% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Auflösung von Gleichungen durch Radikale} \label{chap:23} \sideremark{Vorlesung 24}Ich möchte in dieser Vorlesung die Frage aus Kapitel~\ref{sec:4} beantworten: gegeben ein Körper $K$ ein Körper und ein Polynom $f ∈ K[x]$. Gibt es dann eine Möglichkeit, wenigstens eine der Nullstellen von $f$ in der Form \begin{equation*} \sqrt[n_1]{\sqrt[n_2]{…}+\sqrt[n_3]{…}}+\sqrt[n_4]{…} \end{equation*} schreiben? In der Sprache von Kapitel~\ref{sec:4}: ist die Gleichung $f(x)=0$ durch Radikale auflösbar? Gibt es eine Radikalerweiterung $L/K$, sodass $f$ in $L$ eine Nullstelle hat? Die Antwort hängt natürlich mit der Galoisgruppe von $f$ zusammen, der Zusammenhang soll in dieser Vorlesung beschrieben werden. \begin{satz}\label{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins} Es sei $K$ ein Körper der Charakteristik 0 und es sei $f ∈ K[x]$ ein Polynom. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent. \begin{enumerate} \item\label{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins_1} Das Polynom $f$ ist über $K$ durch Radikale lösbar. \item\label{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins_2} Die Galoisgruppe $\Gal{f}$ ist auflösbar. \end{enumerate} \end{satz} Wir werden Satz~\ref{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins} am Ende dieses Kapitels im Abschnitt~\ref{sec:almostlast} beweisen. Zuerst möchte ich aber noch zwei Korollare vorstellen. \begin{kor} Es sei $K$ ein Körper der Charakteristik 0 und es sei $f ∈ K[x]$ vom Grad $\deg f ≤ 4$. Dann ist $f$ durch Radikale lösbar. \end{kor} \begin{proof} Jede Untergruppe von $S_4$ ist auflösbar. \end{proof} \begin{kor}[Korollar von Galois] Das Polynom $f = x⁵-4·x+2 ∈ ℚ[x]$ ist \emph{nicht} durch Radikale auflösbar. Insbesondere gibt es keine Lösungsformel für Polynome vom Grad $≥ 5$. \end{kor} \begin{proof} Das Polynom $f$ ist ein Eisenstein-Polynom, also irreduzibel. Analytische Überlegungen zeigen, dass $f$ genau drei reelle Nullstellen $n_1$, $n_2$ und $n_3$ sowie zwei komplexe Nullstellen $n_4$, $n_5$ hat. Wir fassen die Galoisgruppe als Untergruppe der Permutationsgruppe \[ S_5 = \text{Permutationen von } \{ n_1, …, n_5 \} \] auf. Folgendes können wir sofort sagen. \begin{itemize} \item Die Gruppenordnung ist ein Vielfaches der Zahl 5. Also existiert nach dem Satz von Cauchy, Satz~\vref{Satz_von_Cauchy}, ein Element $σ_5$ von Ordnung 5, also ein 5-Zykel. \item Die komplexen Nullstellen sind zueinander konjugiert. Die komplexe Konjugation liefert deshalb einen Automorphismus des Zerfällungskörpers, der die drei reellen Nullstellen fixiert und die beiden komplexen Nullstellen vertauscht. Dies ist ein Element $σ_2$ der Ordnung 2, also eine Transposition. \end{itemize} Zeigen Sie jetzt als Hausaufgabe, dass die von $σ_5$ und $σ_2$ erzeugte Untergruppe der Permutationsgruppe $S_5$ bereits ganz $S_5$ ist. Mit anderen Worten: jede Permutation aus $S_5$ kann durch die Transposition $σ_2$ und den Zykel $σ_5$ dargestellt werden. Also ist die $\Gal f = S_5$, aber diese Gruppe ist nicht auflösbar. \end{proof} \section{Reine Polynome und zyklische Galoiserweiterungen} Um die zentrale Idee zu illustrieren, erkläre ich den Zusammenhang zwischen den Fragen: „Ist $f$ durch Radikale auflösbar?“, und „Wie sieht die Galoisgruppe von $f$ aus?“ zuerst im besonders einfachen Fall von „reinen“ Polynomen, bei denen die Nullstellen ganz offenbar Wurzeln sind. \begin{defn}[Reines Polynom] Es sei $K$ ein Körper. Ein Polynom $f ∈ K[x]$ heißt \emph{rein}\index{reines Polynom}\index{Polynom!reines}, wenn es $n ∈ ℕ$ und $a ∈ K$ gibt, sodass $f(x) = x^n-a$ ist. \end{defn} \begin{bemerkung}[Separabilität von reinen Polynomen] Es sei $K$ ein Körper und es sei $n ∈ ℕ^{>0}$ eine Zahl. Wenn $\operatorname{char}K = 0$ ist oder wenn $\operatorname{char}K \nmid n$ ist, dann sind alle reinen Polynomen der Form $x^n-a$ separabel. \end{bemerkung} \begin{satz}[Reine Polynome und zyklische Galoiserweiterungen]\label{Satz_Aufloesen_von_Gleichungen_Eins} Es sei $K$ ein Körper und es sei $n ∈ ℕ^{>0}$ eine Zahl. Falls $\operatorname{char} K = p > 0$ ist, nehmen wir noch an, dass $p\nmid n$ ist. Wenn $K$ alle $n$.ten Einheitswurzeln enthält, dann gilt Folgendes. \begin{enumerate} \item\label{Satz_Aufloesen_von_Gleichungen_Eins_1} Für jedes $a ∈ K^*$ ist die Galoisgruppe des reinen Polynoms $f=x^n-a∈ K[x]$ zyklisch. \item\label{Satz_Aufloesen_von_Gleichungen_Eins_2} Wenn $L/K$ eine Galoiserweiterung mit Galoisgruppe $\Gal(L/K) ≅ ℤ/(n)$ ist, dann gibt es ein $a ∈ L$ mit $L = K(a)$ und $a^n ∈ K$. \end{enumerate} \end{satz} \begin{proof}[Beweis von \vref{Satz_Aufloesen_von_Gleichungen_Eins_1}] \video{24-1}. (Verbesserte Version vom 03Feb21). \end{proof} \begin{proof}[Beweis von \vref{Satz_Aufloesen_von_Gleichungen_Eins_2}] \video{24-2} \end{proof} \section{Radikalerweiterungen von Galoiserweiterungen} Unsere Debatte krankt noch an einer wesentlichen Stelle: in der Definition von „Radikalerweiterung“, Definition~\vref{def:radikal}, fordern wir \emph{nicht}, dass Radikalerweiterungen Galoisch sind\footnote{Das ging auch gar nicht, weil Galoiserweiterungen erst im Kapitel~\ref{chap:15} eingeführt wurden.}. Der folgende Satz behebt diesen Mangel. \begin{satz}\label{Satz_Subsection_Einundzwanzig_Zwei}\label{satz:23.2.1} Sei $K$ ein Körper der Charakteristik 0 und $L/K$ eine Radikalerweiterung. Dann existiert eine Körpererweiterung $L'/L$, sodass \begin{enumerate} \item $L'/K$ Galoisch ist. \item $L'/K$ eine Radikalerweiterung ist, \end{enumerate} \end{satz} \begin{proof} \video{24-3} \end{proof} \begin{bemerkung}[Noch einmal: was bedeutet ``Auflösbarkeit durch Radikale''] Es sei $K$ ein Körper der Charakteristik 0 und es sei $f ∈ K[x]$ ein irreduzibles Polynom. Angenommen, $f$ sei durch Radikale auflösbar. Nach Definition~\vref{def:gidra} bedeutet das, dass es eine Radikalerweiterung $L/K$ gibt, in der $f$ \emph{eine} Nullstelle hat. Satz~\ref{satz:23.2.1} sagt, dass es eine größere Radikalerweiterung $L'/K$, sodass $f$ über $L'$ in Linearfaktoren zerfällt. Also gibt es eine Radikalerweiterung, die \emph{alle} Nullstellen von $f$ enthält. Kurz gesagt: wenn $f$ irreduzible ist und \emph{eine} Nullstelle als „Wurzelausdruck“ geschrieben werden kann, dann können \emph{alle} Nullstellen als Wurzelausdruck geschrieben werden. \end{bemerkung} \begin{bemerkung}[Noch einmal: das Konstruktionsproblem]\label{bem:nedkp} Es sei $\{0,1 \} ⊂ M ⊂ ℂ$ eine Menge und es sei $z ∈ ℂ$ eine komplexe Zahl, die aus $M$ mit Zirkel uns Lineal konstruierbar ist\footnote{Mit anderen Worten: es sei $z ∈ \Kons(M)$.}. Betrachten Sie den Körper $K := ℚ(M∪\overline{M})$ und erinnern Sie sich noch einmal an die Hausaufgabe, die wir in Satz~\vref{Satz_von_Seite_69} zusammengefasst haben: Der Körper $L := K(z)$ entsteht als Folge von quadratischen Erweiterungen, \[ L = L_m ⊃ L_{m-1}⊃ ⋯ ⊃ L_1⊃ L_0 = K. \] Schauen Sie sich den Beweis von Satz~\ref{Satz_Subsection_Einundzwanzig_Zwei} noch einmal scharf an und erkennen Sie, dass dann auch $L'/K$ eine Folge von quadratischen Erweiterungen ist, denn \begin{equation*} g=\prod_{\varphi∈ G} \bigl(x²-\varphi(b²) \bigr) \end{equation*} ist ein Produkt von quadratischen Polynomen. Der Erweiterungsgrad $[L':K]$ ist also eine Zweierpotenz. Als Nächstes sei $N$ der Zerfällungskörper des Minimalpolynoms von $z$ über $K$. Anders gesagt: $N$ sei die normale Hülle der Körpererweiterung $L/K$. Dann ist $N$ ein Unterkörper von $L'$ und hat deshalb nach der Gradformel, Satz~\vref{satz:3-6-1}, ebenfalls eine Zweierpotenz als Grad. Erkennen Sie, dass wir damit Bemerkung~\ref{rem:svs197} bewiesen haben: Das Kriterium für die Konstruierbarkeit von Punkten aus Satz~\ref{Satz_von_Seite_197} ist notwendig \emph{und} hinreichend! \end{bemerkung} \begin{proof}[Beweisidee] Nach dem Hauptsatz der Galoistheorie (\vref{Satz_Hauptsatz_Galoistheorie}) entsprechen Ketten von Unterkörpern von $L/K$ (wobei $L$ der Zerfällungskörper von $f$ ist) Ketten von Untergruppen von $\Gal(L/K) = \Gal f$. Zyklische Gruppen entsprechen dabei der Adjunktion einer Wurzel $\sqrt[n]{a}$ -- zumindest dann, wenn es genügend viele Einheitswurzeln gibt. \end{proof} \section{Beweis von Satz~\ref*{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins}} \label{sec:almostlast} Vor dem Beweis von Satz~\ref{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins} noch zwei Vorüberlegungen. \begin{claim-de}\label{Vorueberlegung_1}% Wenn $L/K$ eine Galoiserweiterung ist und $ξ ∈ \overline{L}$ eine primitive $n$.te Einheitswurzel, dann sind auch $L(ξ)/K$ und $L(ξ)/K(ξ)$ Galoisch. Denn wenn wir $L$ als Zerfällungskörper eines Polynoms $g ∈ K[x]$ schreiben, dann ist $L(ξ)$ der Zerfällungskörper des Polynoms $g·(x^n-1) ∈ K[x]$. Also ist $L(ξ)/K$ Galoisch und die Zwischenerweiterung $L(ξ)/K(ξ)$ ebenfalls. \end{claim-de} \begin{claim-de}\label{Vorueberlegung_2}% Wenn $ξ$ eine primitive $n$.te Einheitswurzel über $K$ ist und $n=m·l$, dann ist $ξ^l$ eine primitive $m$.te Einheitswurzel. Die Elemente $ξ^l$, $ξ^{2l}$, …, $ξ^{m· l}$ sind paarweise verschieden. \end{claim-de} \begin{proof}[Beweis der Implikation $\ref{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins_1} ⇒ \ref{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins_2}$] \video{24-4} \end{proof} \begin{proof}[Beweis der Implikation $\ref{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins_2} ⇒ \ref{Theorem_Unterkapitel_Einundzwanzig_Eins_1}$] \video{24-5} \end{proof} %%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "AlgebraZahlentheorie" %%% End: