% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Der algebraische Abschluss eines Körpers} \section{Worum geht es in diesem Teil der Vorlesung?} Wir sind immer noch an „Symmetrien vor Körpererweiterungen“ interessiert, aber ich habe ihnen bislang nicht erklärt, was ich damit meine. Das einfachste Beispiel ist vielleicht die Körpererweiterung $ℂ/ℝ$. In diesem Fall ist die relevante „Symmetrie“ die komplexe Konjugation, also die Spiegelung der komplexen Ebene an der reellen Gerade. Die komplexe Konjugation ist ein Körpermorphismus $ℂ → ℂ$ (sogar ein Isomorphismus) mit der interessanten Eigenschaft, dass die reellen Zahlen genau diejenigen Punkte der komplexen Ebene sind, die durch die Konjugationsabbildung auf sich selbst abgebildet werden. Um diese Beobachtung zu verallgemeinern, müssen wir zuerst den Zusammenhang von $ℂ$ und $ℝ$ vom höheren Standpunkt aus verstehen. Warum ist die Erweiterung $ℂ/ℝ$ so wichtig? Wenn ich statt $ℝ$ einen anderen Körper betrachte (zum Beispiel $𝔽_p(X)$), welcher Körper würde dann die Rolle von $ℂ$ spielen? Die Antwort kommt aus der Vorlesung „Analysis“ oder „Funktionentheorie“. Dort beweist man mit analytischen Methoden, dass jedes Polynom $f ∈ ℝ[x]$ eine komplexe Nullstelle besitzt -- und auch jedes komplexe Polynom $f ∈ ℝ[x]$ besitzt eine komplexe Nullstelle. Das führt dazu, dass jedes Polynom in $ℂ[x]$ als Produkt von linearen Polynome geschrieben werden kann. Man sagt: „Die komplexen Zahlen sind algebraisch abgeschlossen.“ Wir werden später sehen, was diese Eigenschaft mit Symmetrie zu tun hat. \begin{frage} Es sei $K$ ein Körper. Gibt es dann einen algebraisch abgeschlossenen Oberkörper? Falls ja, gibt es unter allen algebraisch abgeschlossenen Oberkörpern eine besonders gute oder besonders einfache Wahl? \end{frage} Der folgende Satz beantwortet die bescheidenere Frage, ob ein einzelnes gegebenes Polynom $f ∈ K[x]$ immer eine Nullstelle in einem geeigneten Oberkörper hat. \begin{satz}\label{satz:12-1-2} Sei $K$ ein Körper und $f∈ K[x]$ ein nicht-konstantes Polynom. Dann gibt es einen Oberkörper $L ⊃ K$, in dem $f$ eine Nullstelle hat. Genauer: es sei $g$ ein nicht-konstanter irreduzibler Faktor von $f$. Dann hat $g$ im Körper $L := K[x]/(g)$ eine Nullstelle. \end{satz} Der Beweis von Satz~\ref{satz:12-1-2} ist eine große Tautologie, verwirrt Studentinnen und Studenten oft. Ich diskutiere vor dem Beweis deshalb erst noch ein kleines Beispiel. \begin{erkl} Das Polynom $x²+1 ∈ ℝ[x]$ hat keine Nullstelle in $ℝ$, aber es hat eine Nullstelle in $ℂ$, nämlich die Zahl $i$; wir wissen natürlich auch noch, dass $x²+1$ das Minimalpolynom von $i$ ist. Die Substitutionsabbildung \begin{equation*} φ : ℝ[x] → ℂ, \quad g ↦ g(i) \end{equation*} hat als Kern genau das Ideal $(x²+1)$, und liefert uns daher einen Isomorphismus \[ ℂ ≅ \factor{ℝ[x]}{(x²+1)}. \] Das Element $i ∈ ℂ$ entspricht dabei der Restklasse \[ a := x+(x²+1) ∈ \factor{ℝ[x]}{(x²+1)}. \] Der Beweis von Satz~\ref{satz:12-1-2} kehrt diese Beobachtung um. Dort definiert man $L := K[x]/(g)$ und stellt fest, dass die Restklasse \[ a := x+(g) ∈ \factor{K[x]}{(g)} \] tautologisch eine Nullstelle des Polynoms $g ∈ K[x] ⊂ L[x]$ ist. \end{erkl} \begin{proof} \video{12-2} \end{proof} \section{Definition} \sideremark{Vorlesung 13}Nach den Vorbemerkungen definieren wir jetzt präzise, was ein algebraisch abgeschlossener Körper, und was ein algebraischer Abschluss wirklich sein soll. \begin{satzdef}[Algebraisch abgeschlossener Körper] Es sei $K$ ein Körper. Dann sind die folgenden Eigenschaften äquivalent. \begin{enumerate} \item Jedes nicht-konstante Polynom $f ∈ K[x]$ hat eine Nullstelle in $K$. \item Jedes nicht-konstante Polynom $f ∈ K[x]$ zerfällt in $K[x]$ in Linearfaktoren. Mit anderen Worten: $f$ ist als Produkt von linearen Polynomen aus $K[x]$ darstellbar. \item Jedes irreduzible Polynom $f ∈ K[x]$ ist linear. \item Ist $L/K$ eine algebraische Körpererweiterung, dann gilt $L=K$. \end{enumerate} Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, nennt man $K$ \emph{algebraisch abgeschlossen}\index{algebraisch abgeschlossener Körper}. \end{satzdef} \begin{proof} \video{13-1} \end{proof} \begin{bsp} In der Analysis oder Funktionentheorie beweist man, dass der Körper $ℂ$ algebraisch abgeschlossen ist. \end{bsp} \begin{bsp} Wenn $L$ ein algebraisch abgeschlossener Körper ist und $K⊂ L$ ein Unterkörper, dann ist der aus Satz und Definition~\vref{satzdef:aaieO} bekannte algebraische Abschluss von $K$ in $L$, \[ \overline{K} := \{ a ∈ L \::\: a \text{ ist algebraisch über } K \} \] selbst algebraisch abgeschlossen. Insbesondere ist $\overline{ℚ}$, die Menge der algebraischen Zahlen, ein algebraisch abgeschlossener Körper. Um zu erkennen, dass $\overline{K}$ tatsächlich algebraisch abgeschlossen ist, sei $f ∈ \overline{K}[x]$ ein nicht-konstantes Polynom. Weil $L$ algebraisch abgeschlossen ist, hat $f$ eine Nullstelle in $a∈ L$. Das Element $a$ ist logischerweise algebraisch über $\overline{K}$ und deshalb wegen Korollar~\vref{kor:TdA} („Transitivität der Algebraizität“) auch algebraisch über $K$. Also ist $a∈\overline{K}$. \end{bsp} \begin{defn}[Algebraischer Abschluss eines Körpers]\label{def:aAeK} Es sei $K$ ein Körper. Ein Oberkörper $L/K$ heißt \emph{algebraischer Abschluss von $K$}\index{Algebraischer Abschluss!eines Körpers}, wenn Folgendes gilt. \begin{enumerate} \item Die Körpererweiterung $L/K$ ist algebraisch. \item Der Körper $L$ ist algebraisch abgeschlossen. \end{enumerate} \end{defn} \begin{bsp} Der Körper $ℂ$ ist ein algebraischer Abschluss von $ℝ$. Der Körper der algebraischen Zahlen, $\overline{ℚ}$ ist ein algebraischer Abschluss $ℚ$. \end{bsp} \begin{warnung}[``Algebraischer Abschluss'' und ``Algebraischer Abschluss in Oberkörper''] Ich wiederhole Warnung~\vref{war:ababio}. Verwechseln Sie die Definitionen~\ref{satzdef:aaieO} und \ref{def:aAeK} nicht! \end{warnung} \section{Existenz} Wie zeigt man, dass ein algebraischer Abschluss existiert? Die Idee ist natürlich, Satz~\ref{satz:12-1-2} für alle Polynome in $K[x]$ auf einmal anzuwenden und so sicherzustellen, dass jedes Polynom eine Nullstelle hat. Das ist aber nicht so einfach: denn wenn ich den Körper durch Hinzunahme von Polynomen größer mache, gibt es neue Polynome, die ebenfalls Nullstellen haben müssen. In einem normalen Jahr würde mithilfe von Zorn's Lemma\footnote{Zorn's Lemma = eine Variante des Auswahlaxioms} zeigen, dass diese naive Idee tatsächlich trägt. Weil das Semester in diesem Jahr deutlich kürzer ist, muss an dieser Stelle auf einen Beweis verzichten. Der folgende Satz ist als Satz von Steinitz\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Steinitz}{Ernst Steinitz} (* 13.