% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Zerfällungskörper} Ich habe im vorhergehenden Kapitel immer wieder von „Symmetrie“ gesprochen und dabei als Beispiel immer nur die Konjugationsabbildung der komplexen Zahlen diskutiert. Das ist ein bisschen dünn. Wir brauchen mehr Beispiele! Tatsächlich liefert fast jedes Polynom ein interessantes Beispiel, den Zerfällungskörper. Was das ist, erkläre ich jetzt. \begin{defn}[Zerfällungskörper]\label{def:zerf}% Es sei $K$ ein Körper und es sei $f ∈ K[x]$ ein nicht-konstantes Polynom. Ein Oberkörper $L/K$ heißt \emph{Zerfällungskörper von $f$}\index{Zerfällungskörper}, falls Folgendes gilt. \begin{itemize} \item Das Polynom $f ∈ L[x]$ zerfällt in Linearfaktoren. Mit anderen Worten: es gibt Elemente $a, a_1, …, a_n ∈ L$, sodass die Gleichheit $f=a·(x-a_1)⋯(x-a_n)$ gilt. \item Mit der Notation von oben gilt $L = K(a_1, …, a_n)$. \end{itemize} \end{defn} \begin{bemerkung} Die Elemente $a_1, …, a_n$ aus Definition~\ref{def:zerf} sind genau die Nullstellen des Polynoms $f ∈ L[x]$. Insbesondere sind die Elemente $a_1, …, a_n$ eindeutig bis auf Vertauschung. \end{bemerkung} Der folgende Satz fasst die ersten Eigenschaften von Zerfällungskörpern zusammen. \begin{satz}\label{satz:13-0-3} Es sei $K$ ein Körper und es sei $f ∈ K[x]$ ein nicht-konstantes Polynom. Dann gilt Folgendes. \begin{enumerate} \item Das Polynom $f$ besitzt einen Zerfällungskörper. \item Je zwei Zerfällungskörper von $f$ sind $K$-isomorph. Genauer: Wenn $K_1/K$ und $K_2/K$ zwei Zerfällungskörper von $f$ sind, dann gibt es einen $K$-Isomorphismus $K_1 → K_2$. \item Ist $L$ ein Zerfällungskörper von $f$, dann ist $[L:K] ≤ (\deg f)!$. \end{enumerate} \end{satz} \begin{proof} \video{13-3} \end{proof} Zerfällungskörper sind also eindeutig bis auf nicht-kanonische Isomorphie. Wie schon beim algebraischen Abschluss wird deshalb häufig von „dem“ Zerfällungskörper gesprochen. \begin{bemerkung}[Kochrezept: Zerfällungskörper] Es sei $K$ ein Körper und es sei $f ∈ K[x]$ ein nicht-konstantes Polynom. Wenn ein algebraischer abgeschlossener Oberkörper $L/K$ gegeben ist, dann zeigt der Beweis von Satz~\ref{satz:13-0-3} wie man an einen Zerfällungskörper kommt. Man muss für das Polynom $f ∈ L[x]$ „lediglich“ die Nullstellen $a_1, …, a_n$ bestimmen und kann dann den Körper $K(a_1, …, a_n)$ nehmen. \end{bemerkung} Ein wichtiges Problem der Algebra(klausur/prüfung) ist es, zu einem gegebenen Körper $K$ und zu einem gegebenen Polynom $f ∈ K[x]$ den Zerfällungskörper zu bestimmen. Dabei ist mit „bestimmen“ meistens gemeint, dass man den Erweiterungsgrad des Zerfällungskörpers bestimmen und ein möglichst kleinen Satz von möglichst einfachen Erzeugern angeben soll. Meistens ist in diesen Beispielen $K = ℚ$, sodass man einen Zerfällungskörper als Teilmenge der komplexen Zahlen konstruieren wird. \begin{bsp} Es sei $K = ℚ$ und es sei $f = x²-2 ∈ ℚ[x]$. Dann ist $L = ℚ(\sqrt 2,-\sqrt2) = ℚ(\sqrt2) ⊆ ℝ$ ein Zerfällungskörper von $f$. \end{bsp} \begin{bsp} Es sei $K = ℚ$ und es sei $f = x³-2 ∈ ℚ[x]$. Betrachte die komplexe Zahl $ξ := e^{\frac{2π i}{3}}$. Dann sind die komplexen Zahlen $a_0 := \sqrt[3]{2}$, $a_1 := ξ·\sqrt[3]{2}$ und $a_2 := ξ_3²·\sqrt[3]{2}$ genau die komplexen Nullstellen von $f$. Also ein Zerfällungskörper gegeben durch \[ L = ℚ(a_0, a_1, a_2) = ℚ \Bigl(\sqrt[3]{2}, ξ \Bigr). \] Wir wissen sofort, dass \[ [L : ℚ] ≤ 3! = 6, \] ist, aber wie groß ist der Grad wirklich? Wir überlegen, dass $[ℚ \bigl(\sqrt[3]{2} \bigr) : ℚ ] = 3$. Also gilt $3| [L:Q]$ und man muss lediglich prüfen, ob $L = ℚ(\sqrt[3]{2})$ ist. Das ist aber nicht der Fall, denn $ℚ(\sqrt[3]{2}) ⊂ ℝ$ aber $ξ \not∈ ℝ$. Also ist $[L:ℚ] =6$. \end{bsp} \section{Symmetrien, schon wieder} \label{sec:13-1} \sideremark{Vorlesung 14}Ich komme zu meinem Lieblingsthema zurück. Jetzt kann ich endlich erklären, was es mit meinem ständigen Reden von „Symmetrien“ auf sich hat. \begin{situation}\label{sit:gal} Es sei $K$ ein Körper, es sei $f ∈ K[x]$ ein nicht-konstantes Polynom und es sei $L/K$ ein Zerfällungskörper von $f$. Weiter seien $a_1, …, a_n$ die Nullstellen von $f$ in $L$. \end{situation} Ich frage: wie viele $K$-Morphismen $\varphi: L → L$ gibt es? Die folgenden beiden Beobachtungen klären die Frage fast vollständig. Die Beobachtungen zeigen auch, dass es sich bei der Frage um ein kombinatorisches Problem handelt, das wohl am besten in Termen endlicher Gruppen beantwortet werden sollte. \begin{beobachtung}[$K$-Morphismen geben Permutationen]\label{beob:p1} In Situation~\ref{sit:gal} sei $\varphi: L → L$ ein $K$-Morphismus. Schreibe $f(x) = \sum b_i·xⁱ$. Wenn $a_• ∈ L$ eine der Nullstellen von $f$ ist, dann ist \begin{align*} 0 & = \varphi(0) = \varphi\Bigl(\sum b_i·a_•ⁱ \Bigr) \\ & = \sum \varphi(b_i)·\varphi(a_•)ⁱ && \text{$\varphi$ ist Körpermorphismus}\\ & = \sum b_i·\varphi(a_•)ⁱ && \text{$\varphi$ ist $K$-Morphismus und $b_i ∈ K$}\\ & = f\bigl(\varphi(a_•)\bigr). \end{align*} Wir erkennen: die Abbildung $\varphi$ bildet Nullstellen von $f$ auf Nullstellen von $f$ ab. Wir erhalten also einen Gruppenmorphismus \begin{equation}\label{eq:jtzrtt} \Bigl\{ K\text{-isomorphismen } L → L \Bigr\} → \Bigl\{ \text{Permutationen der Menge } \{ a_1, …, a_n \} \Bigr\}. \end{equation} \end{beobachtung} \begin{beobachtung}[$K$-Morphismen sind durch Permutationen eindeutig beschrieben]\label{beob:p2} In Situation~\ref{sit:gal} wissen wir schon, dass $L = K(a_1, …, a_n)$ ist. Ich kann also jedes Element $ℓ ∈ L$ als endliche Summe schreiben, \[ ℓ = \sum β_{i_1,…,i_n}·a^{i_1}_1⋯ a^{i_n}_n, \quad \text{wobei } β_{•, …, •} ∈ K. \] Wenn ich jetzt einen $K$-Morphismus $\varphi: L → L$ habe, dann ist \begin{align*} \varphi(ℓ) & = \sum \varphi(β_{i_1,…,i_n})·\varphi(a_1)^{i_1}⋯ \varphi(a_n)^{i_n} \\ & = \sum β_{i_1,…,i_n}·\varphi(a_1)^{i_1}⋯ \varphi(a_n)^{i_n}. && \text{$\varphi$ ist $K$-Morphismus und $β_• ∈ K$.