% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Eine Anwendung aus der Regio: Zerlegungsgleichheit von Polyedern} \marginpar{Vorlesung 24}Auf dem zweiten internationalen Mathematikerkongress im August 1900 in Paris hielt David Hilbert\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/David_Hilbert}{David Hilbert} (* 23. Januar 1862 in Königsberg; † 14. Februar 1943 in Göttingen) war ein deutscher Mathematiker.} einen Vortrag, in dem er eine thematisch breit gefächerte \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Hilbertsche_Probleme}{Liste von 23 ungelösten mathematischen Problemen} präsentierte. Obwohl sein Vortrag beim Publikum wohl nicht gut ankam, erwies sich die Liste der Hilbert'schen Probleme als äußerst einflussreich für die Entwicklung der Mathematik im 20.~Jahrhundert. \section{Hilbert's drittes Problem} In \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Hilbertsche_Probleme#Hilberts_drittes_Problem}{Hilbert's drittem Problem} geht es um folgende Frage: gegeben sind zwei \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Polyeder}{Polyeder} $P_1$ und $P_2$ im Raum $ℝ³$. Ich möchte den ersten Polyeder $P_1$ durch gerade Schnitte in ein Puzzle zerlegen, aus dem sich der zweite Polyeder $P_2$ zusammensetzen lässt. Kann ich entscheiden, ob das möglich ist? In Schlausprech frage ich, ob die Polyeder $P_1$ und $P_2$ \emph{zerlegungsgleich}\index{Zerlegungsgleichheit} sind. Um es vorweg zu nehmen: Hilbert's Frage ist heute vollständig beantwortbar. Wir werden hier nur eine Teilantwort diskutieren. Eines ist von vornherein klar. \begin{beobachtung} Falls das Volumen der Polyeder $P_1$ und $P_2$ nicht übereinstimmt, dann ist die Antwort ``Nein!'' \end{beobachtung} \begin{notation} In moderner Sprache formulieren wir so: die Zerlegungsgleichheit von Polyedern ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge $\Pi$ aller Polyeder. Die Volumenfunktion \[ \operatorname{vol} : \Pi → ℝ^{≥ 0} \] ist auf den Äquivalenzklassen konstant. Man sagt, das Volumen ist eine \emph{Invariante}\index{Invariante}. \end{notation} Schauen Sie zum Thema Invarianten einmal in \href{https://www.quantamagazine.org/math-invariants-helped-lisa-piccirillo-solve-conway-knot-problem-20200602/}{diesen lesenswerten Artikel}. Wenn also zwei Polyeder unterschiedliches Volumen haben, können sie nicht zerlegungsgleich sein. Invarianten können uns also helfen, für gegebene Polyeder $P_1$ und $P_2$ eine negative Antwort auf Hilbert's Frage zu geben. \section{Die Dehn-Invariante} Es wird Sie vielleicht nicht sehr überraschen, dass es Polyeder $P_1$ und $P_2$ mit gleichem Volumen gibt, die aber nicht zerlegungsgleich sind. Die Invariante ``Volumen'' ist also nicht fein genug um Hilbert's Frage vollständig zu beantworten. Aus diesem Grund konstruierte Max Dehn\footnote{\href{https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Dehn}{Max Wilhelm Dehn} (* 13. November 1878 in Hamburg; † 27. Juni 1952 in Black Mountain, North Carolina) war ein deutsch-amerikanischer Mathematiker. Er studierte unter Anderem an der \href{http://www.uni-freiburg.de}{Albert-Ludwigs-Universität Freiburg}.} eine weitere, sehr interessante Invariante, die nicht so offensichtlich ist, wie das Volumen. Die \emph{Dehn-Invariante}\index{Dehn-Invariante} ist eine Abbildung \[ \operatorname{dehn} : \Pi → V, \] wobei $V$ ein $ℚ$-Vektorraum ist, den wir gleich konstruieren werden. Die Invarianteneigenschaft folgt daraus, dass die Dehn-Invariante \emph{additiv} ist. Mit anderen Worten: wenn ein Polyeder $P$ auf beliebige Art in zwei Teilpolyeder zerlegt wird, $P = P_1 ∪ P_2$, dann gilt stets die folgende Gleichung, \begin{equation}\label{eq:Dehn2} \operatorname{dehn}(P) = \operatorname{dehn}(P_1) + \operatorname{dehn}(P_2). \end{equation} \subsection{Konstruktion des Vektorraums} Um den Vektorraum $V$ zu konstruieren, betrachte $ℝ$ zuerst als Vektorraum über $ℚ$. Elemente sind zum Beispiel die Zahlen $1$, $\sqrt{2}$ oder die Kreiszahl $π$. Dieser Vektorraum ist natürlich unendlich-dimensional. \begin{bemerkung} Um mit dem $ℚ$-Vektorraum $ℝ$ warm zu werden, fragen wir: ist die Menge $\{ 1, \sqrt{2}\}$ $ℚ$-linear unabhängig? Die Antwort ist ``Nein!'' Denn falls es zwischen den Zahlen $1$ und $\sqrt{2}$ eine nicht-triviale $ℚ$-lineare Relation gäbe, \[ p · 1 + q · \sqrt{2} = 0, \] so wäre $q \ne 0$ und $\sqrt{2} = - \frac{p}{q}$ wäre rational. Wir wissen aber schon, dass $\sqrt{2}$ irrational ist. \end{bemerkung} Um jetzt den $ℚ$-Vektorraum $V$ zu konstruieren, betrachte den von der Zahl $π$ erzeugten $ℚ$-Untervektorraum $\langle π \rangle ⊂ ℝ$. Weiter betrachten wir den Quotientenvektorraum $\factor{ℝ}{\langle π \rangle}$. Der Vektorraum $V$ von Max Dehn ist dann gleich dem Tensorprodukt, \[ V = ℝ ⊗ \left(\factor{ℝ}{\langle π \rangle}\right). \] Dies ist ein Tensorprodukt von $ℚ$-Vektorräumen, also selbst ein $ℚ$-Vektorraum. \subsection{Konstruktion der Invariante} Als nächstes müssen wir die Abbildung $\operatorname{dehn} : \Pi → V$ konstruieren; wir müssen also jedem Polyeder $P ⊂ ℝ³$ ein Element des Vektorraumes $V$ zuordnen. Sei also ein Polyeder $P$ gegeben. Wir bezeichnen die Kanten des Polyeders $P$ mit $E_1, …, E_n$ und die Längen der Kanten mit $ℓ(E_1)$, …, $ℓ(E_n)$; dies sind positive reelle Zahlen. An jeder Kante kommen zwei Flächen zusammen, wir bezeichnen den Winkel zwischen den Flächen mit $α(E_1)$, …, $α(E_n)$; dabei verwenden wir wie in der Mathematik üblich das Bogenmaß. Nach diesen Vorbereitung definieren wir das die Dehn-Invariante von $P$ schließlich als \[ \operatorname{dehn}(P) := \sum_{k=1}^{n} ℓ(E_k) ⊗ α (E_k). \] Wir werden gleich zeigen, dass dies tatsächlich eine Invariante definiert. Vorher aber kommt noch eine triviale Beobachtung und ein Beispiel. \begin{beobachtung} Kongruente Polyeder haben dieselbe Dehn-Invariante. \qed \end{beobachtung} % PRISMA \begin{figure} % "h" platziert Grafik an dieser Stelle \centering \begin{tikzpicture}[xyz]% z-Achse zeigt nach oben % Koordinaten in zwei zur xz-Ebene parallelen Ebenen definieren \foreach[count=\i] \z in {0,5} \path (0,\z,0)coordinate(A\i) (-3,\z,0)coordinate(B\i) (0,\z,4)coordinate(C\i) ; % Grundfläche füllen \foreach \i/\j in {A/B} \path[flaeche](\i1)--(\i2)--(\j2)--(\j1)--cycle; % Seitenfläche(n) füllen, gegebenenfalls doppelt, damit dunkler \foreach \i in {1,1,2,2} \path[flaeche](A\i)--(B\i)--(C\i)--cycle; % hintere Fläche füllen \foreach \i/\j in {B/C} \path[flaeche](\i1)--(\i2)--(\j2)--(\j1)--cycle; % sichtbare Kanten zeichnen \path[draw, thick](C2) -- node[above]{$ℓ$} (C1) -- (A1) -- node[above]{$ℓ$} (A2) -- node[left]{$ℓ_1$} cycle; \path[draw, thick](C2) -- node[right]{$ℓ_2$} (B2) -- node[below, right=.5mm]{$ℓ_3$} (A2); % verdeckte Kanten zeichnen \path[draw,dashed](A1) -- (B1) -- node[above]{$ℓ$} (B2) (B1) -- (C1); % Winkel zeichnen (im Uhrzeigersinn = Innenwinkel; Werte anpassen, damit es gut aussieht...) \pic ["$γ$", draw, angle radius=.4cm, angle eccentricity = 0.55]{angle=C2--B2--A2}; \pic ["$α$", draw, angle radius=.6cm, angle eccentricity = 0.65]{angle=B2--A2--C2}; \pic ["$β$", draw, angle radius=1.1cm, angle eccentricity = 0.85]{angle=A2--C2--B2}; \end{tikzpicture} \caption{Prisma}\label{fig:prisma} \end{figure} \begin{bsp}[Dehn-Invariante eines Prismas] Es sei $P$ das in Abbildung~\ref{fig:prisma} gezeigte Prisma. Dann berechnet sich die Dehn-Invariante als \begin{align*} \operatorname{dehn}(P) &= ℓ_1 ⊗ \frac{π}{2} + ℓ_2 ⊗ \frac{π}{2} + ℓ_3 ⊗ \frac{π}{2} + ℓ ⊗ β + ℓ ⊗ α + ℓ ⊗ γ + ℓ_1 ⊗ \frac{π}{2} + ℓ_2 ⊗ \frac{π}{2} + ℓ_3 ⊗ \frac{π}{2} \\ &= ℓ ⊗ (β + α + γ)\\ &= ℓ ⊗ π = 0. \end{align*} \end{bsp} %PYRAMIDE \begin{figure} \centering \begin{tikzpicture}[xyz]% z-Achse zeigt nach oben \path (0,0,0)coordinate(A1) (5,0,0)coordinate(B1) (5,5,0)coordinate(C1) (0,5,0)coordinate(D1) (2.5,2.5,7)coordinate(S) ($(A1)!0.6!(S)$)coordinate(A2) % liegt damit automatisch auf der Kante ($(B1)!0.55!(S)$)coordinate(B2) ($(C1)!0.4!(S)$)coordinate(C2) ($(D1)!0.4!(S)$)coordinate(D2) ; % Schnittfläche füllen \path[flaeche, blue!50] (A2)--(B2)--(C2)--(D2)--cycle; % Schnittkanten blau \path[draw, blue, very thick] (A2) -- (B2) -- (C2) -- (D2) -- cycle; % Grundfläche füllen \path[flaeche, green!15] (A1)--(B1)--(C1)--(D1)--cycle; % Grundflächenkanten grün \path[draw, green, very thick] (B1) -- (C1) -- (D1); \path[draw, dashed, very thick, green] (D1) -- (A1) -- (B1); % Seitenfläche(n) füllen \foreach \i/\j in {A/B, B/C, C/D, D/A} \path[flaeche] (\i1)--(\j1)--(S)--cycle; % sichtbare Kanten zeichnen \path[draw, thick] (B1) -- (S) -- (C1) (S) -- (D1); % verdeckte Kanten zeichnen \path[draw, dashed] (S) -- (A1); % Beschriftung \draw[->, thick] (4,6,6) -- node[above=0.3cm, right=1.1cm]{$P_1$} (2,3,4.5); \draw[->, thick] (2,-1,2) -- node[above=0.2cm, left=1.3cm]{$P_2$} (2,1.5,1.5); \end{tikzpicture} \caption{Pyramide, in zwei Teile zerlegt}\label{fig:pyramide} \end{figure} \begin{satz} Die Abbildung $\operatorname{dehn}$ ist additiv. \end{satz} \begin{proof} Es sei $P$ ein Polyeder, zerlegt durch gerade Schnitte in zwei Teilpolyeder, $P_1$ und $P_2$. Die Abbildung~\ref{fig:pyramide} zeigt, was ich meine. Bezeichne die Kanten von $P$ mit $E_1$, …, $E_n$. Wir beobachten, dass es zwei unterschiedliche Arten von Kanten gibt. \begin{itemize} \item Kanten, die vollständig in $P_1$ oder in $P_2$ liegen (in der Abbildung grün). \item Kanten, die bei der Zerlegung von $P$ zerschnitten werden (in der Abbildung schwarz). \end{itemize} Nach Umnummerierung können wir ohne Einschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass die Kanten $E_1$, …, $E_b$ grün und dass die Kanten $E_{b+1}$, …, $E_n$ schwarz sind. Jetzt schaue ich mir die Kanten von $P_1$ und $P_2$ an. Dort gibt es drei unterschiedliche Arten von Kanten. \begin{itemize} \item Die grünen Kanten $E_1$, …, $E_b$. Nach Umnummerierung können wir ohne Einschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass die Kanten $E_1$, …, $E_a$ Kanten des Teilpolyeders $P_1$ und dass die Kanten $E_{a+1}$, …, $E_b$ Kanten des Teilpolyeders $P_1$ sind. Wenn wir mit $α¹(E_1)$, …, $α¹(E_a)$ und $α²(E_{a+1})$, …, $α²(E_b)$ die Winkel der Flächen der Teilpolyeder bezeichnen, dann gelten die Gleichungen \begin{equation} \begin{matrix} α(E_1) = α¹(E_1) & … & α(E_a) = α¹(E_a) \\ α(E_{a+1}) = α²(E_{a+1}) & … & α(E_b) = α²(E_b) \end{matrix} \end{equation} \item Teilstücke von schwarzen Kanten. Wenn wir die Teilstücke der schwarzen Kante $E_{•}$ mit $E¹_{•}$ und $E²_{•}$ bezeichnen, dann gilt für die Längen und für die Winkel \begin{equation} \begin{aligned} ℓ(E_{•}) & = ℓ¹(E¹_{•}) + ℓ²(E²_{•}) \\ α(E_{•}) & = α¹(E¹_{•}) = α²(E²_{•}) \end{aligned} \end{equation} \item Schließlich gibt es noch Kanten, die durch das Zerlegen neu hinzugekommen sind. Eine solche Kante tritt immer zwei mal auf: ein mal in $P_1$ und ein mal in $P_2$. Wir bezeichnen diese Kanten mit $E¹_{n+1}$, $E²_{n+1}$, …, $E¹_m$, $E²_m$. Es gilt für jeden Index $i > n$ \begin{equation} ℓ¹(E¹_i) = ℓ²(E²_i) \quad\text{und}\quad α¹(E¹_i) + α²(E²_i) = π \end{equation} \end{itemize} Mit diesen Bezeichnungen ist \begin{align*} \operatorname{dehn}(P_1) & = \sum_{i=1}^a ℓ¹(E_i)⊗ α¹(E_i) + \sum_{i=b+1}^n ℓ¹(E¹_i)⊗ α¹(E¹_i) + \sum_{i=n+1}^m ℓ¹(E¹_i)⊗ α¹(E¹_i) \\ & = \sum_{i=1}^a ℓ(E_i)⊗ α(E_i) + \sum_{i=b+1}^n ℓ¹(E¹_i)⊗ α(E_i) + \sum_{i=n+1}^m ℓ¹(E¹_i)⊗ α¹(E¹_i) \\ \operatorname{dehn}(P_2) & = \sum_{i=a+1}^b ℓ²(E_i)⊗ α²(E_i) + \sum_{i=b+1}^n ℓ²(E²_i)⊗ α²(E²_i) + \sum_{i=n+1}^m ℓ²(E²_i)⊗ α²(E²_i) \\ & = \sum_{i=a+1}^b ℓ(E_i)⊗ α(E_i) + \sum_{i=b+1}^n ℓ²(E¹_i)⊗ α(E_i) + \sum_{i=n+1}^m ℓ²(E²_i)⊗ α²(E²_i) \\ \end{align*} und deshalb \begin{align*} \operatorname{dehn}(P_1) + \operatorname{dehn}(P_2) & = \sum_{i=1}^b ℓ(E_i)⊗ α(E_i) + \sum_{i=b+1}^n \underbrace{\bigl(ℓ¹(E¹_i)+ℓ²(E¹_i)\bigr)}_{= ℓ(E_i)} ⊗ α(E_i) \\ & \qquad\qquad + \sum_{i=n+1}^m ℓ¹(E¹_i)⊗ \underbrace{\bigl(α¹(E¹_i)+α²(E²_i)\bigr)}_{ = π\text{, also gleich 0 in }\factor{ℝ}{\langle π \rangle}} \\ & = \sum_{i=1}^b ℓ(E_i)⊗ α(E_i) + \sum_{i=b+1}^n ℓ(E_i) ⊗ α(E_i) \\ & = \operatorname{dehn}(P). \end{align*} Das macht einen einfachen Mathematiker sehr glücklich. \end{proof} \section{…und was kann ich jetzt damit machen?} Wir können ausrechnen, dass ein Würfel und ein Tetraeder \emph{nicht} zerlegungsgleich sind, selbst wenn beide dasselbe Volumen haben. Schauen Sie sich dazu als letzten Punkt der Vorlesung \href{https://www.youtube.com/watch?v=eYfpSAxGakI}{dieses wunderbare Video} an. % !TEX root = LineareAlgebra2