% spell checker language \selectlanguage{german} \chapter{Euklidische und unitäre Vektorräume} \label{sec:7} \sideremark{Vorlesung 10}Wir haben im Kapitel~\ref{chap:eukl} das Standardskalarprodukt auf dem $ℝ^n$ kennen gelernt. Im Kapitel~\ref{sec:bskalar} haben wir diesen Begriff auf beliebige (endlich-dimensionale) reelle und komplexe Vektorräume verallgemeinert. In diesem Kapitel möchte ich Vektorräume mit Skalarprodukt systematisch diskutieren, und Begriffe wie ``Norm'', ``Abstand'', ``Metrik'' und ``Orthogonalität'', die wir zuerst am Beispiel des $ℝ^n$ kennen gelernt haben, jetzt in größerer Allgemeinheit systematisch einführen. Zuerst einmal kommen jede Menge Definitionen und eine langweilige Rechnung, deshalb auch im Moment kein Erklärvideo. \begin{defn}[Euklidische und unitäre Vektorräume] Ein reeller Vektorraum zusammen mit einem Skalarprodukt (=positiv definiter symmetrischer Bilinearform) heißt \emph{Euklidischer Vektorraum}\index{Euklidischer Vektorraum}. Ein komplexer Vektorraum zusammen mit einem Skalarprodukt (=positiv definiter Hermitescher Sequilinearform) heißt \emph{unitärer Vektorraum}\index{unitär!Vektorraum}. \end{defn} \section{Normen auf Vektorräumen} In Abschnitt~\ref{sec:end} hatten wir die Euklidische Norm und den Euklidische Abstand auf dem $ℝ^n$ definiert. Jetzt machen wir das allgemein, für beliebige reelle oder komplexe Vektorräume, und für beliebige Mengen. \begin{erinnerung}[Betrag einer komplexen Zahl] Gegeben eine komplexe Zahl $λ = a+b·i ∈ ℂ$, dann nennen wir die reelle Zahl $\sqrt{a²+b²} = \sqrt{λ\overline{λ}}$ die \emph{Norm von $λ$}\index{Norm!einer komplexen Zahl} oder \emph{Betrag von $λ$}\index{Betrag einer komplexen Zahl} oder \emph{Absolutbetrag von $λ$}\index{Absolutbetrag einer komplexen Zahl}. Man schreibt auch $\|λ\|$ oder $|λ|$. \end{erinnerung} \begin{defn}[Norm auf komplexen oder reellen Vektorraum]\label{def:norm} Es sei $k = ℚ$ oder $k = ℝ$ oder $k = ℂ$ und es sei $V$ ein $k$-Vektorraum. Eine \emph{Norm}\index{Norm} auf ist eine Abbildung $\| · \|: V → ℝ$, so dass folgende Eigenschaften gelten. \begin{description} \item[Absolute Homogenität] Für alle $\vec{x} ∈ V$ und alle $λ ∈ k$ gilt: $\| λ · \vec{x} \| = |λ| · \| \vec{x} \|$. \item[Dreiecksungleichung] Für alle $\vec{x}, \vec{y} ∈ V$ gilt: $\| \vec{x} + \vec{y} \| ≤ \| \vec{x} \| + \| \vec{y} \|$ \item[Positive Definitheit] Für alle $\vec{x} ∈ V$ gilt: $\| \vec{x} \| = 0 ⇔ \vec{x} = \vec{0}$. \end{description} \end{defn} \begin{notation}[Normierte Vektorräume] \index{normiert!Vektorraum}Es sei $k = ℚ$ oder $k = ℝ$ oder $k = ℂ$. Ein normierter $k$-Vektorraum $\bigl( V, \|•\|\bigr)$ ist ein $k$-Vektorraum $V$ zusammen mit einer Norm $\|•\|$. \end{notation} \begin{notation}[Normierte Vektorräume] \index{normiert!Vektor}Es sei $k = ℚ$ oder $k = ℝ$ oder $k = ℂ$. und es sei $\bigl( V, \|•\|\bigr)$ ein normierter $k$-Vektorraum. Ein Vektor $\vec{v} ∈ V$ heißt \emph{normiert}, falls $\|\vec{v}\| = 1$ ist. \end{notation} Wir halten gleich zwei wesentliche Eigenschaften von Normen fest, die unmittelbar aus der Definition folgen. \begin{bemerkung}[Nicht-negativität von Normen] In der Situation von Definition~\ref{def:norm} sei $\vec{x} ∈ V$ irgendein Vektor. Dann gilt \[ 0 = \| \vec{0} \| = \| \vec{x} - \vec{x} \| ≤ \| \vec{x} \| + \| -\vec{x} \| = \| \vec{x} \| + \| \vec{x} \| = 2\| \vec{x} \|. \] Also ist $\| \vec{x} \| ≥ 0$ für alle $\vec{x} ∈ V$. \end{bemerkung} \begin{bemerkung}[Satz des Pythagoras] \index{Pythagoras!für Euklidische und unitäre Vektorräume}In der Situation von Definition~\ref{def:norm} gilt der Satz des Pythagoras: gegeben Vektoren $\vec{x}$ und $\vec{y}$ aus $V$, dann gilt \[ \| \vec{x} + \vec{y} \|² = \| \vec{x} \|² + 2·Re\langle \vec{x}, \vec{y} \rangle + \| \vec{y} \|². \] \end{bemerkung} \subsection{Beispiele: Normen, die von Skalarprodukten kommen} Als erstes und wichtigstes Beispiel von Normen möchte ich zeigen, dass jedes Skalarprodukt auf einem Vektorraum eine Norm induziert. Also liefern die Skalarprodukte, die wir in Abschnitt~\ref{sec:skalar} kennen gelernt haben, sofort Beispiele für Normen. \begin{satz}[Skalarprodukt induziert Norm]\label{satz:sin} Wenn $\bigl( V, \langle•\rangle\bigr)$ irgendein Euklidischer oder unitärer Vektorraum ist, dann definiert die Abbildung \[ \|•\| : V → ℝ, \quad \vec{x} ↦ \sqrt{\langle \vec{x}, \vec{x} \rangle} \] eine Norm. \end{satz} Der Beweis des Satzes~\ref{satz:sin}, den wir weiter unten geben, ist eine ziemliche Rechnerei. Der Beweis verwendet die folgende wichtige Ungleichung, die sie vielleicht aus der Vorlesung ``Analysis'' schon kennen. \begin{satz}[Cauchy-Schwarzsche Ungleichung] Sei V unitär oder euklidisch. Dann gilt für alle $\vec{x}, \vec{y} ∈ V$ \[ |\langle \vec{x}, \vec{y} \rangle| ≤ \sqrt{\langle \vec{x}, \vec{x} \rangle} \sqrt{\langle \vec{y}, \vec{y} \rangle} . \] \end{satz} \begin{proof}[Beweis durch unangenehme Rechnerei] Seien $\vec{x}, \vec{y} ∈ V$ gegeben und es sei $λ$ ein Skalar. Für $\vec{y} = \vec{0}$ ist die Aussage klar. Sei also $\vec{y} ≠ 0$. Dann ist wegen positiver Definitheit der Hermiteschen Form \begin{align*} 0 ≤ \langle \vec{x} - λ·\vec{y}, \vec{x} - λ·\vec{y} \rangle &= \langle \vec{x}, \vec{x} - λ·\vec{y} \rangle - λ·\langle\vec{y},\vec{x}- λ·\vec{y}\rangle\\ &= \langle \vec{x}, \vec{x} \rangle - \overline{λ}·\langle \vec{x}, \vec{y}\rangle - λ· \langle \vec{y}, \vec{x}\rangle + λ \overline{λ}· \langle \vec{y}, \vec{y} \rangle\\ &= \langle \vec{x}, \vec{x} \rangle - \overline{λ}·\overline{\langle \vec{y}, \vec{x}\rangle} - λ·\langle \vec{y}, \vec{x}\rangle + |λ|²·\langle \vec{y}, \vec{y} \rangle. \end{align*} Jetzt betrachte den Spezialfall wo $λ= \frac{\overline{\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle}}{\langle \vec{y}, \vec{y} \rangle}$ ist. Dann ergibt sich \begin{align*} && 0 &≤ \langle \vec{x}, \vec{x} \rangle - \frac{\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle}{\langle \vec{y}, \vec{y} \rangle}· \overline{\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle} - \frac{\overline{\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle}}{\langle \vec{y}, \vec{y} \rangle}· \langle \vec{y}, \vec{x} \rangle + \frac{|\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle|²}{\langle \vec{y}, \vec{y} \rangle²}·\langle \vec{y}, \vec{y} \rangle\\ ⇒ && 0 &≤ \langle \vec{x}, \vec{x} \rangle· \langle \vec{y}, \vec{y} \rangle - |\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle|² - |\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle|² + |\langle \vec{y}, \vec{x}\rangle|²\\ ⇒ && |\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle|² &≤ \langle \vec{x}, \vec{x} \rangle· \langle \vec{y}, \vec{y} \rangle\\ ⇒ && |\langle \vec{y}, \vec{x} \rangle| &≤ \sqrt{\langle \vec{x}, \vec{x} \rangle}·\sqrt{\langle \vec{y}, \vec{y} \rangle}, \end{align*} womit der Beweis der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung beendet ist. \end{proof} \begin{proof}[Beweis von Satz~\ref{satz:sin}] Um zu zeigen, dass die Abbildung $\|•\| : V → ℝ$ aus Satz~\ref{satz:sin} tatsächlich eine Norm ist, müssen wir die drei Eigenschaften ``absolute Homogenität'', ``Dreiecksungleichung'' und ``positive Definitheit'' zeigen. Auf geht's. \bigskip\noindent\emph{Absolute Homogenität.} Es sei $\vec{x} ∈ V$ irgendein Vektor und es sei $λ$ irgendein Skalar. Dann ist \[ \| λ·\vec{x} \| = \sqrt{\langle λ·\vec{x}, λ·\vec{x} \rangle} % = \sqrt{λ \overline{λ}· \langle \vec{x}, \vec{x} \rangle} % = \sqrt{|λ|²·\langle \vec{x}, \vec{x} \rangle} = |λ|\sqrt{\langle x, x \rangle} = |λ| · \| x \| . \] Damit ist die absolute Homogenität gezeigt. \bigskip\noindent\emph{Dreiecksungleichung.} Es seien $\vec{x}, \vec{y} ∈ V$ beliebige Vektoren. Dann folgt mit Hilfe der Cauchy-Schwarz-Ungleichung folgendes. \begin{align*} \| \vec{x} + \vec{y} \|² &= \langle \vec{x}+\vec{y}, \vec{x}+\vec{y} \rangle\\ &= \langle \vec{x}, \vec{x} \rangle + \langle \vec{y}, \vec{y} \rangle + \langle \vec{x}, \vec{y} \rangle + \langle \vec{y}, \vec{x} \rangle\\ &= \| \vec{x} \|² + \| \vec{y} \|² + \langle \vec{x}, \vec{y} \rangle + \overline{\langle \vec{x}, \vec{y} \rangle}\\ &= \| \vec{x} \|² + \| \vec{y} \|² + 2 · Re \langle \vec{x}, \vec{y} \rangle\\ &≤ \| \vec{x} \|² + \| \vec{y} \|² + 2· \| \vec{x} \|· \| \vec{y} \|\\ &= \bigl( \| \vec{x} \| + \| \vec{y} \| \bigr)². \end{align*} Wurzelziehen liefert die Dreiecksungleichung. \bigskip\noindent\emph{Positive Definitheit.} Die positive Definitheit folgt leicht wegen der positiven Definitheit des Skalarprodukts. Damit ist Satz~\ref{satz:sin} bewiesen. \end{proof} \subsection{Beispiele: Normen, die von Normen kommen} Normen auf Vektorräumen induzieren Normen auf den Dualräumen und den Hom-Räumen, die in der angewandten Mathematik und in der Analysis schrecklich wichtig sind. Ich diskutiere hier nur den einfachsten Fall und verzichte auf alle Beweise (die ein wenig Analysis voraussetzen). \begin{bsp}[Operatornorm]\label{bsp:opNorm} Es seien $\bigl( V, \|•\|_V\bigr)$ und $\bigl( W, \|•\|_W\bigr)$ zwei endlich-dimensionale, normierte, reelle Vektorräume. Dann definiert die Abbildung \[ \|•\|_{\operatorname{op}} : \Hom_{ℝ}(V,W) → ℝ, \quad % f ↦ \max \{ \|f(\vec{v})\|_W \::\: \vec{v} ∈ V \text{ und } \|\vec{v}\|_V = 1\} \] eine äußerst wichtige Norm auf dem Raum der linearen Abbildungen, genannt \emph{Operatornorm}\index{Operatornorm}. Die Operatornorm wird in der angewandten Mathematik für Abschätzungen verwendet. Sie ist deshalb so nützlich, weil für jeden Vektor $\vec{v} ∈ V$ die Ungleichung \[ \| f(\vec{v})\|_W ≤ \|f\|_{\operatorname{op}}·\| \vec{v}\|_V \] gilt. \end{bsp} Im besonders einfachen Fall, wo $W = ℝ$ mit der üblichen Norm ist, liefert Beispiel~\ref{bsp:opNorm} eine Norm auf dem Dualraum. \begin{bsp}[Norm auf dem Dualraum] Es sei $\bigl( V, \|•\|_V\bigr)$ ein endlich-dimensionaler, normierter, reeller Vektorraum. Dann definiert die Abbildung \[ \|•\|_{\operatorname{op}} : V^* → ℝ, \quad f ↦ \max \{ |f(\vec{v})| \::\: \vec{v} ∈ V \text{ und } \|\vec{v}\|_V = 1\} \] eine Norm auf dem Dualraum. \end{bsp} \subsection{Weitere Beispiele für Normen} Es gibt noch einige weitere Beispiele für Normen, die nicht offensichtlich von Skalarprodukten kommen. Ich nenne (wieder ohne Beweis) zwei der bekanntesten Beispiele. \begin{bsp}[Manhattan-Norm]\label{bsp:manhatNorm} Die Manhattan-Norm auf dem Vektorraum $ℝ^n$ ist gegeben als \[ \| • \|_1 : ℝ^n → ℝ, \quad \begin{pmatrix} x_1 \\ \vdots \\ x_n \end{pmatrix} ↦ \sum_{i=1}^{n} |x_i| . \] \end{bsp} \begin{bsp}[Maximumsnorm für stetige Funktionen] Sei $V = \cC⁰([0,1], ℝ)$ der reelle Vektorraum der stetigen, reell-wertigen Funktionen auf dem Einheitsintervall $[0,1]$, dann definiere die \emph{Maximumsnorm}\index{Maximumsnorm!für stetige Funktionen} wie folgt \[ \| • \|_{∞} : V → ℝ, \quad f ↦ \max\{|f(x)| : 0≤x≤1\} . \] \end{bsp} \begin{bsp}[Einschränkungen von Normen] Es sei $\bigl( V, \|•\|_V\bigr)$ ein normierter Vektorraum und $U ⊆ V$ sei ein Untervektorraum. Dann ist die Einschränkung $\|•\|_V|_W$ eine Norma auf $W$. \end{bsp} \section{Metriken} \sideremark{Vorlesung 11}Genau wie in Abschnitt~\ref{sec:end} können wir mit Hilfe einer Norm einen Begriff von ``Abstand'' oder ``Metrik'' definieren. Der Begriff ``Metrik'' ist aber viel allgemeiner und hat nichts mit Vektorräumen zu tun; wir definieren Metriken ganz allgemein auf beliebigen Mengen. \begin{defn}[Metrik] Sei $M$ eine Menge. Eine Metrik\index{Metrik} auf $M$ ist eine Abbildung $d: M ⨯ M → ℝ$, so dass Folgendes gilt. \begin{description} \item[Symmetrie] Für alle $x, y ∈ M$ gilt: $d(x,y) = d(y,x)$. \item[Dreiecksungleichung] Für alle $x, y, z ∈ M$ gilt: $d(x,z) ≤ d(x,y) + d(y,z)$ \item[Positive Definitheit] Für alle $x, y ∈ M$ gilt: $d(x,x) ≥ 0$. Zusätzlich gilt: $d(x,y) = 0 ⇔ x = y$. \end{description} \end{defn} \begin{bsp}[Metriken, die von Normen kommen] Wenn ich auf einem reellen oder komplexen Vektorraum $V$ eine Norm habe, dann kann ich eine Metrik definieren durch \[ d(\vec{x},\vec{y}) := \| \vec{x} - \vec{y} \| . \] Diese Metrik heißt \emph{von der Norm induziert}\index{Metrik!von Norm induziert}. Alle Beispiele von Normen liefern also automatisch sofort auch Beispiele für Metriken. Die Metrik, die man aus Beispiel~\ref{bsp:manhatNorm} erhält, heißt \emph{Manhattan-Metrik}\index{Manhattan-Metrik}\index{Metrik!Manhattan}; siehe auch \href{https://de.wikipedia.org/wiki/Manhattan-Metrik}{hier}. \end{bsp} Es ist aber nicht richtig, dass jede Metrik von einer Norm induziert wird. Schauen Sie sich das folgende Beispiel an. \begin{bsp}[Diskrete Metrik] Es sei $M$ eine Menge, zum Beispiel $M = ℝ^n$. Dann definiere eine Metrik durch \[ d: M ⨯ M → ℝ ,\quad (x,y) ↦ \left\{ \begin{matrix} 0 & \text{falls $x=y$} \\1 & \text{sonst} \end{matrix} \right. \] Diese Metrik ist echt doof und heißt \emph{diskrete Metrik}\index{diskrete Metrik}\index{Metrik!diskrete}. \end{bsp} \begin{bsp}[Einschränkungen von Metriken] Sei $M$ eine Menge und $d: M ⨯ M → ℝ$ sei eine Metrik. Wenn $N ⊆ M$ irgendeine Teilmenge ist, dann ist die Einschränkung $d|_{N⨯ N}$ eine Metrik auf $N$. \end{bsp} % !TEX root = LineareAlgebra2