} \end{align*} Wir erkennen: Der $K$-Morphismus $\varphi: L → L$ ist eindeutig dadurch festgelegt, wohin er die endlich vielen Elemente $a_1$, …, $a_n$ abbildet! Die Abbildung \eqref{eq:jtzrtt} ist also injektiv, und wir können die „Symmetriegruppe“ von $L/K$, also die Gruppe der $K$-Isomorphismen von $L$ als Untergruppe einer endlichen Permutationsgruppe auffassen. \end{beobachtung} \section{Ringadjunktion} Ich würde jetzt gern weiter über Symmetrien schreiben, weil ich das Thema so gern mag. Geht aber nicht, denn auf dem Lehrplan steht jetzt erst einmal wieder ein wenig Sprache. \begin{notation}[Polynomring in unendlich vielen Variablen] Es sei $R$ ein Ring und es sei $Λ$ eine Menge. Dann bezeichne $R\bigl[(x_λ)_{λ ∈ Λ}\bigr]$ den Polynomring in den (eventuell unendlich vielen) Variablen $(x_λ)_{λ∈ Λ}$. \end{notation} Wenn alles 100\%ig korrekt sein sollte, müsste ich an dieser Stelle den Polynomring ausführlich mithilfe einer universellen Eigenschaft definieren. Ich finde das aber arg formell und hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich das jetzt einfach mal nicht mache. Der einzig wichtige Punkt ist, dass Polynome immer \emph{endliche} Summen sind. Insbesondere treten in jedem einzelnen Polynom immer nur endlich viele Variablen auf. \begin{defn}[Ringadjunktion]\label{def:ringad} Es sei $S$ ein Ring und es sei $R ⊂ S$ ein Unterring. Weiter sei $(a_λ)_{λ∈Λ}$ eine Familie von Elementen aus $S$. Dann bezeichnet man mit $R\bigl[(a_λ)_{λ∈Λ}\bigr]$ das Bild von $R\bigl[(x_λ)_{λ∈Λ}\bigr]$ unter dem Substitutionsmorphismus \[ R\bigl[(x_λ)_{λ∈Λ}\bigr] → S, \quad f(x_{λ_1}, …, x_{λ_m}) ↦ f(a_{λ_1}, …, a_{λ_m}) \] Man sagt, der Unterring $R\bigl[(a_λ)_{λ∈Λ}\bigr] ⊂ S$ entsteht aus $R$ durch \emph{Adjunktion} der Elemente $(a_λ)_{λ∈Λ}$. Den Vorgang nennt man \emph{Ringadjunktion}\index{Ringadjunktion}. \end{defn} \begin{beobachtung} In der Situation von Definition~\ref{def:ringad} gilt: Ein Element $s ∈ S$ ist genau dann in $R\bigl[(a_λ)_{λ∈Λ}\bigr]$ enthalten, wenn es endlich viele Elemente $λ_1, …, λ_n ∈ Λ$ und eine Darstellung \[ s = \sum β_{1,…, n}·a^{i_1}_{λ_1}⋯ a^{i_n}_{λ_n}, \quad \text{mit } β_{•, …, •} ∈ K \] gibt. Genau wie bei der Körperadjunktion ist $R\bigl[(a_λ)_{λ∈Λ}\bigr]$ der kleinste Unterring von $S$, der $R$ und alle $a_λ$ enthält. \end{beobachtung} \subsection{Ringadjunktion vs.~Körperadjunktion} Gegeben eine Körpererweiterung $L/K$ und eine Teilmenge $(a_λ)_{λ∈Λ}$ von $L$, dann kann ich den Unterring $K\bigl[(a_λ)_{λ∈Λ}\bigr]$ und den Unterkörper $K\bigl( (a_λ)_{λ∈Λ} \bigr)$ vergleichen. Offenbar gilt immer \[ K ⊆ K\bigl[(a_λ)_{λ∈Λ}\bigr] ⊆ K\bigl( (a_λ)_{λ∈Λ} \bigr) ⊆ L. \] Die folgenden Sätze klären, wann Gleichheit herrscht. Die Sätze klären auch noch einmal, warum SAGE eckige Klammern verwendet und den Körper „$ℚ$ adjungiert $\sqrt{5}$“ mit \texttt{QQ[sqrt(5)]} bezeichnet. Schauen Sie sich vielleicht auch noch einmal Fußnote~\vref{foot:sage} an. \begin{satz}[Ringadjunktion vs Körperadjunktion] Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung und es sei $(a_λ)_{λ∈Λ}$ eine Teilmenge von $L$. Dann ist \begin{equation*} K \bigl( (a_λ)_{λ∈Λ} \bigr) = Q\Bigl(K\bigl[(a_λ)_{λ∈Λ}\bigr]\Bigr), \end{equation*} wobei $Q(⋯)$ den Quotientenkörper bezeichnet. \end{satz} \begin{proof} Wir wissen schon, dass $K\bigl[ (a_λ)_{λ∈Λ} \bigr]$ der kleinste Unterring des Körpers $L$ ist, der $K$ und $(a_λ)_{λ∈Λ}$ enthält. Gemäß der universellen Eigenschaft ist der Quotientenkörper der kleinste Körper, der $K\bigl[ (a_λ)_{λ∈Λ} \bigr]$ enthält, also gleich $K\bigl((a_λ)_{λ∈Λ}\bigr)$. \end{proof} \begin{satz}[Ringadjunktion vs Körperadjunktion] Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung. Ein Element $a ∈ L$ ist genau dann algebraisch, wenn $K(a) = K[a]$ ist. \end{satz} \begin{proof} Es gibt zwei Fälle. Wenn $a$ algebraisch ist, dann wissen wir schon, dass wir $K(a)$ schreiben können als \begin{equation*} K(a) = K + K·a + ⋯ + K·a^{n-1} \end{equation*} wobei $n= [a : K]$ ist. Also ist $K(a) = K[a]$. Wenn das Elemente $a$ transzendent ist, dann ist $K[x] ≅ K[a]$ kein Körper und deshalb ist $K[a] ≠ K(a)$. \end{proof} \begin{kor}[Ringadjunktion vs Körperadjunktion] Es sei $L/K$ eine Körpererweiterung und es seien $a_1, …, a_n∈ L$. Dann sind folgende Aussagen äquivalent. \begin{itemize} \item Es ist $K(a_1, …, a_n) = K[a_1, …, a_n]$. \item Alle Elemente $a_1, …, a_n$ sind algebraisch über $K$. \end{itemize} \end{kor} \begin{proof} Induktion nach $n$ und der Korollar~\vref{kor:TdA} („Transitivität der Algebraizität“). \end{proof} \begin{bemerkung}[Endlichkeit ist wichtig] Für beliebige Körpererweiterungen $L/K$ und beliebige Teilmengen $(a_λ)_{λ∈Λ} ⊂ L$ ist die Äquivalenz \begin{equation*} K\bigl( (a_λ)_{λ∈Λ} \bigr) = K\bigr[ (a_λ)_{λ∈Λ} \bigr] \quad⇔\quad\text{alle $a_λ$ sind algebraisch} \end{equation*} ganz falsch. Also sowas von falsch. \textbf{Falsch!!} Als Beispiel nehme man die ganz-und-gar-nicht-algebraische Körpererweiterung $ℂ/ℚ$ und betrachte die Menge $(λ)_{λ ∈ ℂ}$. \end{bemerkung} %%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "AlgebraZahlentheorie" %%% End: