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\chapter{Bilinearformen und Sesquilinearformen}
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\label{sec:bskalar}
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\section{Bilinearformen und Skalarprodukte}
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\label{sec:skalar}
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\sideremark{Vorlesung 8}Der Name ``Standardskalarprodukt'' sagt es schon: es
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gibt noch andere Skalarprodukte. Das Ziel dieses Abschnittes ist es,
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Skalarprodukte (und später auch Hermitesche Produkte) ganz allgemein einzuführen
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und zu diskutieren. Hier kommen alle relevanten Definitionen.
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\begin{defn}[Bilinearformen]\label{def:6-1-1}
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Es sei $k$ ein Körper und $V$ ein $k$-Vektorraum. Eine Abbildung
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$b: V ⨯ V → k$ heißt \emph{bilinear}\index{bilineare Abbildung} oder
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\emph{Bilinearform}\index{Bilinearform}, falls Folgendes gilt.
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\begin{description}
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\item[Linearität in der ersten Komponente] Für alle
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$\vec{x}, \vec{y}, \vec{z} ∈ V $ und für alle $λ ∈ k$ gilt
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\[
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b(\vec{x} + λ·\vec{y}, \vec{z}) = b(\vec{x}, \vec{z}) +
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λ·b(\vec{y}, \vec{z}).
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\]
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\item[Linearität in der zweiten Komponente] Für alle
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$\vec{x}, \vec{y}, \vec{z} ∈ V$ und für alle $λ ∈ k$ gilt
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\[
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||
b(\vec{x}, \vec{y} + λ \vec{z}) = b(\vec{x}, \vec{y}) +
|
||
λ·b(\vec{x}, \vec{z}) .
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\]
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\end{description}
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\end{defn}
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\begin{beobachtung}[Bilinearformen bilden einen $k$-Vektorraum]\label{bem:6-1-2}
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Wenn ich eine Bilinearform mit einem Skalar multipliziere, erhalte ich eine
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neue Bilinearform. Ebenso kann ich zwei Bilinearformen zu einer neuen
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Bilinearform addieren. Die Menge der bilinearen Abbildungen bildet mit diesen
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Verknüpfungen einen $k$-Vektorraum.
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\end{beobachtung}
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\begin{bsp}[Matrizen geben bilineare Abbildungen]\label{bsp:mgba}
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Betrachte den Vektorraum $V = k^n$ und wähle eine beliebige
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$n ⨯ n$-Matrix $B$. Dann ist die Abbildung
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\[
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b : k^n ⨯ k^n → k, \quad (\vec{v},\vec{w}) ↦
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\vec{v}^{\:t}·B·\vec{w}
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\]
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bilinear, wobei $•^t$ die Transponierte von $•$ ist\footnote{Ich
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bin nicht mehr sicher, ob ich in der Vorlesung LA1 $•^t$ oder
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$^t•$ geschrieben habe. Beim Tippen schaut $•^t$ viel besser
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aus.}. Beachte dazu, dass $\vec{w}$ und $B·\vec{w}$ Spaltenvektoren sind,
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und dass $\vec{v}^t$ ein Zeilenvektor ist. Das Produkt von einem Zeilenvektor
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mit einem Spaltenvektor ist eine $1⨯ 1$-Matrix; die Definition von $b$
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ist so zu verstehen, dass wir $1⨯ 1$-Matrizen mit den Skalaren
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identifizieren.
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\end{bsp}
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\begin{defn}[Symmetrische Bilinearform]
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Annahmen wie in Definition~\ref{def:6-1-1}. Eine Bilinearform
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$b : V ⨯ V → k$ heißt
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\emph{symmetrisch}\index{Bilinearform!symmetrisch}, falls für alle $\vec{x}$,
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$\vec{y} ∈ V$ die Gleichung $b(\vec{x}, \vec{y}) = b(\vec{y}, \vec{x})$
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gilt.
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\end{defn}
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\begin{beobachtung}[Symmetrische Bilinearformen bilden einen $k$-Vektorraum]\label{bem:6-1-4}
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Ganz wie in Bemerkung~\ref{bem:6-1-4} bildet die Menge der symmetrischen
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Bilinearformen einen Untervektorraum des Vektorraumes aller Bilinearformen.
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\end{beobachtung}
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\begin{bsp}[Symmetrische Matrizen geben symmetrische bilineare Abbildungen]\label{bsp:smgsA}
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Erinnern Sie sich an die Rechenregeln für ``transponieren'' und
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``Matrixprodukt''. Wenn eine $n⨯ n$-Matrix $B$ die Gleichung $B^t=B$
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erfüllt, dann gilt für alle Vektoren $\vec{v}$ und $\vec{w}$ aus $k^n$, dass
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\[
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\Bigl(\vec{v}^{\:t}·B·\vec{w}\Bigr)^t = \vec{w}^{\:t}·B^t·\vec{v}^{\:tt} =
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||
\vec{w}^{\:t}·B^t·\vec{v}.
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||
\]
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Folgern Sie, dass die Bilinearform $b$ aus Beispiel~\ref{bsp:mgba} genau dann
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symmetrisch ist, wenn die Gleichung $B^t=B$ gilt. Matrizen mit dieser
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Eigenschaft nennt man
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\emph{symmetrisch}\index{Matrix!symmetrisch}\index{symmetrische Matrix}.
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\end{bsp}
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\begin{defn}[Positive (semi)definite symmetrische Bilinearform]\label{defn:6-1-5}
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Es sei $k=ℝ$ oder $k=ℚ$ und $V$ ein $k$-Vektorraum. Weiter sei $b$ eine
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symmetrische Bilinearform auf $V$. Nenne $b$ \emph{positiv
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semidefinit}\index{Bilinearform!positiv semidefinit}\index{positiv
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semidefinit} falls für alle $\vec{x} ∈ V$ die Ungleichung
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$b(\vec{x}, \vec{x}) ≥ 0$ gilt. Nenne $b$ \emph{positiv
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definit}\index{Bilinearform!positiv definit}\index{positiv definit} falls
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zusätzlich für alle $\vec{x} ∈ V$ gilt:
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$b(\vec{x}, \vec{x}) = 0 ⇔ \vec{x} = \vec{0}$.
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\end{defn}
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\begin{beobachtung}[Positive (semi)definite Bilinearformen gibt es nur über $ℚ$ und $ℝ$]
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Die Begriffe ``positiv semidefinit'' und ``positiv definit'' sind nur für
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$k = ℝ$ und $k = ℚ$ sinnvoll (und für andere Körper zwischen $ℚ$ und $ℝ$)! Bei anderen Körpern (etwa $k = ℂ$) ist
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gar nicht klar, was die Aussage ``$b(\vec{x}, \vec{x}) ≥ 0$'' bedeuten soll.
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\end{beobachtung}
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\begin{beobachtung}[Positive (semi)definite Bilinearform bilden keinen Vektorraum]
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Unter den Annahmen von Definition~\ref{defn:6-1-5} bildet die Menge der
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positiv definiten Bilinearformen bildet \emph{keinen} Untervektorraum des
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Raumes der symmetrischen Bilinearformen. Multiplizieren Sie eine gegebene
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positiv definite Bilinearform mit der Zahl $-12$ um zu sehen, was schiefläuft.
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\end{beobachtung}
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\begin{bsp}[Positiv (semi)definite Matrizen]
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Betrachte Beispiel~\ref{bsp:mgba} für $k=ℝ$, $n=2$ und die Matrizen
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\[
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\begin{pmatrix}
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||
-1 & 0 \\ 0 & 2
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||
\end{pmatrix}, \quad
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\begin{pmatrix}
|
||
0 & 0 \\ 0 & 2
|
||
\end{pmatrix}, \quad
|
||
\begin{pmatrix}
|
||
π & 0 \\ 0 & 2
|
||
\end{pmatrix}, \quad
|
||
\begin{pmatrix}
|
||
π & -e \\ \frac{-256}{257} & 2
|
||
\end{pmatrix}
|
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\]
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||
Die entsprechenden Bilinearformen sind ``nicht positiv semidefinit'',
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``positiv semidefinit'', ``positiv definit'' und … ?
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\end{bsp}
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\begin{defn}[Skalarprodukt auf reellem Vektorraum]
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Es sei $k=ℝ$ oder $k=ℚ$ und $V$ ein $k$-Vektorraum. Ein
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Skalarprodukt\index{Skalarprodukt!für reelle Vektorräume} auf $V$ ist eine
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positiv definite symmetrische Bilinearform.
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\end{defn}
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\begin{bsp}[Standardskalarprodukt, Einschränkung]
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Das Standardskalarprodukt auf dem $ℝ^n$ ist ein Skalarprodukt. Es sei $V$ ein
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reeller Vektorraum und $\langle •, • \rangle$ sei ein
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Skalarprodukt. Wenn $W ⊂ V$ ein Untervektorraum ist, dann ist
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$\langle •, • \rangle|_{W⨯ W}$ wieder ein Skalarprodukt.
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\end{bsp}
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\begin{bsp}[Integration]\label{bsp:Integration}
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Es sei $k = ℝ$ und es sei $V = \cC⁰([0,1], ℝ)$ der Vektorraum der
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reellwertigen stetigen Funktionen auf dem Einheitsintervall $[0,1] ⊂ ℝ$, wie
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in der Vorlesung ``Analysis 1'' diskutiert. Die Abbildung
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\[
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||
\langle •, • \rangle : V ⨯ V → ℝ, \quad (f, g) ↦ \int¹_0 f(t) · g(t) dt.
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\]
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ist ein Skalarprodukt.
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\end{bsp}
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\subsection{Beschreibung von Bilinearformen durch Matrizen}
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Die Überschrift sagt schon, worum es geht: wir wollen in diesem Abschnitt
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Bilinearformen beschreiben, indem wir jeder Form eine Matrix zuordnen.
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Didaktisch ist das eine Katastrophe -- wir haben in der Vorlesung ``Lineare
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Algebra I'' jeder linearen Abbildung eine Matrix zugeordnet. Und jetzt machen
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wir das mit Bilinearformen? Kurz gesagt: ``Ja!''
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Lassen Sie sich nicht verwirren. Wir haben zwei völlig unterschiedliche Arten
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von Objekten (``Lineare Abbildung'', ``Bilinearformen''), die gar nichts
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miteinander zu tun haben. Dennoch lassen sich beide Objekte durch Matrizen
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beschreiben. Das gibt es im Leben öfter.
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\begin{quote}
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``Velociraptoren'' sind etwas ganz anderes als ``romantische Gefühle'', auch
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wenn beide Menschen verzehren. Dennoch lassen sich sowohl ``Velociraptoren''
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als auch ``romantische Gefühle'' recht gut durch Bytestrings beschreiben
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(vergleiche etwa \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Velociraptor}{hier} und
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\href{https://www.youtube.com/watch?v=7h3q9-FcoOM}{hier}).
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\end{quote}
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Wir betrachten die folgende Situation.
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\begin{situation}\label{sit:6-3-1}
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Es sei $k$ ein Körper und es sei $V$ ein endlich-dimensionaler $k$-Vektorraum,
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mit angeordneter Basis $B := \{\vec{v}_1, …, \vec{v}_n\}$. Die zugehörende
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Koordinatenabbildung bezeichnen wir wie immer mit $φ_B : V → k^n$.
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\end{situation}
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\begin{konstruktion}[Bilinearformen zu Matrizen]\label{cons:6-3-2}
|
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In Situation~\ref{sit:6-3-1} sei eine Bilinearform $b : V ⨯ V → k$
|
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gegeben. Dann betrachte die $n⨯n$-Matrix
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\[
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||
\Mat_B(b) := \bigl( b(\vec{v}_i, \vec{v}_j) \bigr)_{1 ≤ i,j ≤ n}
|
||
\]
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||
\end{konstruktion}
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\begin{konstruktion}[Matrizen zu Bilinearformen]\label{cons:6-3-3}
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In Situation~\ref{sit:6-3-1} sei eine $n⨯n$-Matrix $A$ gegeben. Dann betrachte
|
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die Bilinearform
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\[
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||
s_B(A) : V ⨯ V → k,\quad (\vec{v}, \vec{w}) ↦
|
||
φ_B(\vec{v})^t·A·φ_B(\vec{w})
|
||
\]
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||
\end{konstruktion}
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\begin{aufgabe}
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Rechnen Sie nach, dass die Konstruktionen~\ref{cons:6-3-2} und
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\ref{cons:6-3-3} zueinander inverse Isomorphismen von $k$-Vektorräumen
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liefern!
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\[
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\begin{tikzcd}
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||
\text{$n⨯n$-Matrizen} \arrow[r, bend left, "s_B"] & \text{Bilinearformen} \arrow[l, bend left, "\Mat_B"]
|
||
\end{tikzcd}
|
||
\]
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||
Damit beweisen Sie unter anderem folgendes: gegeben Zahlen $a_{ij}$, dann gibt
|
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es genau eine Bilinearform $b$, so dass für alle $i,j$ gilt, dass
|
||
$b(\vec{v}_i, \vec{v}_j) = a_{ij}$ ist. So eine Rechnung hatten wir schon,
|
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als es darum ging, jeder linearen Abbildung eine Matrix zuzuordnen.
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||
\end{aufgabe}
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\begin{beobachtung}
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||
Die Isomorphismen $s_B$ und $\Mat_B$ liefern durch Einschränkung Isomorphismen
|
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zwischen dem Vektorraum der symmetrischen Matrizen und dem Vektorraum der
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symmetrischen Bilinearformen. Wir erkennen insbesondere, dass die Räume der
|
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Bilinearformen endlich-dimensional sind. Genauer:
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\begin{align*}
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\dim_k (\text{Bilinearformen}) &= \dim_k (\text{$n⨯ n$-Matrizen}) = n² \\
|
||
\dim_k (\text{symm.~Bilinearformen}) &= \dim_k (\text{symm.~$n⨯ n$-Matrizen}) = \frac{n(n+1)}{2}
|
||
\end{align*}
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||
\end{beobachtung}
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\begin{bsp}
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Es sei $V$ der $ℝ$-Vektorraum der Polynome von Grade $≤ 2$, mit der
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angeordneten Basis $B := \{ 1, x, x²\}$. Wieder betrachten wir die
|
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Bilinearform
|
||
\[
|
||
b : V ⨯ V → ℝ, \quad (p,q) ↦ \int_{-1}¹ p(t)·q(t)·dt
|
||
\]
|
||
Dann ist
|
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\[
|
||
\Mat_B(b) =
|
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\begin{pmatrix}
|
||
2 & 0 & \frac{2}{3} \\
|
||
0 & \frac{2}{3} & 0\\
|
||
\frac{2}{3} & 0 & \frac{2}{5}
|
||
\end{pmatrix}
|
||
\]
|
||
\end{bsp}
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\subsection{Basiswechsel}
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Wir kennen das Problem: gegeben ist ein $n$-dimensionaler $k$-Vektorraum $V$,
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eine Bilinearform $b : V ⨯ V → k$ und zwei angeordnete Basen, $B_1$ und
|
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$B_2$. Wie unterscheiden sich $\Mat_{B_1}(b)$ und $\Mat_{B_2}(b)$?
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\begin{erinnerung}
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Die Koordinatenwechselmatrix wird mit Sicherheit eine Rolle spielen. Wir
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erinnern uns: die Koordinatenwechselmatrix ist $S := \Mat^{B_1}_{B_2}(\Id_V)$.
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Die wesentliche Eigenschaft von $S$ war zusammengefasst in der Kommutativität
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des folgenden Diagramms,
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\[
|
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\begin{tikzcd}
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||
k^n \ar[r, "S"] & k^n \\
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V \ar[u, "φ_{B_1}"] \ar[r, "\Id_V"'] & V. \ar[u, "φ_{B_2}"']
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||
\end{tikzcd}
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||
\]
|
||
In einer Zeile: $S ◦ φ_{B_1} = φ_{B_2}$.
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\end{erinnerung}
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\begin{satz}[Basiswechselformel für Matrizen von Bilinearformen]
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Gegeben sei eine natürliche Zahl $n$, ein $n$-dimensionaler $k$-Vektorraum
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$V$, eine Bilinearform $b : V ⨯ V → k$ und zwei angeordnete Basen, $B_1$ und
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$B_2$, mit Basiswechselmatrix $S := \Mat^{B_1}_{B_2}(\Id_V)$. Weiter sei
|
||
$M_{•} := \Mat_{B_{•}}(b)$. Dann ist
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||
\[
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||
M_1 = S^t·M_2·S.
|
||
\]
|
||
\end{satz}
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\begin{proof}
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\video{8-1}
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\end{proof}
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Lesson learned: Matrizen können sowohl lineare Abbildungen (insbesondere:
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Endomorphismen) als auch bilineare Abbildungen zu beschreiben. Diese beiden
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Funktionen haben nichts gemein. Deshalb soll es jetzt auch nicht verwundern,
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dass sich die Basiswechsel-Formeln in beiden Fällen unterscheiden. Ein Trost
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für alle, die immer noch verwirrt sind: die Basiswechsel-Formel für
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Bilinearformen ist viel einfacher, weil man statt der inversen Matrix $S^{-1}$
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nur die Transponierte $S^t$ ausrechnen muss.
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\section{Sesquilinearformen und Hermitesche Produkte}
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\sideremark{Vorlesung 9}So etwas schönes wie ein Skalarprodukt möchte man
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||
natürlich auch für komplexe Vektorräume haben, leider funktionieren die
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||
Definition aus Abschnitt~\ref{sec:skalar} aber im Komplexen nicht. Die Lösung:
|
||
man muss die Definition von ``Bilinearität'' abändern, um sicherzustellen, dass
|
||
die Zahlen $b(\vec{x}, \vec{x})$ stets reell sind (denn dann kann ich sinnvoll
|
||
sagen, ob die Zahl positiv ist oder nicht). Vielleicht finden Sie es
|
||
überraschend, dass man an der Definition von ``bilinear'' dreht, und nicht an
|
||
der Definition von ``positiv definit''. Der praktische Erfolg der folgenden
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||
Definitionen gibt der Sache aber recht.
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\begin{defn}[Sesquilinearform]\label{def:6-2-1}
|
||
Es sei $V$ ein Vektorraum über den komplexen Zahlen. Eine
|
||
\emph{Sesquilinearform}\index{Sesquilinearform}\footnote{Sesqui = Eineinhalb}
|
||
ist eine Abbildung $b: V ⨯ V → ℂ$, so dass Folgendes gilt.
|
||
\begin{description}
|
||
\item[Linearität in der ersten Komponente] Für alle
|
||
$\vec{x}, \vec{y}, \vec{z} ∈ V$ und für alle $λ ∈ ℂ$ gilt
|
||
\[
|
||
b(\vec{x} + \vec{y}, \vec{z}) = b(\vec{x}, \vec{z}) + b(\vec{y}, \vec{z}) %
|
||
\quad\text{und}\quad %
|
||
b(λ·\vec{x}, \vec{y}) = λ·b(\vec{x}, \vec{y}).
|
||
\]
|
||
|
||
\item[Semilinearität in der zweiten Komponente] Für alle
|
||
$\vec{x}, \vec{y}, \vec{z} ∈ V$ und für alle $λ ∈ ℂ$ gilt
|
||
\[
|
||
b(\vec{x}, \vec{y}+\vec{z}) = b(\vec{x}, \vec{y}) + b(\vec{x}, \vec{z}) %
|
||
\quad\text{und}\quad %
|
||
b(\vec{x}, λ·\vec{y}) = \overline{λ}·b(\vec{x}, \vec{y}).
|
||
\]
|
||
\end{description}
|
||
Dabei bezeichnet der Querstrich die \emph{komplexe Konjugation}
|
||
$x+i·y ↦ x - i·y$.
|
||
\end{defn}
|
||
|
||
\begin{beobachtung}[Sesquilinearformen bilden einen komplexen Vektorraum]\label{bem:6-2-2}
|
||
Wenn ich eine Sesquilinearform mit einer komplexen Zahl multipliziere, erhalte
|
||
ich eine neue Sesquilinearform. Ebenso kann ich zwei Sesquilinearformen zu
|
||
einer neuen Sesquilinearform addieren. Die Menge der Sesquilinearformen
|
||
bildet mit diesen Verknüpfungen einen komplexen Vektorraum. Beachten Sie,
|
||
dass jeder komplexe Vektorraum immer auch ein reeller Vektorraum ist, also
|
||
bildet die Menge der Sesquilinearformen insbesondere einen reellen Vektorraum.
|
||
\end{beobachtung}
|
||
|
||
\begin{bsp}[Matrizen geben sesquilineare Abbildungen]\label{bsp:mgbaC}
|
||
Betrachte den Vektorraum $V = ℂ^n$ und wähle eine beliebige
|
||
$n ⨯ n$-Matrix $B$. Dann ist die Abbildung
|
||
\[
|
||
b : ℂ^n ⨯ ℂ^n → k, \quad (\vec{v},\vec{w}) ↦
|
||
\vec{v}^{\:t}·B·\overline{\vec{w}}
|
||
\]
|
||
sesquilinear. Dabei bezeichne der Querstrich $\overline{\vec{w}}$ den zu
|
||
$\vec{w}$ komponentenweise konjugierten Vektor, also zum Beispiel
|
||
\[
|
||
\overline{
|
||
\begin{pmatrix}
|
||
1+i \\
|
||
2-i \\
|
||
3
|
||
\end{pmatrix}
|
||
}
|
||
=
|
||
\begin{pmatrix}
|
||
1-i \\
|
||
2+i \\
|
||
3
|
||
\end{pmatrix}
|
||
\]
|
||
\end{bsp}
|
||
|
||
\begin{defn}[Hermitesche Sesquilinearform]
|
||
Annahmen wie in Definition~\ref{def:6-2-1}. Eine Sesquilinearform
|
||
$b : V ⨯ V → ℂ$ heißt
|
||
\emph{Hermitesch}\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Hermite}{Charles
|
||
Hermite} (* 24. Dezember 1822 in Dieuze, Lothringen; † 14. Januar 1901 in
|
||
Paris) war ein französischer
|
||
Mathematiker.}\index{Sesquilinearform!Hermitesch}, falls für alle $\vec{x}$,
|
||
$\vec{y} ∈ V$ die Gleichung
|
||
$b(\vec{x},\vec{y}) = \overline{b(\vec{y},\vec{x})}$ gilt.
|
||
\end{defn}
|
||
|
||
\begin{beobachtung}[Reelle Werte von Hermiteschen Sesquilinearformen]\label{beo:rwvhs}
|
||
Es sei $b : V ⨯ V → ℂ$ eine Hermitesche Sesquilinearform. Dann gilt
|
||
für jeden Vektor $x ∈ V$ die Gleichung $b(x,x) = \overline{b(x,x)}$. Es
|
||
folgt, dass $b(x,x) = \overline{b(x,x)}$ eine reelle Zahl ist, da der
|
||
imaginäre Anteil verschwinden muss.
|
||
\end{beobachtung}
|
||
|
||
\begin{beobachtung}[Hermitesche Sesquilinearformen bilden einen reellen Vektorraum]\label{beob:6-2-4}
|
||
Wenn ich eine Hermitesche Sesquilinearform mit einer reellen Zahl
|
||
multipliziere, erhalte ich eine neue Hermitesche Sesquilinearform. Ebenso
|
||
kann ich zwei Hermitesche Sesquilinearformen zu einer neuen Hermitesche
|
||
Sesquilinearform addieren. Es folgt, dass die Menge der Hermiteschen
|
||
Sesquilinearformen einen \emph{reellen} Untervektorraum des reellen
|
||
Vektorraumes der Sesquilinearformen bildet.
|
||
\end{beobachtung}
|
||
|
||
\begin{beobachtung}[Hermitesche Sesquilinearformen bilden keinen komplexen Vektorraum]\label{beob:6-2-5}
|
||
Wenn ich eine Hermitesche Sesquilinearform (die nicht die Nullform ist) mit
|
||
einer komplexen Zahl multipliziere, die nicht reell ist, dann ist die
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entstehende Sesquilinearform niemals Hermitesch\footnote{Hausaufgabe:
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Wieso?!}. Die Menge der Hermiteschen Sesquilinearformen ist deshalb
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\emph{kein} komplexer Vektorraum.
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\end{beobachtung}
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\begin{bsp}[Hermitesche Matrizen geben bilineare Abbildungen]
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Überlegen Sie sich in kompletter Analogie zu Beispiel~\ref{bsp:smgsA}, dass
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die Sesquilinearform $b$ aus Beispiel~\ref{bsp:mgbaC} genau dann Hermitesch
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ist, wenn die Gleichung $B^t = \overline{B}$ gilt, wobei der Querstrich wieder
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die komponentenweise Konjugation bezeichnet. Matrizen mit dieser Eigenschaft
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nennt man \emph{Hermitesch}\index{Matrix!Hermitesch}\index{Hermitesche
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Matrix}. Interessant: bei Hermiteschen Matrizen sind alle Einträge auf der
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Diagonalen notwendigerweise reell. Hat das mit Beobachtung~\ref{beo:rwvhs} zu
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tun?
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\end{bsp}
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\begin{defn}[Positive (semi)definite symmetrische Bilinearform]\label{defn:6-2-5}
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Es sei $V$ ein komplexer Vektorraum. Weiter sei $b$ eine Hermitesche
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Sesquilinearform auf $V$. Nenne $b$ \emph{positiv
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semidefinit}\index{Hermitesche Sesquilinearform!positiv
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semidefinit}\index{positiv semidefinit} falls für alle $\vec{x} ∈ V$ die
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Ungleichung $b(\vec{x}, \vec{x}) ≥ 0$ gilt. Nenne $b$ \emph{positiv
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definit}\index{Bilinearform!positiv definit}\index{positiv definit} falls
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zusätzlich für alle $\vec{x} ∈ V$ gilt:
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$b(\vec{x}, \vec{x}) = 0 ⇔ \vec{x} = \vec{0}$.
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\end{defn}
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\begin{defn}[Skalarprodukt auf komplexem Vektorraum]\label{def:6-2-8}
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Es sei $V$ ein komplexer Vektorraum. Ein
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Skalarprodukt\index{Skalarprodukt!für komplexe Vektorräume} auf $V$ ist eine
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positiv definite, Hermitesche Sesquilinearform.
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\end{defn}
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\begin{bsp}
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Erinnern Sie sich daran, dass für jede komplexe Zahl $z = x+i·y$ gilt, dass
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$z·\overline{z} = (x+i·y)·(x-i·y) = x²+y²$ reell und nicht-negativ ist. Diese
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Beobachtung zeigt, dass das
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\emph{Standardskalarprodukt}\index{Standardskalarprodukt!auf $ℂ^n$} auf dem
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Vektorraum $ℂ^n$,
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\[
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\begin{matrix}
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\langle •, • \rangle & : & ℂ^n ⨯ ℂ^n & → & ℂ \\
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& &
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\left(
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\begin{pmatrix}
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x_1 \\
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\vdots \\
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x_n
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\end{pmatrix},
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\begin{pmatrix}
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y_1 \\
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||
\vdots \\
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y_n
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\end{pmatrix}
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\right)
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& ↦ & \sum_{i=1}^n x_i·\overline{y_i}
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\end{matrix}
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\]
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tatsächlich ein Skalarprodukt im Sinne von Definition~\ref{def:6-2-8} ist.
