AlgebraZahlentheorie/04.tex

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\chapter{Auflösungen von Gleichungen durch Radikale}
\label{sec:4}
\sideremark{Vorlesung 4}Nach der Konstruktion mit Zirkel und Lineal möchte ich
noch ein klassisches Problem formulieren. Für eine quadratische Gleichung
$+px+q=0$ gibt es die Lösungsformel
\begin{equation*}
x_{1,2} = -\frac{p}{2}±\sqrt{ \left(\frac{p}{2}\right)²-q}.
\end{equation*}
Für Gleichungen 3.\ und 4.\ Grades haben italienische Mathematiker der
Renaissance komplizierte Formeln gefunden. In der westlichen Welt wurden diese
Formeln erstmals 1545 von Gerolamo
Cardano\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Gerolamo_Cardano}{Gerolamo
Cardano}, auch Geronimo oder Girolamo Cardano (von Mailand) sowie Cardan,
lateinisch Hieronymus Cardanus (Mediolanensis) (* 24.~September 1501 in Pavia; †
21.~September 1576 in Rom), war ein italienischer Arzt, Philosoph und
Mathematiker und zählt zu den Renaissance-Humanisten.} in seinem Buch
\cite{Cardano45} veröffentlicht. Die Lösungsformeln für reduzierte kubischen
Gleichungen wurden wohl von Nicolo
Tartaglia\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Niccolo_Tartaglia}{Niccolò
Tartaglia} (* 1499 oder 1500 in Brescia, Italien; † 13.~Dezember 1557 in
Venedig) war ein venezianischer Mathematiker der Renaissance, der für seine
Beiträge zur Lösung der kubischen Gleichung bekannt ist. } entdeckt; laut
Cardano sogar noch früher durch Scipione del
Ferro\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Scipione_del_Ferro}{Scipione
del Ferro} (* 6.~Februar 1465 in Bologna; † 5.~November 1526 ebenda) war ein
italienischer Mathematiker. Seit 1496 war er Professor für Arithmetik und
Geometrie an der Universität von Bologna.}.
\begin{bsp}
Es seien $a$, $b$ und $c$ komplexe Zahlen. Gesucht sind komplexe Lösungen der
Gleichung
\begin{equation}\label{eq_loesung_3_Grades}
x³+ax²+bx+c=0.
\end{equation}
Diese Gleichung lässt sich wie folgt lösen. Man setze
\begin{align*}
h& := -\frac{1}{2}c+\frac{1}{6}a· b-\frac{1}{27}\\
w_1& := \sqrt{-3(a²b²-4a³c-4b³+18abc-27c²)}\\
w_2& := \sqrt[3]{h+\frac{1}{18}w_1}\\
w_3& := \sqrt[3]{h-\frac{1}{18}w_1},
\end{align*}
wobei die Wurzeln so zu wählen sind, dass
\[
w_2·w_3 = \frac{1}{8}·a²·\frac{1}{3}·b
\]
ist. Dann ist $x = \frac{1}{3}·a+w_2-w_3$ eine Lösung von
\eqref{eq_loesung_3_Grades}.
\end{bsp}
Für Polynome vom Grad 5 wurde keine solche Formel gefunden. Das wirft Fragen
auf. Waren die italienischen Mathematiker der Renaissance zu dumm? Gibt es
eine solche Formel überhaupt? Die Frage war etliche Jahrhunderte offen.
Tatsächlich ist die Frage ein wenig mit dem Konstruktionsproblem verwandt und
durch die Theorie der Körpererweiterungen beantwortbar. Wir präzisieren die
Fragestellung hier nur.
\begin{defn}[Radikalerweiterung]\label{def:radikal}%
Eine Körpererweiterung $L/K$ heißt
Radikalerweiterung\index{Radikalerweiterung} von $K$, wenn es Elemente $a_1,
…, a_n∈ L$ und $r_1, …, r_n ∈ $ gibt, sodass Folgendes gilt.
\begin{itemize}
\item Es ist $L = K(a_1, …, a_n)$.
\item Es ist $a_1^{r_1} ∈ K$, und für alle Indizes $1 < i ≤ n$ ist $a_i^{r_i}
∈ K(a_1, …, a_{i-1})$.
\end{itemize}
\end{defn}
Erklärung: die Definition der Radikalerweiterung sagt also, dass $a_1$ die
$r_1$-te Wurzel eines Elements aus $K$, dass $a_2$ die $r_2$-te Wurzel eines
Elements aus $K(a_1)$, etc. Nach Korollar~\ref{kro:eord} können wir schreiben
\begin{align*}
K(a_1) & = K+ K· a_1+K· a_1²+\dots+ K· a_1^{r_1-1}\\
K(a_1, a_2)&= K(a_1)+K(a_1)· a_2+ \dots + K(a_1)· a_2^{r_2-1}\\
&\:\:\: \vdots \\
K(a_1, …, a_n)&= K(a_1, …, a_{n-1})+K(a_1, …, a_{n-1})· a_n + \dots + K(a_1, …, a_{n-1})· a_n^{r_n-1}.
\end{align*}
Jedes Element von $L$ lässt sich also durch einen Ausdruck darstellen, in dem
nur (höhere) Wurzeln und Elemente aus $K$ vorkommen.
\begin{defn}[Gleichung ist durch Radikale auflösbar]\label{def:gidra}%
Gegeben sei ein Körper $K$ und ein Polynom $f∈ K[x]$. Man sagt, die Gleichung
$f(x) = 0$ ist \emph{durch Radikale Auflösbar}\index{Auflösbarkeit durch
Radikale}, wenn es eine Radikalerweiterung $L/K$ gibt, in der $f$ eine
Nullstelle hat\footnote{Genauer: …, wenn es eine Radikalerweiterung $L/K$ gibt
und ein Element $a ∈ L$, sodass $f(a)=0$ ist.}.
\end{defn}
Bei der klassischen Frage nach den Lösungen von Polynomen interessiert uns unter
anderem, ob ein Polynom
\begin{equation*}
f(x) = x^n+b_1·x^{n-1} + \dots + b_{n-1}·x + b_n ∈ [x]
\end{equation*}
über dem Körper $(b_1, …, b_n)$ eine Lösung durch Radikale hat, das heißt,
ob sich zumindest eine Nullstelle von $f$ durch Kombinationen von rationalen
Zahlen, den Koeffizienten $b_i$ und (höheren) Wurzeln ausdrücken lässt -- falls
nicht, braucht man auf eine Lösungsformel gar nicht zu hoffen.
%%% Local Variables:
%%% mode: latex
%%% TeX-master: "AlgebraZahlentheorie"
%%% End: