitung zum Beweis zeigen wir erst einmal das folgende Lemma. Das
Lemma zeigt auch, wie natürlich das Kriterium von Gauß ist.
\begin{lemma}\label{Lemma_zu_Irreduzibilitaetssatz}%
Sei $R$ ein faktorieller Ring, es sei $K = Q(R)$ der Quotientenkörper und $g ∈
K[x] \{0\}$ sei ein Polynom. Dann existiert ein $a∈ K \{0\}$, sodass $
g$ in $R[x]$ ist und sodass der $\ggT$ der Koeffizienten von $a· g$ gleich $1$
ist.
\end{lemma}
\begin{bemerkung}
Wir hatten nur den $\ggT$ für zwei Elemente definiert, die Definition geht
genau so für mehr als zwei Elemente. Für Polynome $a_0 + a_1·x ++ a_m·x^m
∈ R[x]$ ist die Bedingung $\ggT(a_0, …, a_m) = 1$ notwendig, aber nicht
hinreichend für die Irreduzibilität.
\end{bemerkung}
\begin{proof}[Beweis von Lemma~\ref{Lemma_zu_Irreduzibilitaetssatz}]
\video{8-1}
\end{proof}
\begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:Irreduzibilitaetssatz_Gaus}]
\video{8-2}
\end{proof}
\subsection{Anwendung des Gauß-Kriteriums}
Das Kriterium von Gauß führt die Frage, ob ein gegebenes Polynom $f ∈ [x]$
irreduzibel ist, auf die Frage zurück, ob $a· f ∈ [x]$ irreduzibel ist, für
geeignetes $a ∈ \{0\}$. Die Irreduzibilität von $a· f ∈ [x]$ kann man aber
in endlich vielen Rechenschritten entscheiden ($$Klausur). Ein Verfahren soll
jetzt ganz kurz skizziert werden. Den folgenden Satz kennen Sie vielleicht aus
den Anfängervorlesungen.
\begin{erinnerung}[Lagrangesche Interpolationsformel\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph-Louis_Lagrange}{Joseph-Louis de Lagrange} (* 25.~Januar 1736 in Turin als Giuseppe Lodovico Lagrangia; † 10.~April 1813 in Paris) war ein italienischer Mathematiker und Astronom.}\index{Lagrangesche Interpolationsformel}]%
Es sei $K$ ein Körper\footnote{Wir denken an $K = $.}, es sei $f(x) ∈ K[x]$
ein Polynom vom Grad $≤ n$ und es seien $a_0, …, a_n∈ K$ paarweise
verschiedene Elemente. Dann ist $f$ durch seine Werte $f(a_0), …, f(a_n)$
eindeutig festgelegt. Genauer gilt:
\begin{equation*}
f(x) = \sum_{i=0…n}f(a_i)\prod_{\genfrac{}{}{0pt}{}{j=0…n}{j≠i}}\frac{x-a_j}{a_i-a_j}.
\end{equation*}
\end{erinnerung}
\begin{proof}
Die rechte Seite der Gleichung ist ein Polynom $R(x) \in K[x]$ vom Grad $\deg
R = n$, sodass für alle Indices $i$ gilt:
\[
R(a_i) = f(a_i)·\prod_{\genfrac{}{}{0pt}{}{j=0…n}{j≠i}}\frac{a_i-a_j}{a_i-a_j}=f(a_i).
\]
Dann ist $f-R$ ein Polynom vom Grad $≤ n$, das $n+1$ Nullstellen hat, also das
Nullpolynom.
\end{proof}
Sei jetzt also $f ∈ [x]$ ein Polynom vom Grad $n$. Wähle paarweise
verschiedene Zahlen $a_1, …, a_{n+1}$ und betrachte die Werte $f(a_i)$.
Falls es Polynom $g(x)[x]$ gibt, welches $f$ teilt, dann gilt für jeden
Index $i$ die Relation $g(a_i) | f(a_i)$. Weil das Polynom $g$ aber durch die
Werte $g(a_1), …, g(a_{n+1})$ aber eindeutig bestimmt ist, und jede der Zahlen
$f(a_i)$ endlich viele Teiler hat, gibt es insgesamt nur endlich viele Polynome,
die als Teiler infrage kommen. Es genügt also, zu überprüfen, ob es unter den
endlich vielen Kombinationen von Teilern $t_i$ von $f(a_i)$ solche gibt, für die
gilt:
\begin{enumerate}
\item Das Polynom
\[
g(x) = \sum_{i=1}^{n+1} t_\prod_{\genfrac{}{}{0pt}{}{j=0}{j≠ i}} \frac{x-a_j}{a_i-a_j}
\]
hat ganzzahlige Koeffizienten.
\item Es gilt $g|f ∈ [x]$.
\item Das Polynom $g$ ist ein echter Teiler, also $g ≠ ±1$ und $g ≠ ±f$.
\end{enumerate}
\begin{bemerkung}
Es ist zweckmäßig die Zahlen $a_i$ so zu wählen, dass $f(a_i)$ möglichst
wenige Teiler hat. Wenn man nur noch Teilern vom Grad $≤ m<n$ sucht, dann
braucht man die Formel lediglich auf $m+1$ Punkte anzuwenden. Das hilft oft
sehr.
\end{bemerkung}
\section{Das Eisenstein-Kriterium}
\sideremark{Vorlesung 9}Mit der Langrangeschen Interpolationsformel kann ich die
Frage nach der Irreduzibilität zwar beantworten, allerdings sind die nötigen
Rechnungen ziemlich aufwändig (besonders bei Zeitdruck in einer Klausur!). Das
folgende Kriterium von Theodor
Schönemann\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Sch\%C3\%B6nemann}{Theodor
Schönemann} (* 4.~April 1812 in Driesen, Friedebergischer Kreis; † 16.~Januar
1868 in Brandenburg an der Havel) war ein deutscher Mathematiker.}, das in der
Literatur durchgehend falsch mit „Eisenstein-Kriterium“
bezeichnet\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Gotthold_Eisenstein}{Ferdinand
Gotthold Max Eisenstein} (* 16.~April 1823 in Berlin; † 11.~Oktober 1852 ebenda)
war ein deutscher Mathematiker, der hauptsächlich in der Zahlentheorie und über
elliptische Funktionen arbeitete.} wird, ist oft viel schneller. Es ist so
wichtig, dass es dazu sogar
\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Eisensteinkriterium}{eine eigene Seite auf
Wikipedia} gibt\index{Eisenstein-Kriterium}.
\begin{satz}[Eisenstein Kriterium]\label{Satz_Eisenstein_Kriterium}
Es sei $R$ ein faktorieller Ring und es sei
\begin{equation*}
f = a_0+a_1· x + \dots +a_n· x^n∈ R[x]
\end{equation*}
ein Polynom vom Grad $n>0$. Weiter sei $\ggT(a_0, …, a_n)=1$. Wenn es ein
Primelement $p ∈ R$ gibt mit $p|a_0$, $p|a_1$, …, $p|a_{n-1}$ und
$\nmid a_0$, dann ist $f$ irreduzibel in $R[x]$.
\end{satz}
\begin{proof}
\video{9-1}
\end{proof}
\begin{notation}
Ein Polynom, das die Bedingung von Satz~\ref{Satz_Eisenstein_Kriterium}
erfüllt, nennt man \emph{Eisen\-stein-Polynom}\index{Eisenstein-Polynom}.
\end{notation}
\begin{bsp}
Das Polynom $x^n-r ∈ [x]$ ist irreduzibel, wenn $r$ durch eine Primzahl
$p$, aber nicht durch $$ teilbar ist.
\end{bsp}
\begin{bsp}
Das Polynom $x^n-p ∈ [x]$ ist für jede Primzahl $p$ irreduzibel, und
deshalb Minimalpolynom von $\sqrt[n]{p}$ als Element der Körpererweiterung
$/$.
\end{bsp}
\begin{bsp}
Ein Polynom in mehreren Variablen der Gestalt
\begin{equation*}
x_1^m+g(x_2, …, x_n) ∈ R[x_1, …, x_n]
\end{equation*}
über einem faktoriellen Ring $R$ ist sicher dann irreduzibel, wenn $g(x_2, …,
x_n)$ als Element von $R[x_2, …, x_n]$ irreduzibel ist.
\end{bsp}
\subsection{Hilfe bei der Anwendung des Eisenstein-Kriteriums}
Das Eisenstein-Kriterium lässt manchmal auch in solchen Situationen anwenden, in
denen kein Eisenstein-Polynom vorliegt. Hin und wieder ist es nämlich möglich,
einen Ringmorphismus zu betrachten und folgendes Lemma anzuwenden.
\begin{lem}
Es sei $R$ ein faktorieller Ring, es sei $S$ ein Integritätsring und es sei
$\varphi : R[x] → S$ ein Ringmorphismus, der kein Polynom positiven Grades auf
eine Einheit in $S$ abbildet. Weiter sei $f∈ R[x]$ ein Polynom vom Grad $>0$,
sodass der größte gemeinsame Teiler der Koeffizienten gleich $1$ ist. Wenn
jetzt $\varphi(f) ∈ S$ irreduzibel ist, dann ist auch $f∈ R[x]$ irreduzibel.
\end{lem}
\begin{proof}
Angenommen, $f$ wäre reduzibel. Dann können wir schreiben $f = g·h$, wobei
$g$ und $h$ jeweils keine Einheiten in $R[x]$ sind. Weil der größte
gemeinsame Teiler der Koeffizienten gleich $1$ ist, müssen $g$ und $h$ jeweils
positiven Grad haben. Die Gleichung
\begin{equation*}
\varphi(f) = \varphi(g)·\varphi(h)
\end{equation*}
zeigt dann, dass $\varphi(f)$ echte Teiler hat, also nicht irreduzibel ist.
\end{proof}
Ringmorphismen, die man in der Praxis brauchen kann, entstehen oft auf die
folgenden Weisen.
\begin{description}
\item[Anwenden eines Ringhomomorphismus auf die Koeffizienten] Ist
$\varphi : R → S$ ein Ringhomomorphismus, dann ist auch
\begin{equation*}
Φ: R[x] → S[x], \quad \sum a_{ν} x^ν\sum\varphi(a_{ν})x^ν
\end{equation*}
ein Ringmorphismus.
\item[Einsetzungskomposition]\index{Einsetzungskomposition} Es sei eine
Abbildung $\varphi : R → S$ und es sei ein Element $t ∈ S$ gegeben. Setze
\begin{equation*}
Φ : R[x] → S, \quad \sum a_{ν} x^ν\sum\varphi(a_{ν})t^ν
\end{equation*}
\item[Substitutionsmorphismus]\index{Substitutionsmorphismus} Es sei ein
Element $a∈ R$ gegeben. Dann betrachte die Abbildung
\begin{equation*}
Φ : R[x] → R[x], \quad \sum a_{ν} x^ν\sum a_{ν}(x-a)^ν.
\end{equation*}
Diese Abbildung ist sogar ein Isomorphismus, weil sie durch $x ↦ x+a$
umgekehrt wird.
\end{description}
\begin{bsp}\label{bsp:7.2.7}
Es sei $p ∈ $ eine Primzahl und es sei
\[
f = x^{p-1}+x^{p-2}++ x+1[x].
\]
Auf $f$ kann man das Eisenstein-Kriterium nicht direkt anwenden. Wir wollen
den Substitutionsmorphismus $\varphi : \bZ[x] \to \bZ[x]$, $x \mapsto x+1$
anwenden. Es ist
\[
\varphi(f) = (x+1)^{p-1}+(x+1)^{p-2}++ (x+1)+1[x],
\]
aber das ist schwer auszurechnen. Deshalb ein Trick: man beobachte, dass sich
das Polynom $f$ durch Multiplikation mit $x-1$ mächtig vereinfacht,
\begin{equation*}
(x-1)·f = x^p-1.
\end{equation*}
Dann ist auf der einen Seite
\begin{align*}
\varphi( (x-1)·f ) & = \varphi(x-1)·\varphi(f) = x·\varphi(f)
\intertext{und auf der anderen Seite ist}
\varphi( (x-1)·f ) & = \varphi( x^p-1 ) = (x+1)^p-1 \\
& = \sum_{ν = 0}^{p}\binom{p}{ν}x^ν -1 = \sum_{ν = 1}^{p}\binom{p}{ν}x^ν.
\intertext{Ein Vergleich der beiden Seiten zeigt dann}
\varphi(f) & = \sum_{ν=1}^{p}\binom{p}{ν}x^{ν-1}.
\end{align*}
Das ist ein Eisenstein-Polynom in $\bZ[x]$, denn es gilt Folgendes.
\begin{itemize}
\item Für alle Zahlen $1ν < p$ gilt $p|\binom{p}{ν}$.
\item Es ist $\binom{p}{1}=p$, also $\nmid \binom{p}{1}$.
\item Es ist $\binom{p}{p}=1$, sodass der ggT der Koeffizienten ganz sicher
gleich eins ist.
\end{itemize}
Also sind $\varphi(f)$ und $f$ in $\bZ[x]$ jeweils irreduzibel. Nach
Satz~\ref{satz:Irreduzibilitaetssatz_Gaus} („Irreduzibilitätskriterium von
Gauß“) sind $\varphi(f)$ und $f$ dann auch im Polynomring
$[x]$ irreduzibel.
\end{bsp}
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