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\end{bsp}
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\begin{bsp}
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Sei $V = \cC⁰([0,1];ℂ)$ der komplexe Vektorraum der komplexwertigen stetigen
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Funktionen auf dem Einheitsintervall $[0,1] ⊂ ℝ$. Die Abbildung
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\[
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\langle •, • \rangle : V ⨯ V → ℂ, \quad (f, g) ↦ \int¹_0
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f(t)·\overline{g(t)} dt.
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\]
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ist ein Skalarprodukt.
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\end{bsp}
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\subsection{Hermitesche Sesquilinearformen! OMG! Will ich das wirklich wissen?}
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Alle Menschen verabscheuen Definitionen. Definitionen sind neu, und Menschen
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lehnen alles Neue ab. Außerdem erfordern Definitionen Einarbeitung, das macht
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Arbeit und kostet Zeit. Muss ich Hermitesche Sesquilinearformen wirklich
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anschauen? Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Fakt ist, dass Hermitesche
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Sesquilinearformen (für unendlich-dimensionale Vektorräume) seit etwa 100 Jahren
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die zentralen Objekte in der Formulierung der Quantenmechanik sind. Jeder
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Chemiker und jeder Physiker muss das lernen.
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\begin{quote}
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Satz 1: In der Quantenmechanik tauchen Hermitesche Operatoren in der Form von
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Observablen ständig auf.
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--
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\href{https://www.ph.tum.de/academics/bsc/break/2013s/fk_PH0007_01_course.pdf}{Ferienkurs
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der TU München}
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\end{quote}
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\subsection{Matrizen und Basiswechsel}
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Ganz analog zu Abschnitt~\ref{sec:skalar} können wir (Hermitesche)
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Sesquilinearformen durch Matrizen beschreiben. Weil alle Argument ganz analog
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gehen, geben wir nur die Ergebnisse an.
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\begin{konstruktion}[Sesquilinearformen zu Matrizen]
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Es sei $V$ ein endlich-dimensionaler $ℂ$-Vektorraum, mit angeordneter Basis
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$B := \{\vec{v}_1, …, \vec{v}_n\}$. Die zugehörende Koordinatenabbildung
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bezeichnen wir wie immer mit $φ_B : V → k^n$.
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\begin{itemize}
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\item Gegeben eine Sesquilinearform $b : V ⨯ V → k$, dann betrachte die
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$n⨯n$-Matrix
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\[
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\Mat_B(b) := \bigl( b(\vec{v}_i, \vec{v}_j) \bigr)
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\]
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\item Gegeben eine $n⨯n$-Matrix $A$ gegeben. Dann betrachte die
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Sesquilinearlinearform
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\[
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s_B(A) : V ⨯ V → k,\quad (\vec{v}, \vec{w}) ↦
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φ_B(\vec{v})^t·A·\overline{φ_B(\vec{w})}
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\]
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\end{itemize}
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\end{konstruktion}
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Rechnen Sie nach, dass wir so zueinander inverse Isomorphismen von
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$ℂ$-Vektorräumen erhalten,
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\[
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\begin{tikzcd}
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\text{$n⨯n$-Matrizen} \arrow[r, bend left, "s_B"] & \text{Sesquilinearformen,} \arrow[l, bend left, "\Mat_B"]
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\end{tikzcd}
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\]
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die die Hermiteschen Formen mit den Hermiteschen Matrizen identifizieren.
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Außerdem gilt folgender Satz.
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\begin{satz}[Basiswechselformel für Matrizen von Sesquilinearformen]
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Gegeben sei eine natürliche Zahl $n$, ein $n$-dimensionaler $k$-Vektorraum
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$V$, eine Sesquilinearform $b : V ⨯ V → k$ und zwei angeordnete Basen,
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$B_1$ und $B_2$, mit Basiswechselmatrix $S := \Mat^{B_1}_{B_2}(\Id_V)$. Weiter sei $M_{•} := \Mat_{B_{•}}(b)$. Dann
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ist
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\[
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M_1 = S^t·M_2·\overline{S}.
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\]
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\end{satz}
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% !TEX root = LineareAlgebra2
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