~Juni 1871 in Laurahütte, Oberschlesien; † 29.~September 1928 in Kiel) war ein deutscher Mathematiker.} bekannt. \begin{satz}[Existenz des Algebraischen Abschluss]\label{Satz_von_Steinitz} Jeder Körper besitzt einen algebraischen Abschluss. \qed \end{satz} \section{Eindeutigkeit, aber nicht zu sehr} Als Nächstes müssen wir diskutieren, inwieweit ein algebraischer Abschluss eindeutig ist. Wie immer folgt die Eindeutigkeit aus einer universellen Eigenschaft. Den folgenden Begriff hatten wir oben schon informell unter dem Schlagwort „Symmetrien einer Körpererweiterung“ diskutiert. \begin{definition}[$K$-Morphismus] Es seien $R$ und $S$ Oberringe desselben Unterringes $K$. Ein Ringmorphismus $\varphi : R → S$ heißt \emph{$K$-Morphismus}\index{$K$-Morphismus}, wenn $\varphi|_K = \Id_K$ ist. \end{definition} \begin{bsp} Betrachte die Körpererweiterung $ℂ/ℝ$. Die komplexe Konjugation $\varphi: ℂ → ℂ$ ist ein $ℝ$-Morphismus von $ℂ$ nach $ℂ$. \end{bsp} Der folgende Satz beschreibt die universelle Eigenschaft des algebraischen Abschluss. Dieser Satz ist absolut zentral für die kommende Diskussion; er ist der eigentliche Grund, warum Galois-Theorie überhaupt funktioniert. Wieder werde ich den Satz aus Zeitgründen nicht beweisen. \begin{satz}[Universelle Eigenschaft des algebraischen Abschluss]\label{Satz_K_Morphismus_Fortsetzung} Es sei $K$ ein Körper und es sei $\overline{K}$ ein algebraischer Abschluss von $K$. Zusätzlich seien weitere algebraische Körpererweiterungen $K ⊆ L_0 ⊆ L$ von $K$ gegeben, sowie ein $K$-Morphismus \begin{equation*} \varphi_0 : L_0 → \overline{K}. \end{equation*} Dann existiert eine Fortsetzung von $\varphi_0$ zu einem $K$-Morphismus $\varphi : L → \overline{K}$. Mit anderen Worten: es existiert ein $K$-Morphismus $\varphi : L → \overline{K}$, sodass $\varphi|_{L_0} = \varphi_0$ ist. \qed \end{satz} \begin{bsp} Es sei $K = L_0 = ℝ$, es sei $\overline{K} = L = ℂ$. Weiter sei $\varphi_0 : ℝ → ℝ$ die Identität. Dann gibt es \emph{zwei} Fortsetzungen von $\varphi_0$ zu einem $ℝ$-Morphismus $\varphi: ℂ → ℂ$; wir können für $\varphi$ einerseits die Identität nehmen, andererseits ist auch die Konjugationsabbildung möglich. \end{bsp} Als Konsequenz der universellen Eigenschaft erhalten wir die Eindeutigkeit des algebraischen Abschlusses bis auf nicht-kanonische Isomorphie. Obwohl die Isomorphie nicht kanonisch ist, spricht man in der Literatur häufig nicht ganz korrekt von „dem“ algebraischen Abschluss. \begin{kor}[Eindeutigkeit des alg.~Abschluss bis auf nicht-kanonische Isomorphie]\label{cor:edaa} Es sei $K$ ein Körper und es seien $\overline{K}_1$ und $\overline{K}_2$ zwei algebraische Abschlüsse. Dann gibt es einen $K$-Isomorphismus $K_1 → K_2$. \end{kor} \begin{proof} \video{13-2} \end{proof} \begin{bsp} Es sei $K = ℝ$, es sei $\overline{K}_1 = \overline{K}_2 = ℂ$. Dann sehe ich sofort zwei $K$-Isomorphismen $K_1 → K_2$, nämlich die Identität und die Konjugationsabbildung. \end{bsp} Ich wiederhole noch einmal: Die nicht-Eindeutigkeit der Abbildung $\varphi$ aus Satz~\ref{Satz_K_Morphismus_Fortsetzung} und nicht-Kanonizität der Abbildung aus Korollar~\ref{cor:edaa} sind der Grund dafür, warum die Diskussion von „Symmetrie“ überhaupt sinnvoll ist. Das ist ganz anders als bei dem Quotientenkörper! %%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "AlgebraZahlentheorie" %%% End: